Mary Poppins durchs Parktor folgte.
»Vielleicht und vielleicht auch nicht!« sagte sie kurz. »Jedenfalls
geht's dich nichts an!«
Jane wandte den Kopf und schaute zurück. Der Streichholzmann stand
neben seiner Kreideschachtel und blickte Ma r y Poppins wie ein verlassener
Hund nach.
»Das ist ein merkwürdiger Tag«, sagte sie und runzelte die Stirn.
Fragend sah Ma r y Poppins sie an.
»Wieso, bitte?«
»Na, heute sagt jedermann >leb wohl< und sieht dich dabei so sonderbar
an.«
»Reden kostet ja nichts!« wies Mary Poppins sie zurecht. »Und guckt
nicht auch die Katze den Kaiser an?«
Jane schwieg. Sie wußte, es hatte keinen Zweck, Mary Poppins weiter
zu fragen, denn Mary Poppins erklärte nie etwas.
Sie seufzte. Und weil sie nicht genau wußte, warum eigentlich, so lief
sie davon, an Michael, Mary Poppins und dem Kinderwagen vorüber,
der dröhnenden Musik entgegen.
»Wart auf mich! So war t doch auf mich!« schrie Michael und rannte
hinterher. Und hinter ihnen ertönte das Gerumpel und Geratter des
Kinderwagens, mit dem Mary Poppins ihnen schleunigst folgte.
Da stand es, das Karussell, auf einer kleinen Lichtung zwischen den
Lindenbäumen. Es war noch ganz neu, alles an ihm glänzte und gleißte,
stolze Rosse wippten auf ihren messingnen Sockeln. Ein Streifenbanner
flatterte von seiner Spitze, und überal l war es mi t goldenen Schnörkeln,
silbernen Blättern und bunten Vögeln und glitzernden Sternen üppig
verziert. Es war tatsächlich so prächtig, wie Mi ß Lark gesagt hatte, ja
sogar noch prächtiger.
Das Karussell lief langsamer und stand gerade still, als sie anlangten.
Der Parkaufseher rannte diensteifrig herbei und hängte sich an eine
der Messingstangen.
»Heranspaziert! Heranspaziert! Drei Pence die Fahrt«, rief er und kam
sich ungeheuer wichtig vor.
»Ich weiß, auf welches Pferd ich will!« sagte Michael und rannte auf
einen rot- und blaugemalten Hengst zu, auf dessen goldener Schabracke
der Name >Glücksbein< stand. Er kletterte auf seinen Rücken und hielt
sich an der Stange fest.
»Abfälle wegwerfen verboten! Beachtet die Vorschriften!« rief der
Aufseher zerstreut, als Jane an ihm vorbeisauste.
»Ich nehme >FunkelaugeGlücksbein< und >Funkelauge< zurück; die Kinder auf
ihrem Rücken klammerten sich fest, und der Park wippte und schaukelte,
quirlte und wirbelte um sie herum.
Ihnen war, als könnte es niemals ein Ende nehmen, als gäbe es keine
Zeit mehr und als wäre die We l t nichts anderes als ein kreiselndes Licht
und ein Häuflein bunter Holzpferde.
Die Sonne verglomm im Westen, und Dämmerung sank herab. Aber
immer noch rasten sie schneller und schneller, bis sie zuletzt Bäume und
Himmel nicht mehr voneinander unterscheiden konnten. Die ganze
weite Welt drehte sich um sie, dumpf summend wie ein Brummkreisel.
Nie wieder würden Jane und Michael, John und Barbara dem Mittelpunkt
der Welt so nahe sein wie auf diesem wirbelnden Ritt. Und
irgendwie hatten sie eine Ahnung davon. Denn: >nie wieder, nie wieder!
« fühlten sie tief im Herzen, während sie durch die herabsinkende
Dämmerung jagten und die Erde um sie herumsauste.
Nach einer Weile hörten die Bäume auf, wie ein verschwommener
grüner Kreis auszusehen, und ihre Stämme l ießen sich wieder unterscheiden.
Der Himmel trennte sich von der Erde, und der Park hörte auf, sich
zu drehen. Langsam, immer langsamer bewegten sich die Pferde. Und
schließlich stand das Karussell still.
»Herantreten, immer herangetreten, meine Herrschaften! Drei Pence
die Fahrt!« rief der Parkaufseher in einiger Entfernung.
Ganz steif von dem langen Ritt kletterten die vier Kinder von den
Pferden. Aber ihre Augen leuchteten, und ihre Stimmen bebten vor Begeisterung.
»Ach, wunderbar! Wunderbar! Wunderbar!« rief Jane und blickte
Mary Poppins mi t funkelnden Augen an, während sie John in den Kinderwagen
setzte.
»Wenn es nur immer weiter gegangen wäre!« rief Michael und setzte
Barbara daneben.
Mary Poppins sah zu ihnen hinab. Ihre Augen waren merkwürdig
sanft und zärtlich in der zunehmenden Dämmerung.
»Alles Gute nimmt einmal ein Ende«, sagte sie heute schon zum zweitenmal.
Dann warf sie den Kopf zurück und schaute sich nach dem Karussell
um.
»Jetzt bin ich an der Reihe!« rief sie fröhlich. Gleichzeitig bückte sie
sich und nahm etwas aus dem Kinderwagen.
Dann richtete sie sich wieder auf und ließ eine Weile die Augen auf
den Kindern ruhen — mi t diesem seltsamen Blick, der ihnen geradewegs
ins Herz zu dringen schien, um zu sehen, wa s sie dachten.
»Michael!« sagte sie und berührte seine Wange leicht mi t der Hand.
»Sei lieb!«
Voller Unbehagen blickte er zu ihr empor. Warum hatte sie das gesagt?
Wa s war denn los?
»Jane! Paß auf Michael und die Zwillinge auf!« sagte Ma r y Poppins.
Und sie nahm Janes Hand und legte sie liebevoll auf den Griff des Kinderwagens.
»Alles einsteigen! Alles einsteigen!« rief der Karussellmann.
Die Lichter am Karussell leuchteten auf.
Mary Poppins wandte sich um.
»Ich komme!« rief sie und winkte mit dem papageienförmigen Regenschirm.
Sie stürzte sich in den finsteren Zwischenraum, der die Kinder
von dem Karussell trennte.
»Mary Poppins!« rief Jane mi t zitternder Stimme. Denn plötzlich —
sie wußte selbst nicht, warum — hatte sie Angst.
»Mary Poppins!« schrie Michael, von Janes Furcht angesteckt.
Aber Mary Poppins achtete nicht darauf. Sie sprang graziös auf die
Plattform, kletterte auf den Rücken eines Schecken namens >Caramel<
und ließ sich sittsam und steif im Sattel nieder.
»Einfach oder hin und zurück?« fragte der Karussellmann.
Einen Augenblick schien sie zu schwanken. Sie blickte zu den Kindern
hinüber und dann wieder auf den Karussellmann.
»Man kann nicht wissen«, sagte sie nachdenklich. »Es könnte nützlich
sein. Ich nehme hin und zurück.«
Der Karussellmann zwickte ein Loch in eine grüne Fahrkarte und
reichte sie Mary Poppins. Jane und Michael fiel es auf, daß sie nichts dafür
bezahlte.
Wieder erklang die Musik, erst leise, dann lauter, schließlich wi ld und
triumphierend. Langsam setzten sich die Pferde in Bewegung.
Mary Poppins, die Augen geradeaus, wurde an den Kindern vorbeigetragen.
Der Papageienkopf an ihrem Schirm steckte unter ihrem Arm.
Ihre vornehm behandschuhten Hände umschlossen die Messingstange.
Und vor ihr, auf der Mähne des Pferdes .. .
»Michael!« schrie Jane und umklammerte seinen Arm. »Siehst du's?
Sie muß ihn unter der Decke verborgen haben! Ihr Reisesack!«
Michael erstarrte.
»Glaubst du etwa . . .«, begann er flüsternd.
Jane nickte.
»Aber — sie trägt noch ihr Medaillon! Die Kette ist nicht gerissen! Ich
sah es ganz deutlich!«
Hinter ihnen begannen die Zwillinge zu wimmern, aber Jane und
Michael achteten nicht darauf. Voller Angst verfolgten sie mi t ihren
Blicken das glitzernde Kreisen der Pferde.
Das Karussell lief jetzt sehr schnell, und bald konnten die Kinder die
Pferde nicht mehr unterscheiden; sie hätten nicht sagen können, welches
>Glücksbein< und welches >Funkelauge< war. Vor ihnen war alles ein
einziger Lichtwirbel, nur die dunkle Gestalt, sittsam und steif, kam
immer wieder auf sie zu, glitt vorüber und verschwand. Wilder und
immer wilder dröhnte die Musik. Schneller und immer schneller drehte
sich das Karussell. Wieder einmal ritt die dunkle Gestalt auf dem Schekken
auf sie zu. Und als sie diesmal vorüberglitt, löste sich etwas Leuchtendes
und Schimmerndes von ihrem Hals, flog durch die Luf t und landete
vor ihren Füßen.
Jane bückte sich und hob es auf. Es war das goldene Medaillon, das
lose an seiner gesprungenen Goldkette hing.
»Es ist also doch wahr!« ertönte Michaels durchdringender Schrei.
»Oh, mach es auf, Jane!«
Mi t zitternden Fingern drückte sie auf die Feder, und das Medaillon
flog auf. Da s flackernde Licht fiel auf das Glas, und vor sich sahen sie
ein Bi ld v on sich selbst, wie sie sich an eine Gestalt drängten — eine Ge-
stalt mi t straffem schwarzem Haar, blitzblauen Augen, leuchtendroten
Wangen und einer Stupsnase wie bei einer Holländerpuppe.
»Jane, Michael, John, Barbara und Annabel Banks und Mary Poppins
«, las Jane v on einem kleinen Streifchen unter dem Bild ab.
»Das also war drin!« sagte Michael unglücklich, während Jane das
Medaillon zuklappte und in ihre Tasche steckte. Er wußte, es blieb keine
Hoffnung mehr.
Sie wandten sich wieder dem Karussell zu. Das kreisende Licht blendete
sie und machte sie schwindlig. Denn jetzt flogen die Pferde noch
schneller durch die Luft, und die Musik dröhnte noch lauter als bisher.
Und dann ereignete sich etwas Seltsames. Mi t einer Trompetenfanfare
löste sich das Karussell wirbelnd vom Erdboden. Wi e eine Spindel
schraubte es sich glitzernd in die Höhe, die hölzernen Pferde jagten dahin,
an ihrer Spitze >Caramel< mi t Ma r y Poppins auf dem Rücken. Der
schimmernde Lichtkreis hob sich über die Bäume, und wo seine Strahlen
vorüberstrichen, verwandelten sich die Blätter in Gold.
»Da fliegt sie davon!« sagte Michael.
»Ach, Mary Poppins! Mary Poppins! Komm zurück, komm zurück!«
riefen sie und streckten die A rme nach ihr aus.
Aber deren Gesicht blieb abgewandt, sie blickte geradeaus, über den
Kopf ihres Pferdes hinweg, und verriet durch kein Zeichen, daß sie das
Rufen gehört hatte.
»Mary Poppins!« Es war ein letzter, verzweifelter Schrei.
Keine Antwort kam aus der Luft.
Inzwischen hatte das Karussell die Bäume hinter sich gelassen und
wirbelte zu den Sternen empor. Immer weiter entfernte es sich, immer
weiter, es wurde kleiner und kleiner, bis die Gestalt Mary Poppins' nur
noch ein dunkler Fleck in einem Lichtkranz war. Immer höher schraubte
sich das Karussell in den Himmel, das Ma r y Poppins entführte. Und
schließlich wa r es nur noch ein winziger, funkelnder Punkt, ein wenig
größer als ein Stern, aber sonst kaum noch von einem solchen zu unterscheiden.
Michael schluchzte und tastete nach seinem Taschentuch.
»Ich hab einen ganz steifen Hals«, sagte er, um das Schluchzen zu erklären.
Aber als Jane nicht hinsah, wischte er sich eilig die Augen.
Jane, die immer noch den leuchtenden, kreiselnden Punkt verfolgte,
stieß einen Seufzer aus. Dann wandte sie sich ab.