linge müssen heute laufen, Ma r y Poppins. Robertson Ay hat sich heute
morgen in den Kinderwagen gesetzt, er hat ihn für einen Armsessel gehalten.
Jetzt muß er repariert werden. Können Sie ohne ihn fertig wer -
den? — und Annabel tragen?«
Mary Poppins öffnete den Mund, klappte ihn aber gleich wieder zu.
»Ich«, bemerkte sie verletzt, »kann mi t allem fertig werden und mit
noch mehr, wenn ich will!«
»Das . . . weiß ich!« sagte Mistreß Banks und rückte näher zur Tür.
»Sie sind ein Juwel — ein vollkommenes Juwel — eine -- -- -- wahrhaft
wundervolle und in jeder Hinsicht z u f r i e d e n s t e l l e n d e . . . « Ihre Stimme
erstarb, während sie die Treppe hinabeilte.
»Und doch — und doch — manchmal wünschte ich, sie wär nicht ganz
so vollkommen!« bemerkte Mistreß Banks zur Fotografie ihrer Urgroßmutter,
als sie im Wohnzimmer abstaubte. »Ihr gegenüber fühle ich mich
ganz klein und häßlich, als wäre ich wieder ein kleines Mädchen. Und
das bin ich doch nicht!« Mistreß Banks warf den Kopf zurück und blies
ein Staubfusselchen von der gefleckten Kuh auf dem Kaminsims. »Ich bin
eine bedeutende Persönlichkeit und Mutter von fünf Kindern. Das vergißt
sie!« Und sie fuhr mi t ihrer Arbeit fort, wobei sie sich alles mögliche
ausdachte, was sie Ma r y Poppins gerne sagen würde; aber die
ganze Zeit über wußte sie, daß sie dazu nie den Mu t aufbringen würde.
Mary Poppins steckte die Einkaufsliste und die Pfundnote in ihre
Handtasche; im Nu hatte sie ihren Hut festgesteckt und eilte aus dem
Haus, Annabel auf dem Arm und gefolgt von Jane und Michael, die
jeweils einen Zwilling an der Hand führten.
»Nehmt bitte die Beine in die Hand!« sagte sie und drehte sich scharf
nach ihnen um.
Sie beschleunigten ihre Schritte und schleiften dabei die armen Zwillinge
über das Pflaster. Sie vergaßen, daß sie John und Barbara fast die
Arme ausrenkten. Sie dachten nur an eines: nämlich daran, mi t Mary
Poppins Schritt zu halten und zu sehen, was sie mi t dem Rest der Pfundnote
anfangen würde.
»Zwei Pakete Kerzen, vier Pfund Reis, drei Pfund braunen Zucker
und sechs Pfund Würfelzucker; zwei Büchsen Tomatensuppe, eine Herdbürste,
ein Paar Gummihandschuhe, eine halbe Stange Siegellack, einen
Beutel Mehl, einen Feueranzünder, zwei Schachteln Streichhölzer, zwei
Köpfe Blumenkohl und ein Bund Rhabarber.«
Mary Poppins, die jenseits des Parks in den ersten Laden gerannt war,
las die Liste laut vor.
Der Kolonialwarenhändler, ein fetter, kahler und etwas kurzatmiger
Mann, schrieb die Bestellung auf, so rasch er konnte.
»Einen Beutel Gummihandschuhe . . . « , schrieb er nieder und leckte dabei
nervös am falschen Ende seines Bleistiftstummels.
»Mehl, sagte ich!« berichtigte Ma r y Poppins spitz.
Der Händler wurde rot wie eine Himbeere.
»Oh, Verzeihung. Wollte Sie nicht beleidigen, gewiß nicht. Schöner
Ta g heute, wie? Ja. Mein Versehen. Ein Beutel Gummi. . . ä h h . . .
Mehl.«
Schleunigst schrieb er es nieder und fügte hinzu:
»Zwei Schachteln Herdbürsten .. .«
»Streichhölzer!« fuhr Mary Poppins ihn an.
Dem Händler begannen die Hände auf dem Pult zu zittern.
»Ach, natürlich. Der Bleistift muß daran schuld sein — er scheint alles
falsch aufzuschreiben. Ich muß mir einen neuen zulegen. Streichhölzer
natürlich! Wa s noch, bitte?« Nervös blickte er auf und dann wieder auf
seinen kleinen Bleistiftstummel.
Mary Poppins entfaltete die Liste wieder und las sie ungeduldig und
ärgerlich noch einmal vor.
»Tut mir leid«, sagte der Händler, als sie am Ende angelangt war.
»Der Rhabarber ist ausgegangen. Tun's nicht auch Pflaumen?«
»Keinesfalls. Ein Paket Tapioka.«
»Ach nein, Mary Poppins — keinen Tapioka. Den hatten wir erst
vorige Woche«, erinnerte Michael sie.
Sie warf erst ihm und dann dem Händler einen Blick zu, der ausdrückte,
daß sie sich keine Hoffnung machen sollten. Tapioka, dabei blieb
es. Der Händler, der immer röter wurde, ging nach hinten, um ihn zu
holen.
»Wenn sie so weitermacht, bleibt von dem Geld nichts übrig«, sagte
Jane, die zusah, wie der Haufen auf dem Ladentisch immer höher wuchs.
»Vielleicht bleibt noch genug für ein Päckchen saure Drops — aber
mehr bestimmt nicht«, sagte Michael düster, als Mary Poppins die
Pfundnote aus ihrer Tasche zog.
»Besten Dank«, sagte sie, als der Händler ihr das Wechselgeld herausgab.
»Habe Ihnen zu danken!« erwiderte er höflich und stemmte die Arme
auf den Ladentisch. Er lächelte ihr auf liebenswürdige Weise zu und
fuhr fort: »Es wird wohl schön bleiben, meinen Sie nicht auch?« Seine
Stimme klang stolz, als wäre er höchstpersönlich für das Wetter verantwortlich
und hätte extra für sie schönes Wetter bestellt.
»Uns wäre Regen lieber!« sagte Ma r y Poppins spitz und ließ gleichzeitig
ihren Mund und ihre Tasche zuschnappen.
»Da haben Sie recht«, sagte der Händler schnell, im Bemühen, sie
nicht zu verletzen. »Regen ist immer so unterhaltsam.«
»Das nie!« erwiderte Mar y Poppins und rückte Annabel bequemer in
ihrem Arm zurecht.
Der Händler machte ein langes Gesicht. Wa s er auch sagte, war falsch.
»Ich hoffe«, bemerkte er und öffnete höflich die Tür, »Sie beehren uns
weiter mi t Ihrer Kundschaft, Madam.«
»Guten Tag!« Mar y Poppins rauschte hinaus.
Der Händler seufzte.
»Hier«, sagte er und krabbelte eifrig in einer Büchse neben der Tür
herum. »Da nehmt! Ich wollte sie nicht ärgern, wahrhaftig nicht, ich
wollte nur höflich sein.«
Jane und Michael streckten die Hand aus. Der Händler l ieß in Mi -
chaels Hand drei und in Janes Hand zwei Schokoladenplätzchen gleiten.
»Eins für jeden v on euch, eins für die beiden Kleinen, und eins .. .«
Er nickte hinter Ma r y Poppins her. »Für sie.«
Sie bedankten sich und eilten, an ihren Schokoladenplätzchen lutschend,
Mary Poppins nach.
»Was eßt ihr da?« fragte sie und blickte auf den dunklen Rand um
Michaels Mund.
»Schokoladenplätzchen. Der Händler gab uns jedem eins. Und eins
für dich.« Er streckte ihr das Plätzchen hin. Es war schon recht klebrig.
»Diese Frechheit sieht ihm ähnlich!« sagte Mary Poppins, nahm das
Plätzchen aber trotzdem und verschlang es in zwei Happen; es schien
ihr zu schmecken.
»Ist viel Geld übriggeblieben?« erkundigte sich Michael ängstlich.
»Das geht dich nichts an.«
Sie eilte in eine Drogerie und kam mi t einem Stück Seife, einem Senfpflaster
und einer Tube Zahnpasta wieder heraus.
Jane und Michael, die mi t den Zwillingen vor der Tür gewartet hatten,
seufzten schwer.
Die Pfundnote, so meinten sie, müßte bald ausgegeben sein.
»Ihr bleibt kaum noch genug, um eine Briefmarke zu kaufen, und
wenn sie die hat, ist es nicht mehr interessant«, sagte Jane.
»Nun zu Mister Tip!« befahl Ma r y Poppins; an der einen Hand baumelten
ihr die Päckchen aus der Drogerie und ihre Handtasche, und mit
der anderen hielt sie Annabel an sich gepreßt.
»Aber wa s können wi r denn da noch kaufen?« fragte Michael entmutigt.
Denn in Ma r y Poppins' Börse klimperte es kaum noch.
»Kohlen — zweieinhalb Tonnen!« sagte sie und eilte weiter.
»Was kostet Kohle?«
»Zwei Pfund die Tonne.«
»Aber — Mary Poppins! Das können wir ja gar nicht mehr bezahlen!«
Entsetzt blickte Michael sie an.
»Es geht auf Rechnung.«
Das bedeutete für Jane und Michael eine solche Erleichterung, daß sie
neben ihr herhüpften, John und Barbara wurden im Trab mitgeschleift.
»Ist das nun alles?« fragte Michael, als sie Mister Tip und seine Kohlen
ohne Schaden hinter sich gelassen hatten.
»Keksladen!« sagte Ma r y Poppins, die ihre Liste durchsah und dann
auf eine dunkle Tür zueilte. Durchs Schaufenster beobachteten sie, wie
sie auf einen Haufen Makronen deutete. Die Verkäuferin überreichte ihr
eine große Tüte.
»Sie hat mindestens ein Dutzend gekauft«, sagte Jane traurig. Für gewöhnlich
erfüllte sie der Anblick eines Menschen, der Makronen kaufte,
mi t Entzücken, aber heute wünschte sie heiß und innig, daß es auf der
ganzen We l t keine Makronen gäbe.
»Wohin nun?« fragte Michael und hüpfte von einem Bein aufs andere
vor Aufregung, wei l er gern wissen wollte, ob von der Pfundnote noch
etwas übrig war. Er war überzeugt, daß dies nicht der Fall sein könnte,
aber dennoch — er hoffte.
»Nach Hause«, sagte Mary Poppins.
Sie machten lange Gesichter. Es war also kein Geld mehr übrig, nicht
einmal ein Penny; sonst hätte Mary Poppins ihn sicherlich ausgegeben.
Aber Mary Poppins, die die Tüte mi t Makronen Annabel auf die Brust
gesetzt hatte, machte ein solches Gesicht, daß sie keine Bemerkung mehr
wagten. Sie wußten nur, daß sie zum erstenmal von ihr enttäuscht worden
waren, und das, fühlten sie, konnten sie ihr nicht verzeihen.
»Aber hier entlang geht's ja gar nicht nach Hause«, beschwerte sich
Michael, der lustlos über das Pflaster schlurfte.
»Liegt der Park nicht auf dem We g nach Hause, möcht ich wissen?«
fuhr sie ihm heftig über den Mund.
»Das schon — aber . . . «
»Man kann auf mehr als einem We g durch einen Park gehen«, bemerkte
sie und führte sie durch einen Teil, den sie bisher noch nie besucht
hatten.
Die Sonne schien warm hernieder. Die hohen Bäume beugten sich über
die Gitterstäbe und raschelten mi t den Blättern. In den Zweigen kämpften
zwei Spatzen um einen Strohhalm. Ein Eichhörnchen hüpfte die
Steinbalustrade entlang, setzte sich auf die Hinterbeine und bettelte um
eine Nuß.
Aber heute beachteten sie das alles nicht. Jane und Michael waren
anderweitig in Anspruch genommen. Sie dachten nur daran, daß Mary
Poppins die ganze Pfundnote für Kinkerlitzchen ausgegeben und nichts
übrigbehalten hatte.
Müde und enttäuscht trotteten sie hinter ihr her zum Parktor. Über
dem Eingang — er war ihnen fremd, sie hatten ihn bisher noch niemals
benutzt — wölbte sich ein hoher Steinbogen, in den ein Löwe und ein
Einhorn prächtig eingemeißelt waren. Unter dem Bogen saß eine uralte
Frau; ihr Gesicht war so grau und verwittert wie der Stein und verrunzelt
wie eine Walnuß. Auf ihren müden alten Knien hielt sie ein Brett,
auf dem etwas aufgestapelt lag, das wie kleine, farbige Gummistreifchen
aussah; über ihrem Kopf, fest ans Parkgitter gebunden, hüpfte und
schwankte und tanzte ein Bündel hel l leuchtender Luftballons.
»Luftballons! Luftballons!« rief Jane. Die Hand aus Johns klebrigen
Fingern befreiend, lief sie auf die alte Frau zu. Michael rannte hinter ihr
her und ließ Barbara einsam und verlassen mitten auf dem Wege stehen.
»Na, meine Täubchen!« sagte die Ballonfrau mi t einer alten, zittrigen
Stimme. »Welchen wollt ihr haben? Sucht euch einen aus ! Und laßt
euch Zeit.« Sie beugte sich vor und schüttelte das Brett vor ihrer Nase.
»Wir wollten nur mal gucken«, erklärte Jane. »Wir haben kein Geld.«
»Tz — tz — tz! Wa s nützt es, einen Ballon anzugucken? Einen Ballon
muß man fühlen, einen Ballon muß man halten, man muß ihn kennenlernen!
Kommen und angucken! Wa s habt ihr davon?«
Die Stimme des alten Weibleins zitterte wie ein Flämmchen. Sie
wiegte sich auf ihrem Stuhl.
Jane und Michael starrten sie hilflos an. Sie wußten, daß sie recht
hatte. Aber was war zu machen?
»Als ich klein war«, fuhr die alte Frau fort, »verstanden die Leute sich
wirklich noch auf Ballons. Die kamen nicht bloß und guckten! Sie kauften
— jawohl, sie kauften! Ohne Ballon ging kein Kind durch dieses Tor.
Damals hätten sie die Ballonfrau nicht dadurch beleidigt, daß sie nur
guckten und vorbeigingen!«
Sie beugte den Kopf in den Nacken und blickte zu den tanzenden
Ballons hoch.
»Ach, meine lieben Täubchen!« rief sie. »Sie verstehen nichts mehr
von euch — keiner versteht was, nur die alte Frau. Ihr seid aus der Mode