»Wäre ich wohl die Rechte?« fragte Lady Muriel Brighton-Jones. »Ich
bin fast immer vergnügt.«
»Ja, ich glaube, wi r passen zusammen«, sagte der Premierminister,
und Hand in Hand gesellten sie sich zu der herumhüpfenden Menge.
Jetzt wa r der Park schon ziemlich überfüllt. Jane und Michael hopsten
hinter Mary Poppins her über die Wiesen und stießen dauernd mi t anderen
Leuten zusammen, die von der alten Frau Ballons gekauft hatten. Ein
hochgewachsener Mann, der einen langen Schnurrbart, eine blaue Uniform
und einen Helm trug, wurde von einem Ballon gezogen, der ihn als
>Polizeiinspektor< auswies. Ein anderer mi t der Aufschrift Oberbürgermeister
schleifte eine runde, fette Gestalt mi t einem Dreispitz, einem
roten Umhang und einer großen Messinghalskette.
»Bitte weitergehen! Keinen Auflauf im Park! Beachten Sie die Vorschriften!
Allen Ab f a l l in die Papierkörbe!«
Der Parkaufseher, brummend und schimpfend, einen kleinen kirschfarbenen
Ballon mi t der Aufschrift >F. Smith< in der Hand, bahnte sich
einen We g durch die Menge. Mi t einer Handbewegung verscheuchte er
zwei Hunde — eine Bulldogge, auf deren Ballon >CD< stand, und einen
Foxterrier, der >Albertine< zu heißen schien.
»Lassen Sie meine Hunde in Ruhe! Oder ich schreibe mir Ihre Nummer
auf und melde Sie!« schrie eine Dame, deren Ballon bekanntgab,
daß sie die Herzogin von Maifeld war.
Aber der Parkaufseher beachtete sie nicht und trieb hüpfend vorbei;
dabei rief er dauernd: »Alle Hunde an die Leine! Keinen Auflauf im
Park! Rauchen verboten! Vorschriften beachten!«, bis er ganz heiser war.
»Wo ist Mary Poppins?« fragte Michael und winkte Jane.
»Da! Gerade vor uns!« erwiderte sie und deutete auf die steife, adrette
Gestalt, die an dem größten Ballon im ganzen Park hing. Sie folgten ihr
nach Hause.
»Vielerlei Arten Ballons, meine Täubchen!« rief eine zitternde Stimme
hinter ihnen her.
Und sich umblickend, sahen sie die Ballonfrau. Ihr Brett war leer und
nirgends in ihrer Nähe ein Ballon zu sehen; dennoch flog sie durch die
Luft, als würde sie von hundert unsichtbaren Ballons fortgezogen.
»Alle verkauft!« schrie sie im Vorbeigleiten. »Für jeden ist ein Ballon
da, wenn sie's nur alle wüßten. Sie würden ihre Wahl treffen und sich
Zeit lassen! Und ich wäre den ganzen Bestand los! Al l die verschiedenen
Ballons.«
In ihren Taschen klimperte es gewaltig, als sie vorüberflog; Jane und
Michael machten in der Luft hal t und sahen zu, wie die kleine, verschrumpelte
Gestalt zwischen den tanzenden Ballons hindurchschoß, vorbei
am Premierminister und am Oberbürgermeister, vorbei an Mary
Poppins und Anna b e l , bis sie immer winziger wurde und in der Ferne
verschwand.
»Vielerlei Arten Ballons, meine Täubchen!« klang es wie ein leises
Echo zu ihnen zurück.
»Macht vorwärts, bitte!« sagte Mary Poppins. Alle vier umdrängten
sie. Annabel, von Mary Poppins' Ballon gewiegt, kuschelte sich dichter
an sie und schlief ein.
Das Tor von Nummer siebzehn stand offen, die Haustür gleichfalls.
Mary Poppins schwebte steif und leicht anstoßend hindurch und die
Treppe hinauf. Die Kinder folgten, hüpfend und wippend. Und als sie
die Tür zum Kinderzimmer erreichten, setzten sich die vier Paar Füße
mit einem Klapp auf den Fußboden. Mary Poppins schwebte nieder und
landete geräuschlos.
»Ach, was für ein reizender Nachmittag!« sagte Jane und flog Mary
Poppins um den Hals.
»Reizend? — Na , von dir kann man das im Augenblick nicht sagen.
Bürste dir gefälligst das Haar. Ich wünsche keine Vogelscheuchen«, sagte
Mary Poppins scharf.
»Ich fühle mich wie ein Ballon«, sagte Michael vergnügt. »Ganz leuchtend,
luftig und locker!«
»Wenn einer so leuchtend aussieht wie du, dann kann er mir leid
tun«, sagte Mary Poppins. »Geh und wasch dir die Hände. Du siehst aus
wie ein Schornsteinfeger!«
Al s sie sauber und wohlgebürstet zurückkamen, schwebten die vier
Ballons an der Decke, ihre Schnüre waren hinter dem Bild über dem
Kamin sicher verankert.
Michael blickte hoch, zu seinem eigenen gelben, Janes blauem, dem
rosafarbenen der Zwillinge und Mary Poppins' rotem. Sie rührten sich
nicht; kein Lüftchen bewegte sich. Leicht und leuchtend, stetig und still
schwebten sie unter die Decke.
»Wissen möchte ich aber doch . . .«, sagte Michael leise, halb zu sich
selbst.
»Was möchtest du wissen?« fragte Mary Poppins, die ihre Pakete
sortierte.
»Ich möchte wissen, ob all das passiert wäre, wenn du nicht bei uns
gewesen wärst.«
Mary Poppins zog die Luft hoch.
»Ich möchte wissen, ob du nicht viel zuviel wissen möchtest«, sagte
sie.
Und damit mußte Michael sich zufriedengeben.
9. Kapitel
Nelly Rubina
»Ich glaube, das hört nie wieder auf!«
Jane ließ ihren >Robinson Crusoe< sinken und blickte düster zum Fenster
hinaus.
Draußen fiel gleichmäßig der Schnee, senkte sich in großen, weichen
Flocken und deckte den Park und die Bürgersteige und die Häuser im
Kirschbaumweg mi t seinem dicken, weißen Mantel zu. Seit einer Woche
hatte es nicht aufgehört zu schneien, und die ganze Zeit über hatten die
Kinder nicht an die Luft gehen können.
»Mir macht das nichts — jedenfalls nicht v i e l « , sagte Michael vom
Fußboden herauf, wo er gerade eifrig die Tiere aus seiner Arche Noah
aufstellte. »Wi r können ja Eskimo spielen und Wa l e essen.«
»Blödsinn — wie können wir an Wale kommen, wenn es so schneit,
daß wi r uns nicht einmal Hustenbonbons holen können!«
»Sie können ja herkommen. Das tun Wale manchmal«, erwiderte er.
»Woher weißt du das?«
»Na, ich weiß es nicht gerade. Aber sie könnten doch, Jane! Wo ist die
zweite Giraffe? Ach, da ist sie — unter dem Tiger!«
Er stellte die beiden Giraffen nebeneinander in die Arche.
»Die Paare traten ein im Nu,
Der Elefant und 's Känguruh«,
sang Michael. Und weil er kein Känguruh besaß, führte er eine Antilope
mi t dem Elefanten hinein und dahinter Mister und Mistreß Noah, um
Ordnung zu halten.
»Ich frage mich, warum sie eigentlich keine Verwandten haben!« bemerkte
er nach einer Weile.
»Wer?« fragte Jane ungnädig, denn sie wollte nicht gestört werden.
»Die Noahs. Ich habe sie nie mit einer Tochter oder einem Sohn gesehen
oder mi t einem Onkel oder mi t einer Tante. Warum?«
»Weil sie keine haben«, sagte Jane. »Und jetzt hal t den Mund.«
»Na, ich hab doch bloß eine Bemerkung gemacht. Darf ich das etwa
nicht?«
Nun wurde er ungnädig und bekam es satt, im Kinderzimmer eingesperrt
zu sein. Er stand auf und stolperte zu Jane hinüber.
»Ich sagte ja nur . . . « , begann er hartnäckig und schüttelte die Hand,
die das Buch hielt.
Jetzt aber riß Jane die Geduld, und sie schleuderte Robinson Crusoe
quer durchs Zimmer.
»Was fällt dir ein, mich zu stören?« schrie sie und fuhr auf Michael
los.
»Was fällt dir ein, mich keine Bemerkung machen zu lassen?«
»Das habe ich ja gar nicht!«
»Doch!«
Im nächsten Augenblick hatte Jane Michael bei der Schulter gepackt
und schüttelte ihn wütend, während er ihr mit beiden Händen ins Haar
fuhr.
»WAS SOLL D A S HEISSEN?«
In der Tür stand Mary Poppins und blickte düster auf sie nieder.
Sie ließen voneinander ab.
»S — s — sie hat mich geschüttelt!« jammerte Michael, blickte Mary
Poppins aber schuldbewußt an.
»E — er hat mich an den Haaren gezogen!« schluchzte Jane, das Ge -
sicht in den Armen verborgen, denn sie traute sich nicht, dem strengen
Blick zu begegnen.
Mary Poppins kam ins Zimmer. Ãœber dem Arm trug sie einen Haufen
Mäntel, Mützen und Schals, und ihr auf den Fersen folgten die Zwi l -
linge, mi t runden Augen und höchst interessiert.
»Lieber«, schnaubte sie verächtlich, »lieber würde ich eine Kannibalenfamilie
beaufsichtigen, die wären menschlicher!«
»Aber sie hat mich geschüttelt. . .«, fing Michael wieder an.
»Erzähl das deiner Großmutter!« fuhr Ma r y Poppins ihn an. Und
dann, als er aufbegehren wollte, warnte sie: »Untersteh dich, mir zu
widersprechen!« Damit warf sie ihm seinen Mantel zu. »Zieht bitte eure
Sachen an! Wi r gehen aus.«
»Aus?«
Sie trauten ihren Ohren nicht, doch beim Klang dieses Wortes schmolz
ihre schlechte Laune sofort. Michael, der seine Gamaschen zuknöpfte, tat
es leid, daß er Jane gereizt hatte, und als er zu ihr hinblickte, sah er sie
ihre Kappe aufsetzen und ihm zulächeln.
»Hurra! Hurra! Hurra!« schrien sie, stampften mi t den Füßen und
klatschten in ihre wollbehandschuhten Hände.
»Kannibalen!« sagte Mary Poppins streng und schob sie vor sich her
zur Treppe.
Es schneite nicht mehr, doch häuften sich überall im Garten große
Schneewehen, und weiter drüben im Park lag eine dicke, weiße Decke.
Die nackten Zweige der Kirschbäume trugen einen glitzernden Schneesaum,
und die Parkgitter, die sonst grün und zierlich waren, sahen jetzt
weiß aus und fast wollig.
Über den Gartenweg schob Robertson Ay gemächlich seine Schneeschaufel;
alle paar Schritte machte er halt und ruhte sich gehörig aus. Er
hatte einen alten Mantel von Mister Banks an, der viel zu lang für ihn
war. Kaum hatte er ein Stückchen We g freigeschaufelt, so fegte der hinter
ihm herschleppende Mantel eine neue Lage Schnee auf das eben gesäuberte
Stück.
Die Kinder rannten schreiend, rufend und mi t den Armen fuchtelnd
an ihm vorbei zum Tor.
Draußen auf der Straße war alles, wa s hier lebte, auf den Beinen und
schnappte ein wenig Luft.
»Ahoi, Schiffsmaaten!« brüllte eine heisere Stimme; Admiral Boom
trat auf sie zu und schüttelte allen die Hand. Von Kopf bis Fuß umhüllte
ihn ein großes Wettercape, und seine Nase leuchtete röter denn je.
»Guten Tag!« sagten Jane und Michael höflich.
»Potz Steuerbord!« rief der Admiral. »Das nenn ich keinen guten
Tag. Hrrrrumph! Einen scheußlichen, schimmligen Ta g für unbefahrene
Landratten nenne ich das! Warum wird es nicht Frühling, möcht ich
wissen!«
»Hierher, A n d y ! Hierher, Willibald! Bleibt schön bei Frauchen!«
Mi ß Lark, die in ihrem langen Pelzmantel und mi t der Pelzmütze wie
eine Teepuppe aussah, ging mi t ihren beiden Hunden spazieren.
»Guten Morgen allerseits«, grüßte sie zerstreut. »Was für ein Wetter!
Wo bleibt die Sonne? Und warum wird es nicht Frühling?«
»Mich dürfen Sie danach nicht fragen!« brüllte Admiral Boom. »Das
ist nicht meine Sache. Sie sollten zur See gehen. Da ist immer Schönwetter!
Gehen Sie zur See!«
»Ach, Admiral Boom, das kann ich doch nicht. Ich habe keine Zeit
dazu. Ich will grade A n d y und Willibald ein Pelzmäntelchen kaufen.«
Die beiden Hunde wechselten einen Blick voller Scham und Entsetzen.
»Pelzmäntelchen!« brüllte der Admiral. »Potz Fernrohr! Pelzmäntelchen
für diese Promenadenmischungen! Werfen Sie sie über Bord! Und
'raus aus dem Haufen, sag ich! Anker auf! — Pelzmäntelchen!!«
»Admiral! Admiral!« rief Miß Lark und hielt sich die Ohren zu. »Was
für eine Sprache! Bitte, bitte, denken Sie daran, daß ich so etwas nicht
gewöhnt bin. Und meine Hunde sind keine Promenadenmischungen.
Keineswegs! Der eine hat einen ellenlangen Stammbaum und der andere
zum mindesten ein gutes Herz. Promenadenmischungen, so etwas!«
Und sie eilte davon, mi t hoher, ärgerlicher Stimme weiter vor sich hin
sprechend; A n d y und Willibald trotteten neben ihr her, pendelten mit
den Schwänzen und sahen sehr unbehaglich und beschämt aus.
Der Eismann fuhr mi t seinem Wagen vorbei; er war in rasender Eile
und bimmelte wie verrückt.
»NICHT ANHALTEN, SONST ERKÄLTE ICH MICH!« verkündete
das Schild vorn am Wagen.
»Kommt der Frühling überhaupt noch mal?« rief der Eismann dem
Straßenfeger zu, der gerade um die Ecke geschlendert kam. Um sich vor
der Kälte zu schützen, hatte er sich ganz mi t Besen zugedeckt, so daß er
eher wie ein Igel aussah als wie ein Mensch.
»Bur — rum, bummel!« kam seine Stimme unter dem Besen hervor.