kommen — rühr mich nicht an!«
»Bist du denn wirklich die Sonne?« fragte Michael und staunte.
Die Sonne streckte die Hand aus.
»Sagt, ihr Sterne und Himmelszeichen: wer bin ich? Da s Kind hier
möchte es wissen.«
»Die Herrin über alle Sterne, o Sonne!« antworteten tausend leuchtende
Stimmen.
»Sie ist die Königin von Süd und Nord«, rief Orion, »und die Beherrscherin
von Os t und West. Sie umwandert den äußersten Rand der
Welt, und die Pole schmelzen vor ihrer Herrlichkeit. Sie treibt den Keim
aus der Saat und segnet die Erde mi t Fruchtbarkeit. Sie ist wirklich die
Sonne.«
Die Sonne lächelte Michael zu.
»Glaubst du es nun?«
Michael nickte.
»So erhebe dich! Und ihr, Himmelsbilder, wählt eure Tanzpartner!«
Die Sonne schwang ihre Peitsche. Die Musik begann wieder zu spie-
len, eine rasche und fröhliche Weise. Michael klopfte mi t den Füßen den
Takt, während er den Mond in seinen Armen wiegte. Aber er drückte
ihn wohl ein wenig zu stark, denn plötzlich gab es einen lauten Knall,
und der Mond begann zu schrumpfen.
»Oh, oh, seht, was geschehen ist!« rief Michael; er weinte fast.
Kleiner und immer kleiner wurde der Mond, schrumpfte in sich zusammen,
bis er kaum noch so groß war wie eine Seifenblase; jetzt war
er nur noch ein Lichtfünkchen und j e t z t . . . Michaels Hände umschlossen
nur noch die leere Luft.
»Das kann doch nicht der wirkliche Mond gewesen sein, oder doch?«
erkundigte er sich.
Jane blickte über den schmalen, mi t Sternenstaub bestreuten Zwischenraum
hinweg fragend auf die Sonne. Die war f das flammende Haupt zurück
und lächelte ihr zu.
»Was ist wirklich und was nicht? We r könnte das sagen? Vielleicht
werden wir niemals mehr wissen als das: eine Sache denken, heißt, sie
wahr machen. Und wenn Michael gedacht hat, er hielte den Mond in den
Armen — nun, dann hat er ihn eben wirklich in den Armen gehalten.«
»Also — ist es wahr«, sagte Jane nachdenklich, »daß wi r heute nacht
hier sind, oder denken wir das nur?«
Wieder lächelte die Sonne, diesmal ein wenig traurig.
»Kind«, sagte sie, »zerbrich dir nicht weiter den Kopf! Seit Anbeginn
der Welt haben alle Menschen diese Frage gestellt. Und ich, die ich den
Himmel beherrsche — selbst ich kenne die Antwort nicht. Ich weiß nur
eines: daß dies der Ausgehabend ist, daß die Sternbilder in eure Augen
scheinen, und daß es Wirklichkeit ist, wenn ihr es dafür h a l t e t . . .«
»Kommt, tanzt mi t uns, Jane und Michael!« riefen die Zwillinge.
Und Jane vergaß ihre Frage, denn zu viert glitten sie jetzt durch die
Manege, im Gleichtakt mi t der himmlischen Melodie; aber sie hatte
kaum eine halbe Runde getanzt, als sie plötzlich stehenblieb.
»Schau doch! Schau doch! Sie tanzt mi t ihr!«
Michael folgte ihrem Blick; seine kurzen, dicken Beinchen blieben am
Boden haften, und er starrte hemmungslos.
Mary Poppins und die Sonne tanzten miteinander. Aber nicht so, wie
Jane und er mi t den Zwillingen tanzten, Brust an Brust und Hand an
Hand. Mary Poppins und die Sonne berührten sich nie, sondern drehten
sich, einander gegenüberstehend, mi t ausgestreckten Armen, wobei sie,
trotz des Zwischenraums zwischen sich, genauen Takt hielten.
Um sie herum wirbelten die tanzenden Sternbilder: Venus, die mi t
ihren Armen Pegasus umhalste, der Stier und der Löwe A rm in Arm,
und die drei Böcklein, die in einer Reihe stolz umherhüpften. Der schimmernde
Glanz blendete die Kinder, als sie so standen und schauten.
Plötzlich wurde der Tanz langsamer und die Musik leiser. Die Sonne
und Mary Poppins, zusammengehörig, obwohl jeder für sich, blieben
stehen. Im gleichen Augenblick brachen auch die Tiere ihren Tanz ab und
machten halt. Ruhe trat ein. Schweigen legte sich über die Manege.
Die Sonne sprach.
»Nun«, sagte sie ruhig, »die Zeit ist gekommen. Zurück auf eure
Plätze am Himmel, meine lieben Sterne und Bilder. Nach Hause zum
Schlafen, meine lieben sterblichen Gäste. Gute Nacht, Ma r y Poppins! Ich
sage nicht Lebewohl, denn wir treffen uns wieder; doch bis dahin: laß es
dir gut gehen!«
Dann beugte die Sonne auf zugleich erhabene und graziöse Weise den
Kopf und küßte, den Zwischenraum zwischen sich und Mary Poppins
überbrückend, diese sehr feierlich, vorsichtig, leicht und rasch auf die
Wange.
»Aaahhh!« riefen die Sternbilder begeistert. »Der Kuß! Der Kuß!«
Doch als sie ihn empfing, flog Ma r y Poppins' Hand schützend zur
Wange, als hätte der Kuß sie gebrannt. Ein Ausdruck des Schmerzes
huschte über ihr Gesicht. Dann hob sie lächelnd den Kopf zur Sonne.
»Auf Wiedersehen!« sagte sie sanft, mi t einer Stimme, wie sie Jane
und Michael noch nie bei ihr vernommen hatten.
»Fort!« rief die Sonne und streckte die Peitsche aus. Gehorsam begannen
die Sternbilder aus der Manege zu strömen. Schützend legten
Castor und Pollux ihre Arme um die Kinder, damit der Große Bär sie im
Vorüberrollen nicht streifte, das Horn des Stiers sie nicht verletzte und
der Löwe ihnen nichts tat. Aber schon verhallten in Janes und Michaels
Ohren die Geräusche der Manege. Der Kopf wurde ihnen schwer und
sank auf die Schultern. Neue Arme umschlangen sie, und wie im Traum
hörten sie die Stimme der Venus, die sagte: »Gib sie mir! Ich bin der
Abendstern. Ich bringe das Lamm ins Stroh und das Kind zu seiner
Mutter.«
Sie überließen sich den wiegenden Armen, die sie schaukelnd mi t sich
forttrugen wi e die Flut ein Boot. Hin und her, hin und her.
Ein Licht flackerte über ihre Augen. Wa r das der Drache, der flammenzüngig
vorbeistrich — oder die Kerze im Kinderzimmer, die jemand
über sie hielt?
Hin und her, hin und her.
Sie kuschelten sich tiefer in die sanfte, wohlige Wärme. Wa r es die
einlullende Wärme der Sonne? Oder die Daunendecke im Kinderbett?
»Ich glaube, es ist die Sonne«, dachte Jane halb im Traum.
»Ich glaube, es ist meine Daunendecke«, dachte Michael.
Und eine weit, weit entfernte Stimme — sie klang wie ein Hauch —
rief leise, leise: »Es ist das, was ihr glaubt! Lebt w o h l . . . lebt w o h l . . . «
Michael erwachte mi t einem Ruck. Ihm wa r plötzlich etwas eingefallen.
»Mein Mantel! Mein Mantel! Ich hab ihn unter der Hofloge liegenlassen!
«
Er schlug die Augen auf. Am Fußende des Bettes sah er die bunte
Ente sitzen. Er sah den Kaminsims mit der Uhr und der großen Porzellanschale
und den mi t grünem Laubwerk gefüllten Marmeladentopf. Und
er sah an dem Haken, an dem er gewöhnlich hing, seinen Mantel und
den Hut darüber.
»Aber wo sind die Sterne?« rief er, setzte sich im Bett auf und staunte.
»Ich möchte die Sterne und die Sternbilder!«
»Ach? Wirklich?« sagte Ma r y Poppins, die gerade ins Zimmer trat
und in ihrer sauberen Schürze sehr steif und gestärkt aussah. »Ist das
alles? Ich wundere mich nur, daß du nicht auch den Mond möchtest!«
»Aber den wollte ich doch!« erinnerte er sich vorwurfsvoll. »Und ich
bekam ihn auch! Aber ich drückte ihn zu fest, und er patzte!«
»Platzte!«
»Na schön, platzte!«
»Unsinn!« sagte Mary Poppins und warf ihm seinen Schlafrock zu.
»Ist es schon Morgen?« fragte Jane; sie öffnete die Augen und blickte
im Zimmer umher, höchst überrascht darüber, sich in ihrem eigenen Bett
wiederzufinden. »Aber wie sind wi r denn nach Hause gekommen? Ich
tanzte mi t dem Zwillingsgestirn, mit Castor und Pollux.«
»Ihr und eure Sterne«, sagte Mar y Poppins ärgerlich und schlug die
Decken zurück. »Ich werde euch helfen. Heraus aus den Betten! Ich bin
sowieso spät daran.«
»Wahrscheinlich hast du heute nacht zu lange getanzt«, sagte Michael,
der sich widerwillig aus den Bettdecken schälte, bis er auf dem Fußboden
stand.
»Getanzt? Hmpf, ich hab wohl viel Gelegenheit, tanzen zu gehen! Ich,
die ich auf die fünf unartigsten Kinder der We l t aufpassen muß!«
Verächtlich schnob Mary Poppins durch die Nase; sie sah unausgeschlafen
aus und so, als bedauere sie sich selbst.
»Aber warst du nicht tanzen — an deinem Ausgehabend?« fragte
Jane. Sie erinnerte sich, wie Mary Poppins und die Sonne inmitten der
mit Sternenstaub bestreuten Manege zusammen getanzt hatten.
Mary Poppins riß die Augen auf.
»Ich hoffe«, bemerkte sie und reckte sich hochmütig, »ich habe an meinem
Ausgehabend etwas Besseres zu tun als herumzuschnurren wie ein
wild gewordener Kreisel.«
»Aber ich habe dich gesehen!« sagt Jane. »Oben im Himmel. Du
sprangst aus der Hofloge hinunter in die Manege, um zu tanzen.«
Mi t angehaltenem At em sahen sie und Michael auf Ma r y Poppins,
deren Gesicht vor Zorn langsam rot anlief.
»Da hast du ja«, sagte sie kurz angebunden, »einen ganz hübschen
Alptraum gehabt, das muß ich sagen. We r hat je so etwas gehört: eine
Person in meiner Stellung und springt aus . . .«
»Aber ich hab auch einen Alptraum gehabt«, fiel Michael ein, »und
der war wunderbar. Ich war mi t Jane oben im Himmel und hab dich
gesehen!«
»Was? Springen?«
»Hm — ja — und tanzen.«
»Im Himmel?« Er zitterte, als sie jetzt auf ihn zutrat. Ihr Gesicht war
finster und furchteinflößend.
»Noch eine Beleidigung . . .«, sagte sie drohend. »Nur noch eine, und
du kannst in die Ecke tanzen. Ich warne dich!«
Er blickte schleunigst zur Seite und machte sich an der Kordel seines
Morgenrocks zu schaffen; Mary Poppins, bei der sogar die Schürze vor
Zorn knisterte, rauschte durchs Zimmer, um die Zwillinge zu wecken.
Jane saß auf ihrem Bett und beobachtete Ma r y Poppins, wie sie sich
über die Gitterbettchen beugte.
Michael schlüpfte langsam in seine Pantoffeln und seufzte.
»Wir müssen wohl doch geträumt haben«, sagte er traurig. »Ich
wollte, es wäre wahr.«
»Es ist wahr«, flüsterte Jane vorsichtig, die Augen nicht von Mary
Poppins lassend.
»Woher weißt du das? Bist du sicher?«
»Ganz sicher. Guck!«
Mary Poppins' Kopf war über Barbaras Bettchen gebeugt. Jane deutete
mi t einem Nicken hin. »Sieh dir ihr Gesicht an!« flüsterte sie ihm ins
Ohr.
Aufmerksam betrachtete Michael Mary Poppins' Gesicht. Da war das
schwarze, hinter die Ohren zurückgestrichene Haar; da die wohlbekannten
blauen Augen, wie bei einer Holländerpuppe; da die Himmelfahrtsnase
und die hellroten, glänzenden Backen.
»Ich sehe nichts . . .«, begann er und brach plötzlich ab. Denn jetzt,
als Mary Poppins den Kopf wandte, entdeckte er, was Jane gesehen
hatte.
Brennend rot, mitten auf ihrer Wange, saß ein kleines feuriges Mal.
Und beim genaueren Hinsehen stellte Michael fest, daß es einen seltsamen
Umriß hatte. Es war rund mi t flammenzüngigen Zacken und glich
einer ganz kleinen Sonne.
»Siehst du's?« sagte Jane sanft. »Das ist die Stelle, wohin sie sie geküßt
hat.«
Michael nickte — ein-, zwei-, dreimal.
»Richtig«, sagte er; er stand ganz still und starrte auf Mary Poppins.
»Ich seh's. Ich seh's . . .«
8. Kapitel
Allerlei Luftballons
»Ich wüßte gern, Ma r y Poppins«, sagte Mistreß Banks, als sie eines
Morgens ins Kinderzimmer geeilt kam, »ob Sie Zeit haben, für mich ein
paar Einkäufe zu erledigen.«
Und sie bedachte Mary Poppins mi t einem liebenswürdigen, nervösen
Lächeln, als wüßte sie nicht recht, wie die Antwort lauten würde.
Mary Poppins wandte sich v om Kaminfeuer weg, wo sie Annabels
Windeln angewärmt hatte.
»Das könnte ich«, meinte sie, nicht allzu ermunternd.
»Ach, ich seh schon . . .«, sagte Mistreß Banks und sah nervöser aus
denn je.
»Oder vielleicht auch nicht«, fuhr Mary Poppins fort, während sie ein
wollenes Jäckchen ausschüttelte und über den Ofenschirm hängte.
»Nun, falls Sie Zeit haben sollten, so ist hier die Einkaufsliste und
eine Pfundnote. Und den Rest können Sie für sich verwenden.«
Mistreß Banks steckte das Geld in die Kommodenschublade.
Mary Poppins sagte nichts. Sie zog nur die Luft durch die Nase.
»Ach!« sagte Mistreß Banks, da ihr plötzlich etwas einfiel, »die Z w i l -