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Aliens Vs Predator |#6| We walk through the tunnels
Aliens Vs Predator |#5| Unexpected meeting
Aliens Vs Predator |#4| Boss fight with the Queen
Aliens Vs Predator |#3| Escaping from the captivity of the xenomorph

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Äåòñêàÿ ëèòåðàòóðà - P. L. TRAVERS

Mary Poppins kommt wieder



P. L. TRAVERS
MARY POP P I N S KOMMT WIEDER

P. L. TRAVERS
Mary Poppins kommt wieder
Berechtigte Ãœbertragung aus dem Amerikanischen von Elisabeth Kessel
Titel des Originals: Mary Poppins Comes Back
Illustrationen von Emanuela Delignon
Lizenzausgabe mit Genehmigung des Cecilie Dressler Verlags, Berlin,
für die Buchgemeinschaft Donauland, Wien,
die Reinhard Mohn OHG Bertelsmann, Gütersloh,
und den Europäischen Buch- und Phonoklub, Stuttgart
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere die der Dramatisierung, Verfilmung,
Funkübertragung und des Vortrags
@ Copyright 1943 by P. L. Travers
Schutzumschlag: Emanuela Delignon
Einband: Antonia Enzenhofer
Druck: Wiener Verlag, Wien
1. Kapitel
Der Drachen
Es war eine jener frühen Morgenstunden, wo die Welt so blank, so
sauber und strahlend erscheint, als hätte man sie über Nacht frisch geputzt.
Im Kirschbaumweg blitzten die Fenster, als die Rolläden hochgingen,
und die dünnen Schatten der Kirschbäume fielen in dunklen Streifen über
die besonnte Straße. Kein Laut war zu hören, nur die Klingel des Eismannes,
der mit seinem Karren hin und her fuhr.
»Bleib stehen und kauf eine Waffel«
verkündete ein Plakat vorn an dem Karren. Kurz darauf bog ein Straßenfeger
um die Ecke und hob winkend seine große Hand.
Der Eismann fuhr klingelnd zu ihm hin.
»Für 'n Penny«, sagte der Straßenfeger. Er blieb auf seinen Besen gestützt
stehen, während er mit der Zungenspitze das Eis aus seiner Waffel
leckte. Al s er damit fertig war, wickelte er die tütenförmige Waffel in
sein Taschentuch und steckte sie ein.
»Essen Sie keine Waffeltüten?« fragte der Eismann höchst überrascht.
»Nein. Ich sammle sie!« sagte der Straßenfeger. Und damit nahm er
seinen Besen wieder auf und spazierte durch Admiral Booms vordere
Gartenpforte, wei l es einen Hintereingang nicht gab.
Der Eismann rollte seinen Karren weiter die Straße hinauf und klingelte;
abwechselnd huschten Sonnen- und Schattenstreifen über seine
dahinwandernde Gestalt.
»Hab's hier noch nie so ruhig gesehen«, murmelte er und hielt dabei,
von rechts nach links blickend, Ausschau nach neuen Kunden.
Genau in diesem Augenblick erscholl aus Nummer siebzehn eine
Stimme. Der Eismann eilte auf das Gitter zu, in der Hoffnung auf ein
Geschäft.
»Ich halt das nicht aus! Ich halt das einfach nicht länger aus!« brüllte
Mister Banks und stapfte wütend zwischen Haustür und Treppe hin
und her.
»Was ist los?« erkundigte sich Mistreß Banks erschrocken und eilte
aus dem Eßzimmer herbei. »Warum tobst du so in der Diele herum?«
Mister Banks holte mi t dem Fuß aus, und etwas Schwarzes flog ein
paar Stufen die Treppe hinauf.
»Mein Hut!« knirschte er zwischen den Zähnen. »Mein bester A u s -
gehhut!«
Er rannte die Treppe hinauf und beförderte ihn mi t einem Fußtritt
wieder hinunter. Der Hut trudelte über die Fliesen und landete vor
Mistreß Banks' Füßen.
»Ist etwas nicht in Ordnung damit?« sagte Mistreß Banks nervös.
Aber insgeheim fragte sie sich, ob vielleicht mi t Mister Banks etwas nicht
in Ordnung sei.
»Guck ihn dir an!« brüllte er.
Zitternd bückte sich Mistreß Banks und hob den Hut auf. Er war mi t
großen, glänzenden, klebrigen Flecken bedeckt und strömte, wie sie feststellte,
einen merkwürdigen Geruch aus.
Sie schnüffelte an der Krempe.
»Das riecht doch wie Schuhwichse«, sagte sie.
»Es ist Schuhwichse«, erwiderte Mister Banks. »Robertson Ay hat
meinen Hut mi t der Schuhbürste behandelt — er hat ihn tatsächlich blank
poliert.«
Mistreß Banks klappte vor Schreck die Kinnlade herunter.
»Ich weiß nicht, wa s über dieses Haus gekommen ist«, fuhr Mister
Banks fort. »Nichts geht, wie es soll — seit Jahren nicht! Das Rasierwasser
zu heiß, der Frühstückskaffee zu kalt. Und nun — auch das noch!«
Er riß Mistreß Banks seinen Hut aus der Hand und griff nach der
Aktentasche. »Ich gehe!« sagte er. »Und ich weiß nicht, ob ich je wieder
zurückkomme. Wahrscheinlich mache ich eine lange Seereise!«
Dann stülpte er sich den Hut auf den Kopf, schlug die Tür hinter sich
zu und stürzte so rasch durchs Gartentor, daß er den Eismann über den
Haufen rannte, der das Zwiegespräch mit höchstem Interesse verfolgt
hatte.
»Das ist Ihre Schuld!« sagte Mister Banks schroff. »Sie haben kein
Recht, hier zu stehen!« Und mi t wei t ausholenden Schritten wandte er
sich der Stadt zu; sein polierter Hut glänzte wie ein Juwel in der Sonne.
Der Eismann stand vorsichtig auf, und nachdem er festgestellt hatte,
daß seine Knochen noch alle heil waren, setzte er sich auf den Bordstein
und tröstete sich mi t einer großen Eiswaffel.
»Du meine Güte!« sagte Mistreß Banks, als sie die Tür zuschlagen
hörte. »Es stimmt wahrhaftig. Nichts klappt mehr. Bald ist hier was los,
bald dort. Seit Mary Poppins uns ohne Kündigung verlassen hat, geht
alles schief.«
Sie setzte sich auf eine Stufe, zog ihr Taschentuch und schluchzte.
Und als sie so weinte, dachte sie an alles, was geschehen war , seit
Mary Poppins so plötzlich und geheimnisvoll verschwand.
»Die eine Nacht noch hier und in der nächsten — fort, wie ärgerlich!«
schluchzte Mistreß Banks.
Al s erstes war ein Kindermädchen namens Green erschienen; es hatte
sie am nächsten Wochenende wieder verlassen, weil Michael nach ihr gespuckt
hatte. Die Nachfolgerin war eine Mi ß Brown, die eines Tages spazierenging
und nicht wieder zurückkam. Erst einige Zei t später entdeckte
man, daß sie alle Silberlöffel hatte mitgehen heißen.
Nach Miß Brown war Miß Quigley gekommen, die Hauslehrerin, der
man hatte kündigen müssen, weil sie jeden Morgen vor dem Frühstück
drei Stunden lang Tonleitern übte. Mister Banks machte sich nichts aus
Musik.
»Und dann«, stöhnte Mistreß Banks in ihr Taschentuch, »bekam Jane
die Masern, im Badezimmer platzte der Wasserspeicher, die Kirschbäume
erfroren und . . . «
»Ach bitte, Madam . . .!« Mistreß Banks blickte hoch und sah Mistreß
Brill, die Köchin, vor sich stehen.
»In der Küche brennt's! Der Kamin!« verkündete Mistreß Brill düster.
»Um Himmels willen! Wa s jetzt?« rief Mistreß Banks. »Schnell, Sie
müssen Robertson Ay rufen, zum Löschen. Wo steckt er?«
»Er schläft, Madam, im Besenschrank. Und wenn der einmal schläft,
kann nichts ihn aufwecken — nicht einmal ein Erdbeben oder ein Regiment
Trommler«, sagte Mistreß Brill, als sie hinter Mistreß Banks her
die Küchentreppe hinabrannte.
Zu zweit brachten sie es fertig, das Feuer zu löschen, aber damit hörten
für diesen Ta g Mistreß Banks' Nöte noch lange nicht auf.
Sie hatten eben das Mittagessen beendet, als eine Treppe höher ein
Krach ertönte, gefolgt von einem lauten Plumps.
»Was ist denn nun wieder los?« Mistreß Banks stürzte aus dem Zimmer,
um nachzusehen, was es gab.
»Oh, mein Bein, mein Bein!« schrie Ellen, das Zimmermädchen.
Sie saß auf der Treppe, von zerbrochenem Geschirr umgeben, und
stöhnte laut.
»Was ist mit dem Bein?« fragte Mistreß Banks scharf.
»Gebrochen«, wimmerte Ellen und lehnte sich ans Geländer.
»Unsinn, Ellen! Sie haben sich den Knöchel verstaucht, das ist alles!«
Aber Ellen stöhnte weiter.
»Ich hab mir das Bein gebrochen! Wa s mach ich nur?« jammerte sie
immer wieder. In diesem Augenblick erscholl aus dem Kinderzimmer das
gellende Geschrei der Zwillinge. Sie kämpften miteinander um den Besitz
einer blauen Zelluloidente. Ihr schrilles Gezeter übertönte die Stimmen
von Jane und Michael, die gerade Bilder an die Wand malten und darüber
stritten, ob das grüne Pferd einen purpurfarbenen Schwanz bekommen
sollte oder einen ziegelroten. Und den ganzen Lärm durchdrang unaufhörlich
wie das Dröhnen einer Trommel das Gestöhn Ellens: »Ich hab
mir das Bein gebrochen! Wa s mach ich nur?«
»Das«, sagte Mistreß Banks und rannte die Treppen hinauf, »das hat
gerade noch gefehlt!«
Sie brachte Ellen ins Bett und machte ihr einen kalten Umschlag um
den Knöchel. Dann ging sie hinüber ins Kinderzimmer.
Jane und Michael stürzten auf sie zu.
»Es mu ß doch einen ziegelroten Schwanz bekommen, nicht?« erkundigte
sich Michael.
»Ach, Mutter! Das ist ja dumm! Kein Pferd hat einen ziegelroten
Schwanz, oder doch?«
»Na, und welches Pferd hat denn einen purpurnen Schwanz? Kannst
du mir das verraten?« schrie er.
»Das ist meine Ente!« kreischte John und riß Barbara die Ente aus der
Hand.
»Meine, meine, meine!« brüllte Barbara und riß ihm die Ente wieder
weg.
»Kinder, Kinder!« Mistreß Banks rang verzweifelt die Hände. »Seid
still, oder ich werde verrückt!«
Einen Augenblick trat Ruhe ein, während alle gespannt auf die Mutter
starrten. Wurde sie wirklich verrückt? fragte sie sich. Und was geschah
dann?
»Nein«, sagte Mistreß Banks. »So benimmt man sich nicht. Die arme
Ellen hat sich den Knöchel verstaucht, und es ist keiner mehr da, um auf
euch aufzupassen. Ihr müßt in den Park hinüber und bis zum Tee dort
spielen. Jane und Michael, gebt schön acht auf die beiden Kleinen! John,
laß die Ente jetzt Barbara; du bekommst sie später, wenn du zu Bett
gehst. Michael, du darfst deinen neuen Drachen mitnehmen. Nun holt
eure Hüte, und fort mit euch!«
»Aber ich möchte mein Pferd fertigmalen . . .«, begann Michael zu
maulen.
»Warum müssen wi r in den Park?« beschwerte sich Jane. »Dort ist es
so langweilig!«
»Weil ich endlich Ruhe haben muß!« sagte Mistreß Banks. »Wenn ihr
jetzt weggeht und artige Kinder seid, gibt es Kokosnußmakronen zum
Tee.«
Und bevor sie Zeit fanden, noch einmal aufzubegehren, hatte sie ihnen
die Hüte aufgesetzt und schob sie die Treppe hinunter.
»Guckt erst nach beiden Seiten!« rief sie ihnen nach, als sie durchs Tor
gingen. Jane schob den Kinderwagen mi t den Zwillingen, und Michael
trug seinen Drachen.
Die Kinder blickten nach rechts. Vo n dort kam nichts.
Sie blickten nach links. Dor t wa r niemand, nur der Eismann, der am
unteren Ende der Straße herumklingelte.
Jane eilte über die Straße.
Michael folgte ihr dicht auf dem Fuß.
»Ich hasse dieses Leben«, sagte er unglücklich zu seinem Drachen.
»Immer geht alles schief.«
Jane schob den Kinderwagen bis zum Teich.
»Nun«, sagte sie, »gebt mir die Ente!«
Die Zwillinge kreischten und umklammerten krampfhaft ihr Spielzeug.
Jane bog ihnen die Fingerchen auf.
»Guckt!« sagte sie und warf die Ente in den Teich. »Guckt, meine
Herzchen, jetzt schwimmt sie nach Indien!«
Die Ente trieb auf dem Wasser davon. Die Zwillinge starrten ihr nach
und schluchzten.
Jane rannte um den Teich herum, griff die Ente auf und schubste sie
wieder ins Wasser.
»Jetzt«, sagte sie fröhlich, »ist sie auf dem Wege nach Southampton!«
Den Zwillingen schien es keinen Spaß zu machen.
»Jetzt geht's nach New York!« Die Zwillinge jammerten noch heftiger.
Jane zuckte ratlos die Achseln. »Michael, was machen wi r bloß mi t
ihnen? Wenn wir ihnen die Ente geben, zanken sie sich darum, und tun
wir's nicht, so heulen sie weiter.«
»Ich lasse den Drachen für sie steigen«, sagte Michael. »Guckt, Kinderchen,
guckt!«
Er hielt den wundervollen gelbgrünen Drachen hoch und begann, die
Schnur abzuwickeln. Die Zwillinge sahen mi t tränenvollen Augen zu
und zeigten keinerlei Interesse. Michael hob den Drachen über den Kopf
und lief ein kleines Stück. Der Drachen flatterte einen Augenblick in der
Luft und purzelte dann heimtückisch ins Gras.
»Versuch's noch mal!« sprach Jane ihm Mut zu.
»Halte du ihn hoch, während ich laufe«, sagte Michael.
Diesmal stieg der Drachen ein wenig höher. Aber als er in der Luft
trieb, verfing sich sein langer, mi t Papierstreifen besetzter Schweif in den
Ästen einer Linde, und der Drachen baumelte hilflos zwischen den
Zweigen.
Die Zwillinge jauchzten vor Wonne.
»Du meine Güte!« sagte Jane. »Nichts klappt heute!«
»Hallo, hallo, hallo! Wa s gibt's denn?« sagte hinter ihnen eine
Stimme.
Sie drehten sich um und erblickten den Parkaufseher, der in seiner
Uniform und seiner Schirmmütze sehr eindrucksvoll wirkte. Mi t der
Spitze seines Stocks spießte er die umherliegenden Papierfetzen auf. Jane
zeigte mi t dem Finger auf den Lindenbaum. Der Parkaufseher blickte
hoch. Sein Gesicht wurde sehr ernst.
»Aber, aber! Ihr verletzt ja die Vorschriften. Wi r dulden hier kein
Gerümpel, das wißt ihr — weder auf der Erde noch auf den Bäumen. Das
ist nicht gestattet.«
»Das ist kein Gerümpel. Das ist ein Drachen«, belehrte ihn Michael.
Ein milder, sanfter, törichter Ausdruck zeigte sich auf dem Gesicht des
Parkaufsehers. Er trat an die Linde heran.
»Ein Drachen? Wahrhaftig! Und ich habe keinen Drachen mehr stei-
gen lassen, seit ich ein kleiner Junge war!« Mi t einem Sprung kletterte er
in den Baum hinauf und kam, den Drachen zärtlich unterm Arm, wieder
herunter.
»So«, sagte er aufgeregt, »nun wickeln wir die Schnur wieder auf,
nehmen einen Anlauf und lassen ihn fliegen.« Er streckte die Hand nach
der Spule aus.
Michael drückte sie heftig an sich.
»Besten Dank, aber ich möchte ihn selbst fliegen lassen.«
»Natürlich, aber ich darf dir doch dabei helfen, nicht wahr?« sagte der
Parkaufseher bescheiden. »Wo ich doch für dich auf den Baum geklettert
bin und keinen Drachen mehr hab steigen lassen, seit ich ein kleiner
Junge war!«
»Na schön«, sagte Michael, denn er wollte nicht unfreundlich erscheinen.
»Ach, ich danke dir, ich danke dir!« rief der Parkaufseher fröhlich.
»Jetzt nehme ich den Drachen und gehe zehn Schritte über den Rasen.
Und wenn ich rufe >los<, dann fängst du an zu laufen. Verstanden?«
Der Parkaufseher entfernte sich und zählte dabei laut seine Schritte.
»Acht, neun, zehn!«
Er machte kehrt und hob den Drachen über den Kopf. »Los!«
Michael begann zu laufen.
»Mehr Schnur geben!« brüllte der Parkaufseher.
Michael hörte hinter seinem Rücken ein sanftes Flattern. Er spürte
einen Z u g an der Schnur, als sich die Spule in seiner Hand drehte.
»Er fliegt!« rief der Parkaufseher.
Michael blickte zurück. Der Drachen segelte durch die Luft und stieg
gleichmäßig. Höher und höher strebte er, ein winziger gelbgrüner Fleck,
der sich im Blauen verlor. Dem Parkaufseher traten fast die Augen aus
dem Kopf. »So was von Drachen hab ich noch nie gesehen. Selbst nicht
als kleiner Junge«, murmelte er und starrte in die Höhe.
Ein lichtes Wölkchen zog über die Sonne und schwebte weiter am Himmel
entlang. »Es treibt auf den Drachen zu«, flüsterte Jane aufgeregt.
Höher und höher stieg der unruhig schwänzelnde Drachen; wie ein
Pfeil bohrte er sich in die Luft, bis er am Himmel nur noch als schwaches
dunkles Pünktchen zu sehen war. Die Wolke trieb langsam auf ihn zu.
Näher und näher!
»Weg ist er!« sagte Michael, als der Punkt hinter dem dünnen grauen
Vorhang verschwand.
Jane stieß einen kleinen Seufzer aus. Die Zwillinge saßen friedlich in
ihrem Kinderwagen. Eine seltsame Ruhe lag über ihnen allen. Die straff
gespannte Schnur, die von Michaels Hand aufstieg, schien sie alle mit der
Wolke zu verbinden und die Erde mi t dem Himmel. Mit angehaltenem
Atem warteten sie darauf, daß der Drachen wieder erschien.

Plötzlich konnte Jane es nicht länger aushalten.
»Michael«, schrie sie, »hol ein, hol ein!«
Sie legte die Hand auf die straff gespannte, zitternde Schnur.
Michael drehte den Stock und zog lang und heftig an der Schnur. Sie
blieb straff und gab nicht nach. Wieder zog er, keuchend und schnaufend.
»Ich schaff's nicht«, sagte er. »Er kommt nicht.«
»Ich helfe!« sagte Jane. »Jetzt — zieh!«
Aber, sosehr sie sich auch anstrengten, die Schnur gab nicht nach, und
der Drachen blieb hinter der Wolke versteckt.
»Laßt mich mal!« sagte der Parkaufseher wichtig. »Als ich ein Junge
war, da machten wi r es so!«
Er legte oberhalb von Janes Finger seine Hand auf die Schnur und zog
kurz und scharf. Die Schnur schien ein wenig nachzugeben.
»Und jetzt — alle miteinander — zieht!« brüllte er.
Dem Parkaufseher fiel die Mütze vom Kopf, Jane und Michael stemmten
ihre Füße fest ins Gras und zogen aus allen Kräften.
»Er kommt!« schnaufte Michael.
Plötzlich erschlaffte die Schnur; ein kleines wirbelndes Etwas schoß
durch die graue Wolke und kam herabgesegelt.
»Winde die Schnur auf!« rief der Parkaufseher und war f Michael
einen Blick zu.
Aber die Schnur wand sich schon von selbst um die Spule.
Langsam, ganz langsam kam der Drachen herunter, schlug Purzelbäume
in der Luft und tanzte wild am Ende seiner zuckenden Schnur.
Jane japste plötzlich.
»Da ist etwas passiert!« schrie sie. »Das ist nicht unser Drachen. Es ist
ein ganz anderer!«
Sie starrten hinauf.
Es war wirklich so. Der Drachen war nicht mehr gelbgrün. Er hatte die
Farbe gewechselt und war jetzt marineblau. Er kam herunter, tanzend
und hüpfend.
Plötzlich stieß Michael einen Schrei aus.
»Jane! Jane! Das ist gar kein Drachen. Es sieht aus wie — oh, es sieht
aus wie —«
»Mach doch, Michael, schneller!« keuchte Jane. »Ich kann' s kaum erwarten!
«
Denn jetzt wurde über den höchsten Bäumen des Parkes das Gebilde
am Ende der Drachenschnur deutlich. Keine Rede mehr von dem gelbgrünen
Drachen! An seiner Stelle tanzte eine Gestalt, die ihnen bei aller
Seltsamkeit dennoch bekannt vorkam, eine Gestalt, die einen blauen
Mantel mit Silberknöpfen trug und einen mi t Stiefmütterchen bekränzten
Strohhut. Festgeklemmt unter dem Arm hatte sie einen Regenschirm
mi t einem Papageienkopf als Krücke; linker Hand baumelte eine braune
Plüschreisetasche, während die Rechte mi t festem Griff das Ende der Drachenschnur
hielt.
»Oh!« schrie Jane triumphierend. »Sie ist es!«
»Ich wußte es!« brüllte Michael; seine Hand zitterte beim raschen
Aufwinden der Schnur.
»Seltsamer Vogel!« sagte der Parkaufseher und grinste. »Seltsamer
Vogel!«
Immer näher segelte die merkwürdige Gestalt; ihre Füße streiften
schon fast die Baumwipfel. Sie konnten jetzt ihr Gesicht erkennen und
die wohlvertrauten Züge — kohlschwarzes Haar, blitzende blaue Augen
und eine Stupsnase wie bei einer Holländerpuppe. Al s das letzte Stückchen
Schnur sich um die Spule legte, glitt die Gestalt zwischen den Lindenbäumen
zu Boden und setzte sauber aufs Gras auf.
Mi t einem Schwung warf Michael die Drachenschnur we g und rannte
drauflos, Jane eilig hinterher.
»Mary Poppins, Ma r y Poppins!« schrien sie durcheinander und stürzten
auf sie zu.
Hinter ihnen krähten die Zwillinge wie Hähne in der Morgenfrühe,
und der Parkaufseher machte abwechselnd den Mund auf und zu, als
wollte er etwas sagen, fände aber nicht die richtigen Worte.
»Endlich! Endlich! Endlich!« brüllte Michael wie w i l d ; er umklammerte
ihren Arm, ihre Reisetasche, ihren Regenschirm, kurz, alles, was
sich nur anfassen ließ, um sich zu überzeugen, daß sie es wirklich und
leibhaftig war.
»Wir wußten, du würdest wiederkommen! Wi r fanden deinen Brief
mit dem >au revoir< am Ende!« rief Jane und war f ihre Arme um den
blauen Mantel.
Ein befriedigtes Lächeln zuckte für einen Augenblick über Ma r y Poppins'
Gesicht — vom Mund her, über die Stupsnase bis in die blauen
Augen. Aber rasch verschwand es wieder.
»Ich wäre dir dankbar«, bemerkte sie und befreite sich aus Janes Händen,
»wenn du dich daran erinnern wolltest, daß dies hier ein öffentlicher
Park ist und kein Affenhaus. Wa s für ein Benehmen! Bin ich denn im
Zoo? Und wo sind, wenn ich fragen darf, eure Handschuhe?«
Die Kinder prallten zurück und gruben in ihren Taschen.
»Hm! Zieht sie an, bitte.«
Zitternd vor Freude und Aufregung stopften Jane und Michael ihre
Hände in die Handschuhe und setzten ihre Hüte auf.
Mary Poppins trat auf den Kinderwagen zu. Die Zwillinge glucksten
vergnügt, als sie sie fester einwickelte und die Decke geradezog. Dann
blickte sie sich um.
»Wer hat die Ente in den Teich geworfen?« erkundigte sie sich mi t der
strengen, unnahbaren Stimme, die alle so gut kannten.
»Ich war's«, sagte Jane. »Wegen der Zwillinge. Die Ente schwamm
nach New York.«
»Na, dann hol sie mal wieder her!« sagte Mary Poppins. »Sie
schwimmt nicht nach New Yo r k — wo immer das sein ma g —, sondern
nach Hause zum Tee.«
Nachdem sie ihre Reisetasche über den Griff des Kinderwagens hatte
gleiten lassen, begann sie, die Zwillinge nach dem Ausgang zu schieben.
Der Parkaufseher, der plötzlich seine Stimme wiedergefunden hatte,
stellte sich ihr in den We g .
»Hören Sie mal«, sagte er und glotzte. »Ich muß einen Bericht machen.
Es ist gegen alle Vorschriften. Geradewegs vom Himmel zu fallen, so wie
Sie! Und woher, möchte ich gern wissen, woher?«
Er brach ab, denn Ma r y Poppins blickte an ihm hinauf und hinunter,
auf eine Ar t , daß er sich weit we g wünschte.
»Wenn ich Parkaufseher wäre«, bemerkte sie kurz, »würde ich meine
Mütze aufsetzen und mir den Rock zuknöpfen. Entschuldigen Sie.«
Und ihn hochnäsig zur Seite fegend, schob sie den Kinderwagen an
ihm vorüber.
Mi t rotem Kopf bückte sich der Aufseher, um seine Mütze aufzuheben.
Al s er wieder aufblickte, waren Mary Poppins und die Kinder bereits
durch das Tor von Kirschbaumweg Nummer siebzehn verschwunden.
Er blickte verdutzt auf den Weg. Dann starrte er zum Himmel empor
und danach wieder auf den We g .
Er nahm die Mütze ab, kratzte sich den Kopf und setzte sie wieder auf.
»So wa s hab ich noch nicht erlebt!« sagte er kopfschüttelnd. »Nicht
mal als kleiner Junge!« Und vor sich hin murmelnd ging er verstört davon.
»Ei, das ist ja Ma r y Poppins!« sagte Mistreß Banks, als sie in die Diele
traten. »Wo kommen Sie denn her? Au s blauem Himmel?«
»Jawohl«, begann Michael vergnügt, »sie kam herunter am Ende
einer . . .«
Er brach plötzlich ab, denn Mary Poppins hatte ihm einen ihrer fürchterlichen
Blicke zugeworfen.
»Ich fand sie im Park, Madam«, sagte sie, sich an Mistreß Banks wendend,
»und so brachte ich sie nach Haus.«
»Sie sind also gekommen, um zu bleiben?«
»Vorläufig, Madam.«
»Aber als Sie das letztemal hier waren, Ma r y Poppins, haben Sie mich
ohne ein Wort der Kündigung verlassen. Woher soll ich denn wissen, daß
Sie es diesmal nicht wieder tun?«
»Das können Sie nicht«, entgegnete Mary Poppins ungerührt.
Mistreß Banks sah reichlich verdutzt aus.
»Aber — aber, wollen Sie denn wirklich?« fragte sie unsicher.

»Ich kann's nicht sagen, Madam, wirklich nicht.«
»Ach!« sagte Mistreß Banks, weil ihr nichts Besseres einfiel.
Aber ehe sie sich von ihrer Ãœberraschung erholt hatte, hatte Mary
Poppins schon ihre Reisetasche ergriffen und drängte die Kinder die
Treppe hinauf.
Mistreß Banks, die ihnen nachblickte, hörte, wie die Tür zum Kinderzimmer
sich leise schloß. Mi t einem Seufzer der Erleichterung lief sie ans
Telefon.
»Mary Poppins ist zurückgekommen!« rief sie glücklich in den Hörer.
»Ach wirklich?« sagte Mister Banks am anderen Ende. »Dann komm
ich vielleicht auch.«
Und er hängte ab.
Eine Treppe höher zog Ma r y Poppins ihren Mantel aus. Sie hängte ihn
an einen Haken hinter der Tür zum Kinderschlafzimmer. Dann legte sie
den Hut ab und setzte ihn ordentlich auf einen der Bettpfosten.
Jane und Michael verfolgten die vertrauten Bewegungen. Alles an ihr
war genauso wie immer. Sie konnten kaum noch glauben, daß sie jemals
weg gewesen war.
Mary Poppins bückte sich und öffnete die Reisetasche.
Mi t Ausnahme eines großen Thermometers war sie völlig leer.
»Wozu ist denn das?« fragte Jane neugierig.
»Für dich«, sagte Mary Poppins.
»Aber ich bin doch nicht krank«, protestierte Jane. »Es ist zwei
Monate her, daß ich die Masern hatte.«
»Mund auf!« sagte Mar y Poppins mi t einer Stimme, vor der Jane
schleunigst die Augen schloß und den Mund aufsperrte. Das Thermometer
glitt hinein.
»Ich möchte wissen, wie du dich aufgeführt hast, während ich weg
war«, bemerkte Mary Poppins streng. Dann nahm sie das Thermometer
heraus und hielt es ans Licht.
»Unachtsam, gedankenlos und liederlich!« las sie ab.
Jane erstarrte.
»Hm!« sagte Ma r y Poppins und steckte Michael das Thermometer in
den Mund. Er hielt es fest zwischen die Lippen geklemmt, bis sie es herauszog
und ablas:
»Ein sehr geräuschvoller, mutwilliger und unruhiger Junge.«
»Das bin ich nicht«, sagte er aufgebracht.
Statt aller Antwort hielt sie ihm das Thermometer unter die Nase, und
er entzifferte die großen roten Buchstaben.
»E—i—n s—e—h—r g—e—r !«
»Siehst du wohl?« sagte Mar y Poppins mit einem triumphierenden
Blick. Sie öffnete John das Mäulchen und steckte das Thermometer hinein.
»Launisch und leicht aufgeregt.« Das war Johns Temperatur.
Und als Barbara gemessen war, las Mar y Poppins folgende Worte ab:
»Durch und durch verwöhnt.«
»Hm«, schnaufte sie. »Höchste Zeit, daß ich zurückkam.«
Dann steckte sie es schnell in ihren eigenen Mund, beließ es dort einen
Augenblick und zog es heraus.
»Eine ausgezeichnete, höchst ehrenwerte Person, durchaus verläßlich
in jeder Beziehung.«
Ein erfreutes und geschmeicheltes Lächeln erhellte ihr Gesicht, als sie
ihre Temperatur laut vorlas.
»Das dachte ich mir«, sagte sie, von sich selbst überzeugt.
Es dauerte ihrem Gefühl nach kaum mehr als eine Minute, bis die Kinder
ihre Milch ausgetrunken und ihre Kokosnußplätzchen gegessen hatten,
bis sie danach gebadet und wieder abgetrocknet waren. Wi e üblich,
geschah alles, was Ma r y Poppins tat, mi t Blitzgeschwindigkeit. Haken
und Ösen lösten sich wie v on selbst, Knöpfe sprangen eifrig aus ihren
Löchern, Schwamm und Seife glitten auf und ab wie geölt, und Handtücher
trockneten ab ohne langes Rubbeln. Mary Poppins wanderte die
Reihe der Betten entlang und steckte alle unter die Decken. Ihre gestärkte
weiße Schürze knisterte, und sie roch höchst angenehm nach frisch geröstetem
Toast.
Al s sie an Michaels Bett kam, bückte sie sich und fuhrwerkte eine
Weile darunter herum. Dann zog sie vorsichtig ein Feldbett hervor, auf
dem ihre Habseligkeiten sorgfältig aufgestapelt lagen: das große Stück
Sunlichtseife, die Zahnbürste, das Paket Haarnadeln, die Parfümflasche,
der kleine, zusammenlegbare Armsessel, die Schachtel mi t Hustenpastillen.
Außerdem die sieben Flanellnachthemden, die vier baumwollenen,
die Stiefel, die Dominosteine, die beiden Bademützen und das Postkartenalbum.
Jane und Michael setzten sich auf und staunten.
»Woher kommt das alles denn her?« fragte Michael. »Ich bin mindestens
hundertmal unter mein Bett gekrochen, und ich weiß bestimmt, das
war vorher nicht da.«
Mary Poppins antwortete nicht. Sie hatte angefangen, sich auszuziehen.
Jane und Michael wechselten heimliche Blicke. Sie wußten, es hatte
keinen Zweck zu fragen, Ma r y Poppins erklärte nie etwas.
Sie nahm den gestärkten weißen Kragen ab und fingerte am Verschluß
einer Kette herum, die sie um den Hals trug.
»Was ist denn da drin?« erkundigte sich Michael und blickte auf ein
kleines goldenes Medaillon am Ende der Kette.
»Ein Bild.«
»Wessen Bild?«

»Das erfahrt ihr, wenn es an der Zei t ist — nicht eher«, versetzte sie
kurz.
»Wann ist es Zeit?«
»Wenn ich weggehe.«
Sie starrten sie mi t erschreckten Augen an.
»Aber, Mary Poppins«, schrie Jane, »du willst uns doch nicht wieder
verlassen, oder doch? Ach bitte, sag nein!«
Mary Poppins war f ihr einen Blick zu.
»Ein schönes Leben wäre das für mich«, bemerkte sie, »wenn ich all
meine Tage mit euch verbringen müßte!«
»Aber du bleibst, gelt?« setzte Jane ihr eifrig zu.
Mary Poppins ließ das Medaillon auf ihrer Handfläche tanzen.
»Ich bleibe, bis die Kette bricht«, erklärte sie kurz.
Und das Nachthemd über den Kopf streifend, begann sie, sich darunter
auszuziehen.
»Dann ist alles in Ordnung«, flüsterte Michael zu Jane hinüber. »Ich
hab gesehen, die Kette ist sehr stark!«
Er nickte ihr aufmunternd zu. Sie kuschelten sich in ihre Betten und
sahen zu, wie Ma r y Poppins geheimnisvoll unter dem Zelt ihres Nachthemdes
herumhantierte. Und sie dachten an den Abend ihrer ersten A n -
kunft im Kirschbaumweg und an all die seltsamen und wunderbaren
Abenteuer, die sich danach ereignet hatten; wie sie an ihrem Schirm davongeflogen
war, als der Wind umschlug; an die langen, trübseligen
Tage ohne sie und daran, wie sie heute nachmittag auf so wunderbare
Weise vom Himmel herabgestiegen war.
Plötzlich fiel Michael etwas ein. »Mein Drachen!« sagte er und setzte
sich im Bett auf. »Den habe ich ganz vergessen! Wo ist mein Drachen?«
Mary Poppins' Kopf tauchte über dem Halsausschnitt ihres Nachthemds
auf. »Drachen?« fragte sie unwirsch. »Welcher Drachen? Wa s für
ein Drachen?«
»Mein gelbgrüner Drachen mi t dem langen Schwanz. Der, mit dem du
heruntergekommen bist, am Ende der Schnur.«
Mary Poppins starrte ihn an. Er hätte nicht sagen können, ob sie mehr
erstaunt wa r oder mehr böse, aber sie sah aus, als wäre sie beides.
Und als sie sprach, wa r ihre Stimme noch fürchterlicher als ihr Blick.
»Hab ich recht gehört, du sagtest, daß . . .«, wiederholte sie die Worte
langsam zwischen den Zähnen — »daß ich von irgendwo herunterkam
und gar am Ende einer Schnur?«
»Aber so war's doch!« stotterte Michael. »Heute. Au s einer Wolke
heraus. Wi r haben dich gesehen.«
»Am Ende einer Schnur? Wi e ein Affe, oder wie ein Brummkreisel?
Ich, Michael Banks?«
In ihrer Wu t schien Ma r y Poppins zu doppelter Größe anzuwachsen.
Sie schwebte in ihrem Nachthemd drohend über ihm, großmächtig und
zornig, in Erwartung seiner Antwort.
Er zog hilfesuchend die Bettdecke über den Kopf.
»Sag ja nichts mehr, Michael!« wisperte Jane warnend aus ihrem Bett
herüber. Aber er war zu wei t gegangen, um noch einhalten zu können.
»Dann — wo ist dann mein Drachen?« sagte er vorwitzig. »Wenn du
nicht herabgeschwebt bist auf — auf die A r t , wie ich sagte —, wo ist dann
mein Drachen? Er war nicht mehr am Ende der Schnur.«
»Oho! Und ich war's, nehme ich an?« fragte sie mi t einem spöttischen
Lachen.
Jetzt sah er ein, daß es keinen Zweck hatte, weiter zu gehen. Er konnte
sich nicht deutlich genug ausdrücken. Also mußte er aufgeben.
»N . . . ein«, sagte er kleinlaut. »Nein, Mary Poppins.«
Sie drehte sich um und knipste das elektrische Licht aus.
»Eure Manieren«, bemerkte sie scharf, »sind auch nicht besser geworden,
seit ich wegging! Am Ende einer Schnur, so wa s ! Nie im Leben bin
ich so beleidigt worden. Niemals!«
Und mi t einer wütenden Armbewegung schlug sie ihre Bettdecke zurück,
plumpste ins Bett hinein und zog die Decke bis über die Ohren.
Michael lag ganz still, fest in seine Bettdecke gewickelt.
»Und sie hat's doch getan. Wi r haben's ja gesehen«, flüsterte er nach
einer kleinen Weile zu Jane hinüber.
Aber Jane antwortete nicht. Statt dessen deutete sie nach der Tür des
Kinderschlafzimmers.
Vorsichtig hob Michael den Kopf.
Hinter der Tür, an einem Haken, hing Mary Poppins' Mantel; die
silbernen Knöpfe schimmerten im Schein des Nachtlichts. Und aus der
Tasche hing eine Schnur mi t Papierschnitzeln, die Schnur eines gelbgrünen
Drachens.
Lange Zeit starrten sie unverwandt darauf hin.
Dann nickten sie sich zu. Sie wußten, es ließ sich nichts darüber sagen,
denn bei Mary Poppins gab es Dinge, die sie niemals verstehen würden.
Aber — sie war wieder da. Das war die Hauptsache. Ihr gleichmäßiger
Atem drang vom Feldbett zu ihnen herüber. Sie fühlten sich friedvoll
und glücklich und wohl aufgehoben.
»Ich hab nichts dagegen, Jane, wenn es einen purpurfarbenen Schwanz
bekommt«, flüsterte Michael dann.
»Nein, Michael!« sagte Jane. »Ich glaube wirklich, ein ziegelroter wäre
schöner.«
Danach wurde es still im Kinderzimmer, und nichts war mehr zu hören
als der ruhige At em der Schlafenden . . .
»P—p! P—p!« machte Mister Banks' Pfeife'.
»Klick, klick!« machten Mistreß Banks' Stricknadeln.
Mister Banks setzte seine Füße aufs Kamingitter in seinem Arbeitszimmer
und schnarchte ein bißchen.
Nach einem Weilchen sprach Mistreß Banks.
»Hast du immer noch vor, eine lange Seereise zu machen?« fragte sie.
»Hm, ich glaube nicht. Ich werde zu leicht seekrank. Und mein Hut ist
wieder ganz in Ordnung. Ich hab ihn vom Schuhputzer an der Ecke ganz
und gar überpolieren lassen, und jetzt sieht er wieder aus wie neu. Sogar
noch besser. Außerdem wird jetzt, wo Mary Poppins wieder da ist, mein
Rasierwasser nicht mehr zu heiß sein.«
Mistreß Banks lächelte vor sich hin und strickte weiter.
Sie war recht froh darüber, daß Mister Banks ein schlechter Seefahrer
und daß Mary Poppins wieder da war.
Unten in der Küche machte Mistreß Brill einen frischen Umschlag um
Ellens Knöchel.
»Ich hab nicht viel von ihr gehalten, als sie damals hier war!« sagte
Mistreß Brill. »Aber ich muß sagen, seit heute nachmittag ist dies hier
ein anderes Haus geworden. So ruhig wie ein Sonntagmorgen und so
sauber wie ein neues Nickelstück. Ich bin nicht traurig darüber, daß sie
wieder da ist.«
»Ich auch nicht, wahrhaftig!« meinte Ellen dankbar.
»Und ich ebensowenig«, sagte Robertson A y , der durch die Wa n d des
Besenschranks die Unterhaltung belauschte. »Jetzt werd ich wieder ein
bißchen mehr Ruhe haben.«
Er setzte sich auf dem umgestülpten Kohleneimer bequem zurecht und
fiel, den Kopf an eine Bürste gelehnt, wieder in Schlaf.
Wie Mary Poppins darüber dachte, das erfuhr jedoch keiner, denn sie
behielt ihre Gedanken für sich und erzählte keinem Menschen ein Wort.
2. Kapitel
Miß Andrews Lerche
Es war Sonntagnachmittag.
In der Diele des Kirschbaumweges Nummer siebzehn klopfte Mister
Banks eifrig am Barometer herum und teilte Mistreß Banks mit, welches
Wetter zu erwarten war. »Leichter Südwind; mittlere Temperatur; örtliche
Gewitter; leicht bewegte See«, sagte er. »Weitere Entwicklung ungewiß.
Hallo — wa s ist das?«
Er brach ab, denn über seinem Kopf ertönte ein bummsendes, wummsendes
und plumpsendes Geräusch.
An der Treppenbiegung tauchte Michael auf, der höchst übel gelaunt
und störrisch aussah, während er die Treppe herabpolterte. Hinter ihm,
in jedem A rm einen Z w i l l i n g , erschien Ma r y Poppins; sie stieß ihm das
Knie in den Rücken und beförderte ihn mi t einem scharfen Schubs von
einer Stufe zur nächsten. Jane folgte; sie trug die Hüte.
»Frisch begonnen, ist halb gewonnen. Hinunter mit dir, bitte«, sagte
Mary Poppins streng.
Mister Banks wandte sich v om Barometer ab und blickte hoch, als sie
auftauchten.
»Na, was ist denn los mi t euch?« erkundigte er sich.
»Ich will nicht Spazierengehen! Ich will mit meiner neuen Eisenbahn
spielen«, sagte Michael und schluchzte, als Ma r y Poppins' Knie ihn eine
Stufe tiefer beförderte.
»Unsinn, mein Herz!« sagte Mistreß Banks. »Natürlich willst du.
Spazierengehen macht lange und kräftige Beine.«
»Aber ich möchte lieber kurze Beine«, brummte Michael und stolperte
schwer die nächste Stufe hinunter.
»Als ich ein kleiner Junge war«, sagte Mister Banks, »war ich wild
aufs Spazierengehen. Ich ging mi t meiner Erzieherin jeden Ta g bis zum
zweiten Laternenpfosten und zurück. Und ich brummte nie!«
Michael blieb stehen und blickte zweifelnd auf Mister Banks.
»Warst du überhaupt mal ein kleiner Junge?« fragte er, höchst überrascht.
Mister Banks schien schwer verletzt.
»Natürlich war ich das. Ein süßer kleiner Junge mit langen blonden
Locken, kurzen Sammethosen und Knöpfstiefelchen.«
»Kaum zu glauben!« sagte Michael, der jetzt aus eigenem Antrieb die
Treppe heruntersprang, um Mister Banks aus der Nähe anzustaunen.
Er konnte sich seinen Vater einfach nicht als kleinen Jungen vorstellen.
Es schien ihm unfaßlich, daß Mister Banks jemals anders gewesen
sein könnte als sechs Fuß hoch, gesetzten Alters und nahezu kahl.
»Wie hieß denn deine Erzieherin?« fragte Jane, die hinter Michael die
Treppe herunterlief. »War sie nett?«
»Sie hieß Miß Andrew und war ein heiliger Schrecken!«
»Pschst!« machte Mistreß Banks vorwurfsvoll.
»Ich meine . . .«, verbesserte sich Mister Banks, »na, sie war — sie war
— sehr streng. Und sie hatte stets recht. Und sie setzte jeden anderen
gern ins Unrecht. Bis er sich wie ein Wurm fühlte. Ja, so war sie — Mi ß
Andrew!«
Mister Banks wischte sich die Stirn beim bloßen Gedanken an diese
Erzieherin.
Kling! Kling! Kling!
An der Vordertür klingelte es und widerhallte im ganzen Haus.
Mister Banks ging zur Tür und öffnete sie. Au f der Vordertreppe
stand, sehr eindrucksvoll wirkend, ein Telegraphenbote.
»Dringendes Telegramm. Für Banks. Soll ich die Antwort gleich mitnehmen?
« Er überreichte einen orangefarbenen Umschlag.
»Wenn's eine gute Nachricht ist, kriegen Sie sechs Pence«, sagte Mi -
ster Banks, während er das Telegramm aufriß und die Botschaft las. Sein
Gesicht wurde bleich.
»Keine Antwort«, sagte er kurz.
»Und keine sechs Pence?«
»Bestimmt nicht!« sagte Mister Banks bitter. Der Telegraphenbote
warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu und ging bekümmert davon.
»Oh, was ist?« fragte Mistreß Banks, der aufging, daß es eine sehr
schlechte Nachricht sein mußte. »Ist jemand krank?«
»Schlimmer«, sagte Mister Banks unglücklich.
»Haben wi r unser Vermögen verloren?« Jetzt wurde auch Mistreß
Banks blaß und unruhig.
»Noch schlimmer! Sagte das Barometer nicht Gewitter voraus? Und
weitere Entwicklung ungewiß? Hör zu.«
Er glättete das Telegrammformular und las vor:
»Besuche euch für einen Monat. Ankomme heute fünfzehn Uhr. Bitte
Schlafzimmer heizen. Euphemia Andrew.«
»Andrew? Aber das ist doch der Name deiner Erzieherin!« sagte Jane.
»Es ist meine Erzieherin«, sagte Mister Banks; er lief auf und ab und
fuhr mit den Händen nervös durch den Rest seiner Haare. »Mit Vornamen
hieß sie Euphemia. Und sie kommt heute nachmittag um drei!«
Er stöhnte laut auf.
»Das nenne ich doch keine schlechte Nachricht«, sagte Mistreß Banks
sehr erleichtert. »Natürlich müssen wi r das Fremdenzimmer herrichten,
doch das macht nichts. Ich habe die gute alte Seele . . . «
»Die gute alte Seele!« brüllte Mister Banks. »Du weißt nicht, wovon
du sprichst. Gute a l t e . . . heiliger Bimbam! Warte ab, bis du sie siehst,
sag ich bloß. Warte ab, bis du sie siehst!« Er griff nach Hut und Regenmantel.
»Aber, mein Lieber!« schrie Mistreß Banks, »du mußt hierbleiben und
sie begrüßen. Es würde so unhöflich aussehen. Wo gehst du hin?«
»Irgendwohin. Überallhin. Sag ihr, ich bin tot!« entgegnete er bitter.
Und damit eilte er aus dem Haus. Er sah außerordentlich nervös und
niedergeschlagen aus.
»Meine Güte, Michael, wie kann sie denn sein?« fragte Jane.
»Neugier bringt selbst 'ne Katze um«, sagte Mary Poppins. »Setzt
bitte eure Hüte auf!« Sie verstaute die Zwillinge im Kinderwagen und
schob ihn den Gartenweg hinunter. Jane und Michael folgten ihr auf die
Straße.
»Wo gehen wi r heut hin, Mary Poppins?«
»Durch den Park und dem Neunzehner-Bus nach, die Hochstraße hinauf,
über die Brücke und zurück durch die Eisenbahnunterführung«,
sagte sie kurz.
»Wenn wir so gehen, wandern wi r die ganze Nacht«, wisperte
Michael, der mi t Jane etwas zurückblieb. »Und wi r verpassen Mi ß Andrew.
«
»Sie bleibt doch einen ganzen Monat«, erinnerte ihn Jane.
»Aber ich möchte sie ankommen sehen«, beschwerte er sich; er zog die
Füße nach und schlurfte über das Pflaster.
»Macht, bitte, ein bißchen schneller«, sagte Mary Poppins aufmunternd,
»sonst denke ich, ich gehe mit zwei Schnecken spazieren.«
Doch als sie sie eingeholt hatten, l ieß sie sie ganze fünf Minuten lang
vor einem Fischgeschäft warten, während sie sich in der Schaufensterscheibe
besah. Sie trug ihre neue weiße Bluse mi t den roten Tupfen, und
daher zeigte ihr Gesicht einen befriedigten Ausdruck, als sie ihr Spiegelbild
begutachtete, das sich reizvoll von einem Hintergrund gebackener
Fische abhob. Sie schob ihren Mantel ein wenig zurück, so daß etwas
mehr von der Bluse zu sehen war, und dabei fand sie, daß Mary Poppins
alles in allem noch niemals hübscher ausgesehen hatte. Selbst die gebackenen
Fische, die ihre eigenen gebackenen Schwänze im Maul hielten,
schienen sie aus runden, bewundernden Aug en anzustarren.
Mary Poppins nickte leise geschmeichelt ihrem Spiegelbild zu und eilte
davon. Sie hatten die Hochstraße hinter sich und schritten jetzt über die
Brücke. Bald darauf kamen sie zur Unterführung, und Jane und Michael
liefen eifrig vor dem Kinderwagen her und rannten die ganze Zeit über,
bis sie beim Kirschbaumweg um die Ecke bogen.
»Da kommt ein Taxi«, schrie Michael begeistert. »Das muß Miß An -
drew sein!« Sie blieben an der Ecke stehen und warteten auf Mary Poppins,
während sie Mi ß Andrew im Aug e behielten.
Ein Taxi kam langsam die Straße herabgefahren und hielt vor dem
Tor von Nummer siebzehn. Es keuchte und ratterte, als der Motor
stoppte. Und das war kein Wunder, denn von den Reifen bis zum Dach
war der Wagen schwer mi t Gepäck beladen. Das Taxi selbst war kaum
noch zu sehen unter all den Koffern auf dem Dach, den Koffern, die
hinten angeschnallt waren, und den Koffern zu beiden Seiten.
Reisenecessaires und -körbe hingen halb zu den Fenstern heraus.
Hutschachteln waren auf das Trittbrett geschnallt, und zwei große
Schrankkoffer schienen neben und auf dem Fahrer zu liegen.
Endlich kroch der Fahrer unter ihnen hervor. Er stieg vorsichtig aus,
als kletterte er einen steilen Berg hinunter, und öffnete die Tür.
Eine Schuhschachtel purzelte ihm entgegen, gefolgt von einem großen
braunen Karton, und danach kamen ein Schirm und ein Spazierstock, die
mit einer Schnur zusammengebunden waren. Schließlich fiel krachend
eine kleine Waage vom Gepäckrost, die den Fahrer beinahe erschlagen
hätte.
»Seien Sie vorsichtig! Vorsichtig!« ertönte aus dem Inneren des Taxis
eine gewaltig trompetende Stimme. »Das Gepäck ist wertvoll!«
»Und ich bin auch wertvoll!« erwiderte der Fahrer; er sammelte seine
Gebeine und rieb sich den Knöchel. »Das scheinen Sie vergessen zu
haben.«
»Machen Sie Platz, machen Sie Platz! Ich komme 'raus!« ertönte die
mächtige Stimme wieder.
Und gleich darauf erschien auf dem Trittbrett des Taxis der mächtigste
Fuß, den die Kinder je gesehen hatten. Ihm folgte der beachtliche Rest
von Miß Andrew.
Ein weiter Mantel mit Pelzkragen war um ihren Körper geschlungen,
ein Männerfilzhut thronte auf ihrem Kopf, und v on diesem Hut herab
wehte ein langer, grauer Schleier.
Die Kinder krochen vorsichtig an der Hecke entlang und staunten die
ungeheure Gestalt an, samt ihrer Hakennase, dem grimmigen Mund und
den kleinen Augen, die wütend durch eine Brille stachen. Während sie
mit dem Fahrer stritt, machte ihre Stimme die Kinder fast taub.
»Vier Shilling und drei Pence!« sagte sie. »Unverschämt! Für das
Geld kann ich halbwegs rund um die We l t fahren. Das bezahle ich nicht!
Ich werde Sie bei der Polizei anzeigen.«
Der Fahrer zuckte die Achseln. »Es ist der Tarif«, sagte er ruhig.
»Wenn Sie lesen können, es steht auf dem Taxameter. Sie können nicht
umsonst Taxi fahren, nicht mi t dieser Masse Gepäck.«
Miß Andrew knurrte, und ihre Hand tief in ihre große Tasche tauchend,
brachte sie eine sehr kleine Börse zum Vorschein. Sie überreichte
dem Fahrer eine Münze. Der Fahrer blickte darauf nieder und drehte sie
in der Hand um und um, als hielte er sie für eine Kuriosität. Dann lachte
er grob.
»Soll wohl das Trinkgeld sein?« bemerkte er sarkastisch.
»Gewiß nicht. Es ist Ihr Fahrgeld. Ich bin nicht für Trinkgeld«, sagte
Miß Andrew.
»Sie nicht!« sagte der Fahrer und starrte sie an.
Und insgeheim dachte er: >Genug Gepäck, um den halben Park zu füllen,
und sie ist nicht für Trinkgelder — dieser Geizkragen.<
Aber das ließ er Mi ß Andrew nicht hören. Die Kinder waren am Tor
angelangt, und sie drehte sich um, um sie zu begrüßen; ihr Fuß dröhnte
auf dem Pflaster, und der Schleier wehte hinter ihr her.
»Na?« sagte sie brummig. »Ihr wißt wohl nicht, wer ich bin?«
»O doch!« sagte Michael. Er sprach in seinem freundlichsten Ton,
denn er freute sich sehr, Mi ß Andrew kennenzulernen. »Sie sind der
>Heilige Schreckenjunge Dame< nannte? Mich!?« Sie schnaubte verächtlich.
Die Schultern des Vogels zuckten, als lachte er.
Mary Poppins beugte sich nieder.
»Was machst du denn da, Mary Poppins?« rief Michael, unfähig, sich
noch länger zu beherrschen. »Was ist das für ein Vogel?«
»Eine Lerche!« sagte Mary Poppins kurz und drehte den Riegel an der
kleinen Tür. »Zum erstenmal seht ihr hier eine Lerche im Käfig — und
zum letztenmal!« Bei diesen Worten flog die Tür des Käfigs auf. Flatternd
entwischte die Lerche und ließ sich mi t einem schrillen Schrei auf
Mary Poppins' Schulter nieder.
»Hmpf!« sagte sie und wandte den Kopf. »So ist's doch besser, sollte
ich meinen.«
»I schirr-rupp!« bestätigte die Lerche mi t einem Nicken.
»Na, dann mach, daß du wegkommst«, warnte Mary Poppins. »Sie
wird gleich wieder da sein.«
Daraufhin ließ die Lerche ihrer Kehle eine Flut perlender Töne entströmen,
winkte ihr mi t den Flügeln zu und verbeugte sich wieder und
immer wieder.
»Aber, aber«, brummte Mary Poppins. »Danke mir nicht. Es hat mir
Spaß gemacht, das zu tun. Ich kann keine Lerche im Käfig sehen! Außerdem
hast du ja gehört, wi e sie mich genannt hat!«
Die Lerche warf den Kopf zurück und flatterte mi t den Flügeln. Sie
schien herzlich zu lachen. Dann legte sie den Kopf auf die Seite und
lauschte.
»Ach, das hab ich ganz vergessen!« ertönte eine Trompetenstimme
von oben. »Ich habe Caruso draußen gelassen. Au f diesen schmutzigen
Stufen. Ich muß ihn holen.«
Miß Andrews schwerer Tritt dröhnte auf der Treppe.
»Was?« rief sie zurück, wohl als Antwort auf eine Frage von Mistreß
Banks. »Ach, es ist meine Lerche, meine Lerche Caruso! Ich nenne sie so,
weil sie früher ein so wunderbarer Sänger war. Wa s ? Nein, sie singt
jetzt nicht mehr, seit ich sie auf dem Feld gefangen und in einen Käfig
gesteckt habe. Ich weiß gar nicht, warum.«
Die Stimme näherte sich und wurde im Näherkommen immer lauter.
»Bestimmt nicht!« rief sie zu Mistreß Banks zurück. »Ich hole sie
selbst. Ich vertraue sie diesen frechen Kindern nicht an. Ihr Geländer
müßte frisch poliert werden. Das sollte gleich geschehen.«
Trapp — trapp. Trapp — trapp. Feste Schritte dröhnten durch die Diele.
»Da kommt sie!« zischte Mary Poppins. »Fort mi t dir!« Sie schüttelte
ein wenig die Schulter.
»Schnell!« rief Michael angstvoll.
»Beeil dich!« drängte Jane.
Mi t einer raschen Bewegung duckte die Lerche den Kopf und zupfte
sich mit dem Schnabel eine Schwungfeder aus.
»Tschirr — tschirr — tschirr — irrup!« zwitscherte sie und steckte die
Feder hinter das Band von Ma r y Poppins' Hut. Dann breitete sie die
Flügel aus und schwang sich in die Luft.
Im gleichen Augenblick erschien Miß Andrews in der Tür.
»Was?« rief sie, als sie Jane und Michael und die Zwillinge erblickte.
»Noch nicht im Bett? Da s geht nicht! Alle gut erzogenen K i n d e r . . .«, sie
blickte Mary Poppins vorwurfsvoll an, »sollten um fünf Uhr im Bett
sein. Ich spreche bestimmt mit eurem Vater darüber.« Sie blickte sich um.
»Nun, laßt mal sehen. Wo habe ich meine . . .« Sie brach plötzlich ab.
Der aufgedeckte Käfig mi t seiner offenen Tür stand vor ihren Füßen. Sie
starrte hinunter, als könnte sie ihren Augen nicht trauen.
»Wie? Wann? Wo ? Was? Wer?« stammelte sie. Dann fand sie ihre
volle Stimme wieder. »Wer hat die Decke abgenommen?« donnerte sie.
Die Kinder zitterten bei diesem Getöse. »Wer hat den Käfig geöffnet?«
Keine Antwort.
»Wo ist meine Lerche?«
Immer noch blieb alles stumm; Miß Andrew starrte ein Kind nach
dem andern an. Schließlich fiel ihr anklagender Blick auf Ma r y Poppins.
»Sie waren es!« brüllte sie und deutete mi t ihrem großen Finger auf
sie. »Das sehe ich Ihnen an der Nasenspitze an! Wa s unterstehen Sie
sich! Ich werde dafür sorgen, daß Sie noch heute nacht das Haus verlassen
— mit Sack und Pack! Sie vorlaute, freche, unwürdige . . .«
»Tschirp — irrup!«
Aus der Luft kam ein kleiner Lachtriller. Mi ß Andrew blickte hoch.
Die Lerche wiegte sich auf leichten Schwingen, dicht über den Sonnenblumen.
»Ach, Caruso — da bist du ja!« rief Mi ß Andrew. »Na, komm schon!
Laß mich nicht warten. Komm zurück in deinen hübschen, sauberen Käfig,
Caruso, und laß mich das Türchen schließen!«
Aber die Lerche blieb in der Luft hängen und ließ ihre Lachtriller steigen;
sie warf den Kopf zurück und klatschte mi t den Flügeln.
Miß Andrew bückte sich, ergriff den Käfig und hielt ihn hoch über
ihren Kopf.
»Caruso — was hab ich gesagt? Sofort kommst du zurück!« befahl sie
und schwang lockend den Käfig. Aber Caruso witschte daran vorbei und
streifte Mary Poppins' Hut.
»Tschirp — irrup!« sagte er im Vorbeisausen.
»Ganz recht«, nickte Ma r y Poppins zur Antwort.
»Caruso, hast du gehört?« rief Mi ß Andrew. Aber schon klang eine
leichte Bestürzung durch ihre Stimme. Sie setzte den Käfig hin und versuchte,
die Lerche mi t den Händen zu fangen. Doch die wich aus, flatterte
an ihr vorbei und stieg mi t einem Flügelschlag höher in den Himmel. Ein
rasches Gezwitscher strömte zu Ma r y Poppins hernieder.
»Fertig!« rief sie zurück.
Und dann passierte etwas Seltsames.
Mary Poppins heftete ihre Augen auf Miß Andrew, und Miß Andrew,
v o n dem merkwürdigen, dunklen Blick plötzlich gebannt, begann zu zittern.
Sie tat einen kleinen Seufzer, stolperte unsicher vorwärts und
stürzte schließlich in ungestümer Wu t zum Käfig hin. Dann — wurde
etwa Miß Andrew kleiner oder wuchs der Käfig? Jane und Michael hätten
es nicht zu sagen vermocht. Sie wußten nur eines genau, daß sich
nämlich die Käfigtür mi t leisem Klicken hinter Miß Andrew schloß.
»Oh, oh, oh!« schrie sie, als die Lerche niederstieß und den Käfig am
Tragring ergriff.
»Was ist los? Wohin soll ich denn?« schrie Mi ß Andrew, als sich der
Käfig in die Luft erhob.
»Ich hab ja keinen Platz, mich zu bewegen! Ich kann kaum atmen!«
rief sie.
»Caruso konnte es auch nicht!« sagte Mary Poppins ungerührt.
Miß Andrew rüttelte an den Stäben des Käfigs.
»Macht auf! Macht auf! Laßt mich 'raus, sag ich! Laßt mich 'raus!«
»Hmpf. Schwerlich«, sagte Mary Poppins mi t leiser spöttischer
Stimme.
Weiter und weiter flog die Lerche, höher und höher stieg sie mi t fröhlichem
Zwitschern. Und der schwere Käfig mit Mi ß Andrew darin
schwankte, von der Vogelklaue herabbaumelnd, gefährlich in der Luft
hin und her.
Durch den klaren Lerchengesang hindurch hörten sie Miß Andrew
gegen die Käfigstäbe hämmern und schreien:
»Ich mi t meiner guten Erziehung! Ich, die immer recht hatte! Ich, die
sich niemals irrte. Mi r muß so etwas passieren!«
Mary Poppins stieß ein seltsames, zufriedenes kleines Lachen aus.

Die Lerche sah jetzt schon ganz winzig aus, aber immer noch stieg sie
kreisend höher und sang laut und triumphierend. Und immer noch kreisten
Mi ß Andrew und ihr Käfig schwerfällig unter ihr, rollend und
stampfend wie ein Schiff im Sturm.
»Laßt mich 'raus, sag ich! Laßt mich 'raus!« Kreischend tönte ihre
Stimme durch die Luft.
Plötzlich änderte die Lerche ihre Richtung. Ihr Gesang verstummte
einen Augenblick, als sie seitwärts abbog. Dann setzte er wieder ein,
wild und klar, als sie, den Tragring des Käfigs aus den Klauen lassend,
der Sonne zuflog.
»Weg ist sie!« sagte Mary Poppins.
»Wohin?« riefen Jane und Michael.
»Nach Hause — zu ihren Wiesen«, erwiderte sie und blickte hoch.
»Aber sie hat den Käfig fallen lassen!« sagte Michael und staunte.
Und dazu hatte er allen Grund, denn der Käfig kam jetzt herabgesaust,
taumelnd und schwankend und sich immer wieder überschlagend.
Sie konnten Miß Andrew deutlich erkennen; bald stand sie auf dem
Kopf, bald auf den Füßen, je nachdem der Käfig sich in der Luft drehte.
Tiefer, immer tiefer fiel er, schwer wie ein Stein, und schließlich landete
er mi t einem Plumps auf der obersten Treppenstufe.
Schäumend vor Wu t stieß Mi ß Andrew die Tür auf. Und als sie herauskam,
schien sie Jane und Michael ebenso groß wie zuvor und beinahe
noch schrecklicher.
Einen Augenblick stand sie da, keuchend, unfähig zu sprechen, mi t
einem Gesicht, noch röter als zuvor.
»Wie können Sie es wagen!?« flüsterte sie heiser und deutete mit
einem zitternden Finger auf Mary Poppins. Aber Jane und Michael entdeckten,
daß ihre Augen nicht mehr zornig blickten, sondern angstvoll.
»Sie — Sie!« stammelte Mi ß Andrew mit trockener Kehle. »Sie grausame,
unhöfliche, unfreundliche, verdorbene, halsstarrige Person — wie
konnten Sie nur, wie konnten Sie nur!«
Mary Poppins sah ihr fest ins Auge. Mi t halbgeschlossenen Lidern
starrte sie Mi ß Andrew eine Weile rachsüchtig an.
»Sie haben gesagt, ich verstünde es nicht, Kinder aufzuziehen«, sagte
sie leise und deutlich.
Miß Andrew fuhr zurück. »En — entschuldigen Sie«, sagte sie.
»Ich sei unverschämt, unfähig und v ö l l i g unzuverlässig«, fuhr die
ruhige, unbeugsame Stimme fort.
Miß Andrew duckte sich unter dem unverwandten Blick.
»Das war ein Irrtum. E — es tut mir leid«, stammelte sie.
»Ich sei eine >junge DameKümmertmichnicht< lernte Kummer bald kennen, Herr >Kümmertmichnicht<
wurde gehängt«, stichelte Mary Poppins und legte den
Staubwedel weg.
»Und n u n . . . « , sie blickte Jane warnend an, »geh ich zum Mittagessen.
Du mußt auf die Kleinen aufpassen, und wenn ich auch nur ein
Wort höre . . . ! « Sie beendete den Satz nicht, sondern schnaubte nur drohend
durch die Nase, als sie aus dem Zimmer ging.
John und Barbara liefen auf Jane zu und ergriffen ihre Hände. Aber
sie machte sich frei und stieß sie mürrisch zurück.
»Ich wünschte, ich wäre ein einziges Kind«, sagte sie bitter.
»Warum läufst du denn nicht davon?« schlug Michael vor. »Vielleicht
adoptiert dich einer.«
Jane blickte auf, verdutzt und überrascht.
»Aber ihr würdet mich doch vermissen!«
»Nein! Ich nicht«, sagte er finster. »Nicht, wenn du immerzu mürrisch
bist. Außerdem bekäme ich dann deinen Tuschkasten.«
»Nein, den bekämst du nicht«, sagte sie eifersüchtig. »Den würde ich
mitnehmen.«
Und nur um ihm zu zeigen, daß der Tuschkasten ihr gehörte und
nicht ihm, holte sie die Pinsel und das Malbuch hervor und legte sie vor
sich hin auf den Fußboden.
»Mal die Uhr«, empfahl Michael.
»Nein.«
»Na, dann die große Porzellanschale.«
Jane blickte hoch. Die drei kleinen Jungen ritten über das Feld auf dem
Grund der grünumrandeten Schale. Sonst hätte es ihr Spaß gemacht, sie
zu malen, aber heute hatte sie keine Lust, freundlich zu sein.
»Ich ma g nicht. Ich will malen, was ich möchte.«
Und sie begann ein Bild zu malen von sich selbst, wie sie ganz allein
über ihren Eiern brütete.
Michael und John und Barbara hockten auf dem Fußboden und sahen
zu. Jane war so von ihren Eiern in Anspruch genommen, daß sie ihre
schlechte Laune fast vergessen hätte.
Michael beugte sich vor. »Warum nicht noch eine Henne hineinzeichnen
— schau hier.«
Er deutete auf einen leeren weißen Fleck und stieß dabei mi t dem Arm
gegen John. John purzelte um, und sein Fuß streifte das Wasserglas. Es
schwappte über. Das farbenbeschmutzte Wasser ergoß sich über das Bild.
Mi t einem Aufschrei sprang Jane auf die Füße.
»Du Tolpatsch! Jetzt hast du alles verdorben!«
Und auf Michael losfahrend, bearbeitete sie ihn so wütend mi t den
Fäusten, daß auch er das Gleichgewicht verlor und über John fiel. Die
Zwillinge quietschten auf vor Schmerz und Schrecken, und über ihrem
Gebrüll erhob Michael seine jammernde Stimme. »Ich hab mi r den Kopf
zerbrochen! Wa s mach ich nur? Ich hab mir den Kopf zerbrochen!«
»Das ist mir egal, das ist mir egal!« schrie Jane. »Ihr wolltet mich ja
nicht in Ruhe lassen und habt mir mein Bild verdorben. Ich hasse euch,
ich hasse euch, ich hasse . . .!«
Die Tür flog auf.
Mary Poppins überflog die Szene mi t wütenden Augen.
»Was hab ich dir gesagt?« fragte sie Jane. Ihre Stimme war so ruhig,
daß es zum Fürchten war. »Auch nur ein Wort, hab ich ge s a g t . . . und
nun schau her, was du angestellt hast! Ich glaube nicht, daß du heute mit
zu Mi ß Lark gehst. Nicht einen Schritt wirst du heute nachmittag aus
diesem Zimmer tun, oder ich will Hans heißen.«
»Ich will gar nicht gehen. Ich bleib viel lieber hier.« Jane steckte die
Hände hinter ihren Rücken. Sie war nicht eine Spur traurig.
»Na schön.«
Mary Poppins' Stimme klang sanft, hatte aber einen höchst bedrohlichen
Unterton.
Jane sah zu, wie sie die anderen für die Einladung anzog. Al s sie fertig
waren, nahm Mary Poppins ihren besten Hut aus einer braunen
Papiertüte und setzte ihn flott etwas schräg auf den Kopf. Sie schlang die
Kette mit dem goldenen Medaillon um den Hals und darüber den rot und
weiß karierten Schal, den Mistreß Banks ihr geschenkt hatte. An einem
Ende wa r ein weißes Monogramm eingestickt, ein großes >M. P.<, und
Mary Poppins lächelte sich im Spiegel beifällig zu, als sie das Monogramm
im Mantel verschwinden ließ.
Dann holte sie ihren Schirm mi t der Papageienkopfkrücke aus dem
Schrank und eilte mi t den Kleinen die Treppe hinunter.
»Jetzt hast du ja Zeit genug zum Nachdenken!« bemerkte sie herausfordernd
und schloß mi t verächtlichem Schnauben die Tür hinter sich.
Eine ganze Weile saß Jane und starrte vor sich hin. Sie versuchte, an
ihre sieben Eier zu denken. Aber irgendwie interessierten sie die plötzlich
gar nicht mehr. »Was sie wohl jetzt bei Mi ß Lark machen?« fragte sie
sich. Vielleicht spielten sie mi t Mi ß Larks Hunden, oder sie hörten zu,
wie Miß Lark ihnen erzählte, daß Andry einen großartigen Stammbaum
habe, wohingegen Willibald zur Hälfte ein Airedale sei und nur zur
andern Hälfte ein Jagdhund! Von beiden hätte er jeweils das schlechtere
Teil abbekommen. Und schließlich würde allen, selbst den Hunden, Schokoladenkekse
und Nußtörtchen zum Tee gereicht werden.
Der Gedanke an das, was ihr alles entging, rumorte in ihr. Al s sie sich
eingestand, daß es im Grunde ihre eigene Schuld war, fühlte sie sich verbiesterter
denn je.
Ticktack! Ticktack! machte die Uhr laut.
»Ach, sei still!« schrie Jane wütend, hob ihren Tuschkasten auf und
schleuderte ihn quer durchs Zimmer.
Er krachte gegen das Uhrglas und schlug aufblitzend nieder auf die
große Porzellanschale.
Krrrrrrack! Die Schale rollte seitwärts gegen die Uhr.
Oh ! Oh ! Wa s hatte sie da angerichtet?
Jane kniff die Augen zu und wagte nicht hinzublicken.
»Das hat verdammt weh getan — muß ich sagen!«
Eine klare, vorwurfsvolle Stimme tönte durch den Raum.
Jane fuhr hoch und riß die Augen auf.
»Jane!« sagte die Stimme. »Das war mein Knie!«
Sie wandte rasch den Kopf. Es war niemand im Zimmer.
Sie rannte zur Tür und öffnete sie. Auch da niemand!
»Hier, Dummerchen!« sagte die Stimme wieder. »Hier oben!«
Sie blickte zum Kaminsims hoch. Neben der Uhr lag die Porzellanschale;
mittendurch lief ein großer Sprung, und zu ihrer Überraschung
entdeckte Jane, daß einer der gemalten Jungen die Zügel hatte fallen lassen
und sich mi t beiden Händen das Knie hielt. Die beiden anderen
hatten sich umgewandt und betrachteten ihn mitleidig.
»Aber . . .«, begann Jane, halb zu sich selbst und halb zu der unbekannten
Stimme. »Das verstehe ich nicht.« Der Junge auf der Schale hob
den Kopf und lächelte ihr zu.
»Nein? Wahrscheinlich nicht. Ich hab schon gemerkt, daß ihr sehr oft
die einfachsten Dinge nicht versteht — oder?«
Er drehte sich lachend zu seinen Brüdern um.
»Nein«, sagte der eine, »nicht einmal, wie man die Zwillinge ruhig
hält!«
»Und auch nicht, wie man Vogeleier richtig zeichnet — sie waren alle
ganz krakelig«, sagte der andere.
»Woher weißt du das mit den Zwillingen — und den Eiern?« fragte
Jane errötend.
»Du meine Güte«, sagte der erste Junge, »du glaubst doch nicht, daß
wir nicht alles wüßten, wa s in diesem Zimmer hier vorgeht. Wo wir euch
doch die ganze Zeit beobachten können! Wi r können allerdings nicht ins
Kinderschlafzimmer hineinsehen und auch nicht ins Badezimmer. Welche
Farbe haben die Kacheln?«
»Rosa«, sagte Jane.
»Bei uns sind sie blau und weiß. Möchtest du es sehen?«
Jane zögerte. Sie wußte nicht recht, was sie antworten sollte.
»Komm doch! William und Everard sollen deine Pferdchen sein, wenn
du möchtest, und ich werde die Peitsche halten und nebenher laufen. Ich
heiße Valentin, falls du es nicht wissen solltest. Wi r sind Drillinge. Und
natürlich ist auch Christine noch da.«
»Wo ist Christine?« Jane suchte die Schale mi t dem Blick ab. Aber sie
sah nur die grüne Wiese und ein kleines Erlengehölz, und außerdem
Valentin, William und Everard, die beieinander standen.
»Komm mit und sieh!« redete Valentin ihr zu und streckte die Hand
aus. »Warum sollen die andern allen Spaß haben? Du kommst mit uns —
in die Schale.«
Das gab den Ausschlag. Sie wollte es Michael und den Zwillingen
schon zeigen. Sie wollte sie eifersüchtig machen, damit sie bereuten,
daß sie sie so schlecht behandelt hatten.
»Schön«, sagte sie und streckte die Hand aus. »Ich komme!«
Valentins Hand schloß sich um ihr Handgelenk und zog sie zu der
Schale hin. Und plötzlich stand sie nicht länger in dem kühlen Kinderzimmer,
sondern auf einer weiten, besonnten Wiese, und statt des zerschlissenen
Teppichs dehnte sich ein üppiger grüner, mi t Gänseblümchen
durchsetzter Rasen unter ihren Füßen.
»Hurra!« riefen Valentin, William und Everard und tanzten um sie
herum. Sie bemerkte, daß Valentin hinkte.
»Oh«, sagte Jane. »Ich vergaß! Dein Knie!«
Er lächelte sie an. »Macht nichts. Schuld daran ist der Sprung. Ich
weiß, du wolltest mir nicht weh tun!«
Jane zog ihr Taschentuch und band es ihm ums Knie.
»Das tut gut!« sagte er höflich und legte die Zügel in ihre Hand.
William und Everard warfen die Köpfe zurück und wieherten — dann
stoben sie über die Wiese, Jane feuerte sie mi t den Zügeln an.
Neben ihr, einmal schwer, einmal leicht auftretend wegen seines
Knies, rannte Valentin. Und im Laufen sang er:
»Mein Herz, du bist in meinem Strauß
Die schönste Blüte stets für mich;
Ich nehm dich froh an meine Brust,
Denn sieh, mein Herz, ich liebe dich!«
William und Everard fielen mi t ein:
»Denn sieh, mein Herz, ich liebe dich!«
Jane fand das Lied ein wenig altmodisch, aber schließlich war alles an
den Drillingen ein wenig altmodisch — das lange Haar, ihre merkwürdigen
Anzüge und die höfliche Ar t , in der sie sprachen.
»Es ist merkwürdig«, sagte sie zu sich selbst. Aber sie fand es hübscher
hier als bei Mi ß Lark und war sicher, daß Michael sie beneiden
würde, wenn sie ihm alles erzählte.
Vorwärts galoppierten die Pferde, zogen Jane hinter sich her und führten
sie immer weiter vom Kinderzimmer fort.
Schließlich hielt sie keuchend die Zügel an und blickte auf die Spuren
zurück, die ihre Füße im Gras hinterlassen hatten. Ganz hinten, am
anderen Ende der Wiese, konnte sie den Außenrand der Schale sehen. Er
schien schmal und sehr wei t weg. Eine innere Stimme mahnte sie, daß es
Zeit sei, umzukehren.

»Ich mu ß heim«, sagte sie und ließ die Zügel fallen.
»Ach, nein, nein!« riefen die Drillinge und umringten sie eng.
Und plötzlich erweckte etwas in ihren Stimmen ihr Unbehagen.
»Sie werden mich zu Hause vermissen. Ich fürchte, ich muß gehen.«
»Es ist noch früh«, protestierte Valentin. »Sie sitzen noch bei Miß
Lark. Komm mit. Ich zeige dir meinen Tuschkasten.«
Da s lockte Jane. »Ist Chinesisch-Weiß dabei?« erkundigte sie sich,
denn gerade das fehlte in ihrem Kasten.
»Ja, in einer silbernen Tube. Komm!«
Wider ihren Willen ließ Jane sich von ihm weiterziehen. Sie wollte
nur einen Blick auf seinen Tuschkasten werfen und dann gleich heimeilen.
Sie wollte nicht einmal fragen, ob sie ihn einmal probieren dürfte.
»Aber wo ist denn euer Haus? Es ist nicht in der Schale!«
»Natürlich ist es hier! Aber du kannst es nicht sehen, wei l es hinter
dem Gehölz steckt. Komm weiter!«
Sie zogen sie nun unter die dunklen Erlenzweige. Das tote Laub knisterte
unter ihren Füßen, und ab und zu schwang eine Taube sich mi t
lautem Flügelschlagen von einem As t auf den andern. William zeigte
Jane ein Rotkehlchennest, unter Zweigen versteckt, und Everard brach
eine Blattranke ab und wand sie ihr um den Kopf. Aber trotz aller
Freundlichkeit war Jane scheu und nervös und fühlte sich sehr erleichtert,
als sie den Ausgang des Wäldchens erreichten.
»Hier ist es!« sagte Valentin und winkte.
Und vor sich sah sie, hoch aufragend, ein mächtiges Steinhaus, von
Efeu umrankt. Es war älter als alle Häuser, die sie bisher gesehen, und
ihr war, als beugte es sich ihr drohend entgegen. Zu beiden Seiten der
Treppe duckte sich je ein steinerner Löwe, als wollte er sie jeden Augenblick
anspringen.
Jane schauderte, als der Schatten des Hauses über sie fiel.
»Ich kann nicht lange bleiben . . .«, sagte sie unbehaglich. »Es wird
spät.«
»Nur fünf Minuten!« bat Valentin und zog sie in die Halle.
Hohl hallten ihre Schritte auf dem steinernen Fußboden wider. Nichts
deutete auf das Vorhandensein eines menschlichen Wesens. Von ihr und
den Drillingen abgesehen, schien das Haus verlassen zu sein. Ein kalter
Wind strich pfeifend die Gänge entlang.
»Christine! Christine!« rief Valentin und drängte Jane die Treppe hinauf.
»Sie ist da!« Sein Ruf pflanzte sich durchs ganze Haus fort, und jede
Mauer schien ihn drohend zurückzuwerfen:
»SIE IST DA!«
Eilige Schritte ertönten, und eine Tür flog auf. Ein kleines Mädchen,
nur wenig größer als die Zwillinge und mit einem altmodischen, geblümten
Kleid angetan, stürzte herein und warf sich auf Jane.
»Endlich! Endlich!« schrie sie triumphierend. »Eine Ewigkeit schon
lauern die Jungen dir auf! Aber sie haben dich bisher nicht erwischt —
du hast immer Glück gehabt!«
»Nicht erwischt?« sagte Jane. »Das verstehe ich nicht.«
Sie begann sich zu fürchten und wünschte, sie hätte sich von Valentin
nicht in die Schale hineinlocken lassen.
»Urgroßvater wird dir's erklären«, sagte Christine mi t seltsamem
Lachen. Sie zog Jane über den Treppenabsatz und zu einer Tür hinein.
»He! He ! He! Wa s ist denn das?« fragte eine dünne, krächzende
Stimme.
Jane fuhr zurück und drängte sich an Christine. Denn am anderen
Ende des Zimmers saß auf einem Sessel neben dem Kamin eine Gestalt,
die sie mi t Schrecken erfüllte. Der Widerschein des Feuers zuckte über
einen sehr alten Mann, so alt, daß er eher wie ein Schatten aussah als
wie ein menschliches Wesen. Um seinen dünnen Mund hing ein schütterer
grauer Bart, und obwohl er ein Hauskäppchen trug, konnte Jane
doch sehen, daß er so kahl war wie ein Ei. Gekleidet war er in einen langen,
altvaterischen Morgenrock aus verschossener Seide, und an seinen
mageren Füßen schlappte ein Paar gestickter Pantoffeln.
»So!« sagte die schattenhafte Gestalt und nahm eine lange, geschwungene
Pfeife aus dem Mund. »Jane ist endlich da.«
Er stand auf und trat auf sie zu; sein Lächeln flößte Furcht ein, seine
Augen lagen tief im Kopf, aber sie leuchteten in einem hellen, stählernen
Feuer.
»Ich hoffe, du hast eine gute Reise gehabt, mein Kind!« krächzte er.
Und Jane mi t einer knochigen Hand an sich ziehend, küßte er sie auf die
Backe. Bei der Berührung seines grauen Barts fuhr sie mi t einem Aufschrei
zurück.
»He! He ! He!« Er lachte ein meckerndes, furchteinflößendes Lachen.
»Sie kam mi t den Jungen durchs Erlengehölz, Urgroßvater«, sagte
Christine.
»Aha! Und wie haben sie sie erwischt?«
»Sie war bockig, wei l es ihr nicht paßte, die Älteste zu sein. Deshalb
warf sie mi t ihrem Tuschkasten nach der Schale und verletzte Valentin
am Knie.«
»So, so!« flötete die schreckliche, alte Stimme. »Das nennt man Temperament,
wie? Na j a . . . ! « Er lachte dünn. »Dafür wirst du jetzt die
Jüngste sein, mein Kind. Meine jüngste Urenkelin. Aber Temperamentsausbrüche
gestatte ich hier nicht! He ! He ! He! O nein, Kindchen. Na,
komm schon her und setz dich. Möchtest du Tee oder Kirschsaft?«
»Nein, nein!« brach es aus Jane heraus. »Ich fürchte, hier ist ein Irrtum
geschehen. Ich muß jetzt nach Hause. Ich wohne Kirschbaumweg
Nummer siebzehn.«
»Das wa r einmal«, erklärte Valentin. »Jetzt wohnst du hier.«
»Aber du verstehst mich nicht!« sagte Jane verzweifelt. »Ich wi l l hier
nicht wohnen. Ich möchte nach Hause.«
»Unsinn!« krächzte der Urgroßvater. »Nummer siebzehn ist ein
schreckliches Haus, billig und stickig und modern. Außerdem bist du
dort nicht einmal glücklich. He ! He ! He ! Ich weiß, was es heißt, die Älteste
zu sein — nur Arbeit und kein Vergnügen. He! He! Aber hier . . . « —
er fuhr mi t seiner Pfeife hin und her —, »hier bist du das Nesthäkchen,
das Goldkind, der Augapfel, und brauchst nie wieder nach Hause zurück!«
»Nie wieder!« wiederholten William und Everard und tanzten um sie
herum.
»Aber ich muß doch nach Hause. Ich will!« Jane weinte, die Tränen
stürzten ihr aus den Augen.
Der Urgroßvater lächelte sein schreckliches, zahnloses Lächeln.
»Bildest du dir etwa ein, wi r ließen dich gehen?« erkundigte er sich
mi t flammenden Augen. »Du hast unsere Schale zerbrochen. Nun mußt
du die Folgen tragen. Christine, Valentin, William und Everard wünschen
dich als jüngere Schwester. Und ich wünsche dich als jüngste Urenkelin.
Außerdem bist du uns etwas schuldig. Du hast Valentins Knie verletzt.«
»Ich will's an ihm gutmachen. Ich gebe ihm meinen Tuschkasten.«
»Er hat schon einen.«
»Meinen Reifen.«
»Er ist übers Reifenspielen hinaus.«
»Ja, dann . . .«, stammelte Jane, »dann heirate ich ihn, wenn ich groß
bin.«
Der Urgroßvater wieherte vor Lachen.
Jane wandte sich bittend an Valentin. Der schüttelte den Kopf.
»Ich fürchte, dafür ist es zu spät«, sagte er traurig. »Ich bin schon
lange erwachsen.«
»Aber wieso, aber warum . . . ach, ich versteh das alles nicht. Wo bin
ich denn?« schrie Jane, erschrocken um sich blickend.
»Weit fort von zu Hause, mein Kind, wei t fort von zu Haus«, krächzte
der Urgroßvater. »Du bist in die Vergangenheit zurückversetzt — in die
Zeit vor sechzig Jahren, als Christine und die Jungen noch klein waren.«
Durch ihre Tränen hindurch sah Jane, wie seine alten Augen vor Stolz
leuchteten.
»Aber wie komme ich denn da nach Hause?« flüsterte sie.
»Gar nicht. Du mußt hier bleiben. Du kannst sonst nirgendwohin. Vergiß
nicht, du bist in die Vergangenheit zurückversetzt! Die Zwillinge
und Michael, selbst dein Vater und deine Mutter sind noch gar nicht geboren,
auch Nummer siebzehn ist noch nicht gebaut. Du kannst nicht
nach Hause!«
»Nein! Nein!« schrie Jane. »Das ist nicht wahr! Das ist unmöglich!«
Das Herz pochte ihr in der Brust. Niemals mehr Michael sehen, niemals
mehr die Zwillinge, weder Vater noch Mutter noch Mary Poppins!
Und plötzlich begann sie zu rufen, mit lauter Stimme, so daß es in den
steinernen Gängen widerhallte:
»Mary Poppins! Es tut mir leid, daß ich so bockig war! Oh, Mary Poppins,
hilf mir, hilf mir!«
»Schnell! Haltet sie fest! Umringt sie!«
Sie hörte den scharfen Befehl des Urgroßvaters. Sie fühlte, wie die
vier Kinder sich um sie drängten. Fest schloß sie die Augen.
»Mary Poppins!« schrie sie noch einmal. »Mary Poppins!«
Eine Hand ergriff die ihre und entriß sie den umklammernden Armen
von Christine, Valentin, William und Everard.
»He! He ! He!«
Das meckernde Gelächter des Urgroßvaters schallte durch den Raum.
Der Griff um ihre Hand wurde fester, und sie fühlte sich fortgezogen.
Aus Angst vor den furchteinflößenden Augen wagte sie die ihren nicht
aufzuschlagen; sie wehrte sich nur heftig gegen die Hand, die sie fortzog.
»He! He ! He!« Abermals ertönte das Gelächter, und die Hand zerrte
sie weiter, die steinernen Treppen hinab und über die widerhallenden
Korridore. Jetzt hatte sie keine Hoffnung mehr. Hinter ihr verstummten
die Stimmen Christines und der Drillinge. Von dieser Seite war keine
Hilfe mehr zu erwarten. Verzweifelt stolperte sie hinter den fliehenden
Fußtritten her und fühlte, da ihre Augen immer noch geschlossen waren,
dunkle Schatten über dem Kopf und feuchte Erde unter ihren Füßen.
Wa s geschah mi t ihr? Wohin, ach wohin wurde sie geschleppt? Wär e
sie doch bloß nicht so bockig gewesen!
Die starke Hand zog sie vorwärts, und nach einer Weile spürte sie
warmes Sonnenlicht auf ihrem Gesicht; während sie weitergezerrt
wurde, schnitt scharfes Gras ihr in die Beine. Dann plötzlich legten sich
zwei starke Arme wie Eisenbänder um ihren Leib, hoben sie auf und
schwangen sie hoch in die Luft.
»Hilfe! Hilfe!« schrie sie; wie wahnsinnig drehte und wand sie sich in
den fremden Armen. Sie wollte nicht ohne Kampf nachgeben, sie wollte
um sich schlagen, immer wieder um sich schlagen . . .
»Ich wäre dir dankbar«, raunte ihr eine bekannte Stimme ins Ohr,
»wenn du dich daran erinnern wolltest, daß das mein bester Rock ist, der
den Sommer über halten muß!«
Jane öffnete die Augen. Zwe i grimmige blaue Augen blickten sie
unverwandt an.
Die Arme, die sie so eng umschlangen, waren Ma r y Poppins' Arme,
und die Beine, gegen die sie so wütend trat, waren Mary Poppins' Beine.
»Ach!« stammelte sie. »Du bist das! Ich dachte, du hättest mich nicht
gehört, Mary Poppins. Ich dachte, die würden mich für immer dabehalten.
Ich dachte . . .«
»Manche Leute«, bemerkte Mary Poppins und ließ sie sanft nieder,
»denken viel zuviel. Das ist mal sicher. Wisch dir das Gesicht ab, bitte!«
Sie drückte Jane ihr blaues Taschentuch in die Hand und begann, das
Kinderzimmer für die Nacht aufzuräumen.
Jane beobachtete sie, während sie ihr tränenüberströmtes Gesicht mit
dem großen blauen Taschentuch trocknete. Sie blickte sich in dem wohlbekannten
Zimmer um. Da war der zerschlissene Teppich, da der Spielzeugschrank
und da Mary Poppins' Armstuhl. Beim Anblick dieser
Dinge fühlte sie sich sicher, warm und getröstet. Sie horchte auf die gewohnten
Geräusche, mi t denen Mary Poppins ihre Arbeit tat, und ihr
Entsetzen legte sich. Eine Welle des Glücks überflutete sie.
»Das war ich doch gar nicht, die so bockig war!« sagte sie erstaunt zu
sich selbst. »Das muß jemand anderer gewesen sein.«
Mary Poppins ging zu einer Schublade und nahm saubere Nachthemden
für die Zwillinge heraus.
Jane lief zu ihr hin.
»Darf ich sie anwärmen, Mary Poppins?«
Mary Poppins zog die Luft durch die Nase.
»Mach dir keine Umstände, schönen Dank. Du bist sicherlich viel zu
beschäftigt! Michael wird mir helfen, wenn er nach oben kommt.«
Jane wurde rot.
»Bitte, laß mich«, sagte sie. »Ich helfe dir gern. Außerdem bin ich die
Älteste.«
Mary Poppins stemmte die Arme in die Hüften und blickte Jane einen
Augenblick nachdenklich an.
»Hmpf!« sagte sie schließlich. »Aber verbrenn sie nicht! Ich hab so
schon genug zu flicken.«
Und sie überließ Jane die Nachthemden.
»Aber das ist doch alles nicht wahr!« höhnte Michael, als er ein
wenig später von Janes Abenteuer erfuhr. »Du bist doch viel zu groß für
die Schale.«
Sie überlegte kurz. Irgendwie schien die Geschichte, die sie da erzählt
hatte, ihr selbst recht unwahrscheinlich. »Vielleicht hast du recht«, gab
sie zu. »Aber vorhin kam mir alles ganz wirklich vor.«
»Ich nehme an, du hast es dir nur ausgedacht. Du denkst dir ja immer
alles mögliche aus.« Er fühlte sich etwas überlegen, denn er selbst dachte
überhaupt nicht.
»Ihr zwei mi t eurer Denkerei!« sagte Mar y Poppins streng und
drängte sie beiseite, um die Zwillinge energisch in ihre Bettchen zu stekken.
»Und nun«, sagte sie bissig, als John und Barbara sicher verstaut
waren, »hab ich vielleicht mal einen Augenblick Zeit für mich selbst.«
Sie zog die Nadeln aus ihrem Hut und steckte ihn zurück in seine
braune Papiertüte. Sie öffnete die Kette des Medaillons und legte es sorgsam
in eine Schublade. Dann schüttelte sie ihren Mantel aus und hängte
ihn an seinen Haken hinter der Tür.
»Ei, wo ist denn dein neuer Schal?« fragte Jane. »Hast du ihn etwa
verloren?«
»Das ist nicht möglich«, sagte Michael. »Sie hatte ihn noch um, als sie
nach Hause kam. Ich sah ihn.«
Mary Poppins drehte sich zu ihm um.
»Seid so gut und kümmert euch um eure eigenen Angelegenheiten«,
sagte sie patzig, »um meine kümmere ich mich schon selbst!«
»Ich wollte doch nur helfen . . .«, begann Jane.
»Ich kann mir selbst helfen, besten Dank!« sagte Mary Poppins und
schnupfte auf.
Jane wandte sich Michael zu, um einen Blick mi t ihm zu wechseln.
Aber diesmal merkte er nichts davon. Er starrte nach dem Kaminsims, als
traute er seinen Augen nicht.
»Was ist, Michael?«
»Du hast es dir doch nicht ausgedacht!« flüsterte er und deutete mi t
dem Finger.
Jane blickte zum Kaminsims hoch. Dor t lag die große Porzellanschale
mit dem Sprung, der mittendurch lief. Da waren die grasige Wiese und
das Erlengehölz. Und da waren drei kleine Jungen, die Pferdchen spielten;
zwei liefen voraus, und einer rannte mi t der Peitsche hinterher.
Aber — um das Bein des Kutschers wa r ein kleines weißes Taschentuch
geknüpft, und auf dem Gras ringelte sich, als hätte ihn jemand beim
Laufen verloren, ein rot und weiß karierter Schal. An seinem einen Ende
war ein großes Monogramm eingestickt; es trug die Initialen M. P.
»Da hat sie ihn also verloren!« sagte Michael und nickte weise mit
dem Kopf. »Sollen wi r ihr sagen, daß wi r ihn gefunden haben?«
Jane blickte um sich. Ma r y Poppins knöpfte ihre Schürze zu, mi t einem
Ausdruck, als wäre sie von der ganzen Welt beleidigt worden.
»Lieber nicht«, sagte Jane leise. »Ich nehme an, sie weiß es.«
Eine kleine Weile blieb sie vor dem Kamin stehen und betrachtete die
zersprungene Schale, das geknotete Taschentuch und den Schal.
Dann rannte sie mi t jähem Entschluß durchs Zimmer und stürzte sich
auf die Gestalt mi t der weißgestärkten Schürze.
»Ach«, rief sie, »ach, Ma r y Poppins, ich will nie wieder unartig sein.«
Ein leises Lächeln kräuselte Mary Poppins' Mundwinkel, während sie
die Falten ihrer Schürze glattstrich.
»Hmpf«, war alles, wa s sie sagte.

4. Kapitel
Kopfüber — kopfunter
»Bleibt, bitte, dicht hinter mir«, sagte Ma r y Poppins; sie stieg aus
dem Autobus und spannte ihren Schirm auf, denn es regnete furchtbar.
Jane und Michael kletterten hinter ihr her.
»Wenn ich dicht bei dir bleibe, rinnen mir die Tropfen von deinem
Regenschirm in den Nacken«, beschwerte sich Michael.
»Dann mach mir keinen Vorwurf, wenn du mich verlierst und einen
Schutzmann fragen mußt«, fuhr Mary Poppins ihn an, während sie sorgfältig
eine Pfütze vermied.
Sie blieb vor der Drogerie an der Ecke stehen, so daß sie in den drei
riesigen Flaschen im Schaufenster ihr Spiegelbild sehen konnte. Sie sah
eine grüne Mary Poppins, eine blaue Ma r y Poppins und eine rote Mary
Poppins, alle auf einmal. Und eine jede trug eine funkelnagelneue, mit
Messingknöpfen verzierte Lederhandtasche.
Mary Poppins spiegelte sich in den drei Flaschen und lächelte wohlgefällig
und zufrieden. Ein paar Minuten verbrachte sie damit, die Handtasche
bald in die rechte, bald in die linke Hand zu nehmen, um auf
jede nur denkbare Weise festzustellen, wa s am vorteilhaftesten aussah.
Schließlich entschied sie, daß die Tasche, unter den Arm geklemmt, den
größten Eindruck machte. Deshalb ließ sie sie dort.
Jane und Michael standen neben ihr und wagten nicht, etwas zu
sagen, doch warfen sie sich heimliche Blicke zu und seufzten innerlich.
Von zwei Zacken des Regenschirms mi t der Papageienkrücke tröpfelte
ihnen der Regen unbehaglich in den Nacken.
»Vorwärts, laßt mich nicht warten!« sagte Mary Poppins ärgerlich und
wandte sich von ihrem grünen, blauen und roten Spiegelbild ab. Jane
und Michael wechselten einen vielsagenden Blick. Jane gab Michael einen
Wink, ruhig zu sein. Sie schüttelte den Kopf und runzelte die Brauen.
Doch da war es ihm schon entfahren:
»Wir nicht. Du hast uns warten lassen . . . ! «
»Halte den Mund!«
Michael wagte nichts mehr zu sagen. Er trottete mi t Jane weiter, einer
rechts, einer links von Mary Poppins. Manchmal mußten sie laufen, um
mi t ihren langen, raschen Schritten mitzukommen. Und manchmal mußten
sie warten und traten dann von einem Fuß auf den andern, während
Mary Poppins in ein Schaufenster spähte, um sich davon zu überzeugen,
daß die Handtasche wirklich so hübsch aussah, wie sie sich's einbildete.
Es goß in Strömen, und der Regen spritzte vom Schirmdach auf Janes
und Michaels Hüte. Unterm Arm trug Jane die sorgfältig in Papier eingeschlagene
Porzellanschale. Sie brachten sie zu Ma r y Poppins' Vetter,
Mister Kuddelmuddel, dessen Beruf es war , alles mögliche zu reparieren,
wie Mary Poppins Mistreß Banks versichert hatte.
»Na«, hatte Mistreß Banks etwas zweifelnd erklärt, »ich hoffe nur, er
macht es ordentlich, denn solange sie nicht repariert ist, kann ich meiner
Großtante Karoline nicht in die Augen sehen.«
Großtante Karoline hatte Mistreß Banks die Schale geschenkt, als diese
kaum drei Jahre alt war , und alle wußten genau, daß Großtante Karoline
eine ihrer berühmten Szenen machen würde, wenn es sich herausstellte,
daß die Schale zerbrochen war.
»Die Leute in meiner Familie, Madam«, hatte Ma r y Poppins naserümpfend
erwidert, »arbeiten immer zur Zufriedenheit.« Und sie hatte so
grimmig ausgesehen, daß sich Mistreß Banks höchst unbehaglich fühlte;
sie hatte sich hinsetzen und nach einer Tasse Tee läuten müssen.
Platsch! Da stand Jane mitten in einer Pfütze.
»Paß gefälligst auf, wo du hintrittst!« fuhr Ma r y Poppins sie an; dabei
schüttelte sie ihren Schirm und sprühte die Tropfen über Jane und
Michael. »Dieser Regen kann einem ja das Herz brechen.«
»Wenn er das täte, könnte Mister Kuddelmuddel es reparieren?« erkundigte
sich Michael. Er wollte brennend gern wissen, ob Mister Kuddelmuddel
alle zerbrochenen Gegenstände reparieren könnte oder nur bestimmte.
»Könnte er das, Ma r y Poppins?«
»Noch ein Wort«, sagte Ma r y Poppins, »und es geht zurück nach
Hause!«
»Ich frag ja bloß . . . « , sagte Michael düster.
Mary Poppins stieß einen ärgerlichen Laut aus, bog elegant um die
Ecke und klopfte, nachdem sie ein altes Eisengitter geöffnet hatte, an die
Tür eines kleinen, wackligen Hauses.
»Tapp — tapp — tappity — tapp!« Der Ton des Klopfers schallte hohl
durch das Haus.
»Oje«, flüsterte Jane Michael zu, »wie schrecklich, wenn er nicht zu
Hause wäre!«
Doch im gleichen Augenblick ertönten schwere Fußtritte, die ihnen
entgegenstapften, und mi t lautem Knarren öffnete sich die Tür.
Eine rundliche, rotgesichtige Frau, die eher aussah wie zwei aufeinandergesetzte
Äpfel als wie ein menschliches Wesen, stand auf der
Schwelle. Ihr glattes Haar war oben auf dem Kopf zu einem Knoten zusammengedreht,
und ihr dünner Mund hatte einen eigensinnigen und
mürrischen Ausdruck.
»Na!« sagte sie und glotzte. »Da sind Sie ja wieder!«
Sie schien nicht besonders erfreut zu sein, Mary Poppins zu sehen.
Ebensowenig schien Mary Poppins erfreut, sie zu sehen.
»Ist Mister Kuddelmuddel da?« fragte sie, ohne auf die Bemerkung der
rundlichen Frau einzugehen.
»Hm«, sagte die Frau mi t unfreundlicher Stimme, »das ist nicht ganz
heraus. Vielleicht, oder vielleicht auch nicht. Wi e man's nimmt!«
Mary Poppins trat durch die Tür und spähte umher.
»Das ist doch sein Hut , oder nicht?« fragte sie und deutete auf einen
alten Filzhut, der an einem Haken in der Diele hing.
»Natürlich ist er's — sozusagen.« Unwillig gab die rundliche Frau die
Tatsache zu.
»Dann ist er da«, sagte Mary Poppins. »Keiner von meiner Familie
geht je ohne Hut aus. Wi r wissen zu genau, was sich gehört.«
»Alles, was ich Ihnen verraten kann, ist das, wa s er heute morgen zu
mir sagte«, erklärte die rundliche Frau. »>Miß Törtchen<, sagte er, v i e l -
leicht bin ich heute nachmittag zu Hause, vielleicht auch nicht. Ich kann's
wirklich nicht sagen.< Das hat er gesagt. Aber gehen Sie lieber hinauf
und sehen Sie selbst nach. Ich bin kein Bergsteiger.«
Die rundliche Frau blickte auf ihren rundlichen Leib nieder und schüttelte
den Kopf. Jane und Michael begriffen recht gut , daß eine Person von
ihrer Größe und ihrem Umfang nicht dauernd Mister Kuddelmuddels
enge und wacklige Treppen auf und ab klettern wollte.
Mary Poppins schnüffelte verächtlich.
»Folgt mir, bitte!« befahl sie Jane und Michael , und sie rannten hinter
ihr her die knarrenden Treppen hinauf. Miß Törtchen blieb in der Diele
stehen und verfolgte sie mit überlegenem Lächeln.
Oben auf dem Treppenabsatz klopfte Mary Poppins mit der Schirmkrücke
an die Tür. Es kam keine Antwort. Abermals klopfte sie, lauter
diesmal. Immer noch keine Antwort.
»Vetter Artur!« rief sie durchs Schlüsselloch, »Vetter Ar tur , bist du
da drin?«
»Nein, ich bin draußen!« kam von innen eine Stimme wie aus weiter
Ferne.
»Wie kann er draußen sein? Ich höre ihn doch!« flüsterte Michael
Jane zu.
»Vetter Artur!« Mary Poppins rüttelte an der Türklinke. »Ich weiß,
du bist da drin.«
»Nein, nein«, kam die weit entfernte Stimme. »Ich bin draußen, sag
ich dir. Es ist der zweite Montag!«
»Oje! — das hab ich vergessen!« sagte Mary Poppins und drückte
ärgerlich auf die Türklinke; die Tür flog auf.
Zunächst sahen Jane und Michael nur ein großes Zimmer, das, abgesehen
von einer Hobelbank am anderen Ende, völlig leer zu sein schien.
Au f dieser Bank lag ein Haufen seltsamer Dinge: Porzellanhunde ohne
Nasen, Holzpferde, denen der Schwanz fehlte, angeschlagene Teller, zerbrochene
Puppen, Messer ohne Knauf, Stühle mi t nur zwei Beinen —
kurz gesagt, ungefähr alles, was man überhaupt noch zu reparieren ver-
suchen konnte. An den Wänden entlang standen Regale, die vom Fußboden
bis zur Decke reichten, und auch sie waren vollgestopft mit zerbrochenem
Porzellan, zersprungenem Glas und kaputtem Spielzeug.
Aber nirgends war eine Menschenseele zu sehen.
»Oh«, sagte Jane enttäuscht. »Er ist also doch ausgegangen!«
Aber Mary Poppins war an das Fenster gestürzt.
»Komm sofort herein, Artur! Bei diesem Regen draußen sein, und das
mit deiner Bronchitis vom vorvorigen Winter!«
Und zu ihrer Verwunderung sahen Jane und Michael, wie sie nach
einem langen Bein griff, das über dem Fenstersims hing, und wie sie von
draußen einen langen, dünnen, traurig aussehenden Mann mi t lang herabhängendem
Schnurrbart hereinholte.
»Du solltest dich schämen«, sagte Mary Poppins barsch; während sie
mit einer Hand Mister Kuddelmuddel festhielt, schloß sie mi t der anderen
das Fenster. »Wir haben dir eine wichtige Arbeit mitgebracht, und
dabei benimmst du dich so.«
»Aber ich kann doch nichts dafür«, entschuldigte sich Mister Kuddelmuddel
und wischte seine Augen mit einem großen Taschentuch. »Ich
sagte doch gleich, daß heute der zweite Montag ist.«
»Was soll das heißen?« fragte Michael, der Mister Kuddelmuddel interessiert
anstarrte.
»Ach«, sagte Mister Kuddelmuddel und wandte sich ihm zu, um ihm
schlaff die Hand zu schütteln. »Es ist freundlich von dir, danach zu fragen.
Sehr freundlich. Ich weiß es zu schätzen, wahrhaftig.« Er hielt inne,
um sich erneut die Augen zu wischen. »Sieh mal«, fuhr er fort, »es ist
so: an jedem zweiten Montag im Monat geht bei mir alles schief.«
»Was alles?« fragte Jane vol l Mitgefühl für Mister Kuddelmuddel,
aber auch sehr neugierig.
»Na, zum Beispiel heute!« sagte Mister Kuddelmuddel. »Heute ist zufällig
der zweite Montag im Monat. Und wenn ich daheim bleiben
möchte, weil ich so viel zu tun habe, bin ich unwillkürlich draußen. Und
wenn ich gern draußen wäre, dann wäre ich drin. Das ist mal sicher.«
»Ich verstehe«, sagte Jane, obwohl sie es in Wirklichkeit nicht recht
begriff. »Deshalb also . . .?«
»Jawohl«, nickte Mister Kuddelmuddel. »Ich hörte euch die Treppe
heraufkommen und wollte so gern hierbleiben. Aber natürlich, sobald ich
mir das wünschte, da war ich auch schon draußen! Und wäre noch draußen,
wenn Mary Poppins mich nicht beim Schlafittchen gefaßt hätte.« Er
seufzte schwer.
»Natürlich ist es nicht immer so. Nur in den Stunden zwischen drei
und sechs, aber selbst das kann sehr unangenehm sein.«
»Bestimmt«, sagte Jane mitfühlend.
»Und es handelt sich nicht nur um drinnen und draußen . . . « , fuhr
Mister Kuddelmuddel unglücklich fort. »Mi t anderen Dingen ist es genauso.
Wenn ich eine Treppe hinaufsteigen möchte, laufe ich sie statt dessen
hinunter. Ich muß bloß nach rechts gehen wollen, und schon geh ich nach
links. Und ich mache mich nie auf den We g nach dem Westen, ohne daß
ich mich plötzlich im Osten wiederfände.«
Mister Kuddelmuddel schneuzte sich die Nase.
»Und das Allerschlimmste ist«, erzählte er weiter, während seine
Augen sich abermals mi t Tränen füllten, »meine ganze Natur verändert
sich. Seht mich jetzt an — ihr würdet kaum glauben, daß ich in Wirklichkeit
ein glücklicher und zufriedener Mensch bin, wie?«
Und wahrhaftig sah Mister Kuddelmuddel so melancholisch und verzweifelt
aus, daß man ihn sich unmöglich glücklich und zufrieden vorstellen
konnte.
»Aber warum? Warum nur?« fragte Michael und starrte zu ihm
empor.
Mister Kuddelmuddel schüttelte traurig den Kopf.
»Ach!« sagte er feierlich. »Ich hätte eigentlich ein Mädchen werden
sollen.«
Jane und Michael starrten erst ihn und dann sich gegenseitig an. Wa s
konnte er damit meinen?
»Seht mal«, erklärte Mister Kuddelmuddel, »meine Mutter wünschte
sich ein Mädchen, und als ich ankam, stellte sich's heraus, daß ich ein
Junge war. So ging es von Anfang an mit mir schief — v om Tage meiner
Geburt an. Und das wa r der zweite Montag im Monat.«
Wieder begann Mister Kuddelmuddel zu weinen; er schluchzte leise in
sein Taschentuch.
Jane tätschelte ihm freundlich die Hand.
Das schien ihm zu gefallen, obwohl er nicht lächelte.
»Und natürlich«, fuhr er fort, »ist es sehr hinderlich für meine Arbeit.
Seht mal dorthin!«
Er deutete auf eines der größeren Regale; dort stand eine ganze
Reihe von Herzen, verschieden in Größe und Farbe, jedes einzelne mit
einem Sprung oder angeschlagen oder völlig zerbrochen.
»Gerade die hier«, sagte Mister Kuddelmuddel, »werden möglichst
rasch gebraucht. Ihr ahnt gar nicht, wie böse die Leute werden, wenn ich
ihnen ihre Herzen nicht sofort wieder zurückschicke. Sie schlagen deswegen
mehr Lärm als um alles andere. Und ich wage es einfach nicht, sie
vor sechs Uhr anzurühren. Ich würde sie ruinieren — wie die Sachen
dort!«
Er deutete mi t einem Nicken auf ein anderes Regal. Jane und Michael
blickten hin und sahen, daß es vollgestopft war mi t Gegenständen, die
falsch repariert worden waren. Eine Porzellanschäferin war von ihrem
Porzellanschäfer getrennt worden, und ihre Arme klebten jetzt an einem

Messinglöwen, den sie umhalste; eine Matrosenpuppe, die jemand aus
ihrem Boot herausgebrochen hatte, war jetzt auf einer Porzellanplatte befestigt;
und in dem Boot befand sich, den Rüssel um den Mast geringelt
und mi t Heftpflaster festgeklebt, ein grauer Stoffelefant. Zerbrochene
Saucenschüsseln waren mit anders gemusterten Scherben zusammengekittet,
und das Bein eines Holzpferdchens bildete den Henkel eines silbernen
Taufbechers.
»Seht ihr wohl?« sagte Mister Kuddelmuddel hoffnungslos, mit einer
unbestimmten Handbewegung.
Jane und Michael nickten. Mister Kuddelmuddel tat ihnen leid.
»Aber darum geht's jetzt nicht«, mischte sich Mary Poppins ungeduldig
ein. »Sieh dir diese Schale hier an! Wi r haben sie dir zur Reparatur
mitgebracht.«
Sie nahm Jane die Schale ab, und Mister Kuddelmuddel immer noch
mi t einer Hand festhaltend, knüpfte sie mi t der anderen die Schnur auf.
»Hm«, sagte Mister Kuddelmuddel. »Aus der Königlichen Porzellanfabrik.
Ein böser Sprung. Sieht aus, als hätte jemand was draufgeworfen.
«
Jane fühlte, wie sie bei diesen Worten rot wurde.
»Immerhin«, fuhr er fort, »wenn's an einem anderen Ta g wäre,
könnte ich sie reparieren. Aber heute . . .« Er zögerte.
»Ach, Unfug! Es ist doch ganz einfach. Du brauchst nur hier und hier
und da ein bißchen zu kitten!«
Mary Poppins deutete auf den Sprung und ließ dabei Mister Kuddelmuddels
Hand fallen.
Sofort drehte er sich wie ein Rad durch die Luft.
»Oh!« schrie Mister Kuddelmuddel. »Warum hast du losgelassen? Ich
Armer, jetzt treibt es mich wieder fort!«
»Rasch, die Tür zu!« rief Mary Poppins. Jane und Michael stürzten
davon und schlossen die Tür gerade noch, bevor Mister Kuddelmuddel
sie erreichte. Er stieß heftig dagegen, prallte wieder ab und überschlug
sich mi t äußerst traurigem Blick graziös in der Luft.
Plötzlich erstarrte er in einer höchst seltsamen Stellung. Anstatt auf
die Füße zu kommen, stand er auf dem Kopf.
»Oje, oje!« sagte Mister Kuddelmuddel und strampelte mi t den
Beinen, »oje, oje!«
Aber trotzdem kam er mi t den Füßen nicht auf den Boden. Sie blieben,
wo sie waren, und schwebten sanft in der Luft.
»Na schön«, bemerkte Mister Kuddelmuddel melancholisch. »Vielleicht
sollte ich froh sein, daß es nicht noch schlimmer ist. Das hier ist bestimmt
besser, wenn auch nicht viel besser, als draußen im Regen zu
hängen, ohne einen Stuhl zum Sitzen und ohne Mantel. Nun seht ihr's«,
er blickte Jane und Michael an, »ich möchte so gern aufrecht stehen, und
deshalb — mein Pech! — steh ich auf dem Kopf. Na schön, macht auch
nichts. Ich sollte langsam daran gewöhnt sein. Hatte fünfundvierzig
Jahre Zeit dazu. Gib mir die Schale.«
Michael rannte zu Mary Poppins hin, holte die Schale und setzte sie
neben Mister Kuddelmuddels Kopf auf den Fußboden. Dabei überkam
ihn plötzlich ein seltsames Gefühl. Ihm war, als würden seine Füße vom
Fußboden weggestoßen und in die Luft gekippt.
»Oh!« schrie er. »Mir ist so merkwürdig. Wa s geschieht mi t mir?«
Denn inzwischen drehte auch er sich wie ein Rad in der Luft, flog im
Raum auf und ab und landete schließlich kopfunter neben Mister Kuddelmuddel
auf dem Fußboden.
»Nun brat mir einer 'nen Storch!« sagte Mister Kuddelmuddel überrascht
und warf Michael aus den Augenwinkeln einen Blick zu. »Ich
wußte nicht, daß es ansteckend ist. Du auch? Bei allen . . . halt, halt, sag
ich! Bleib ruhig! Du stößt mir sonst die Sachen von den Regalen, wenn
du nicht vorsichtig bist, und ich muß ersetzen, was kaputtgeht. Wa s
machst du bloß?«
Er wandte sich jetzt an Jane, deren Füße plötzlich v om Teppich weggerissen
wurden und in schwindelerregender Weise über ihrem Kopf herumzuwirbeln
begannen. Um und um drehte es sie — bald den Kopf, bald
die Füße in der Luft —, bis sie schließlich auf der anderen Seite von
Mister Kuddelmuddel wieder herunterkam und auch auf dem Kopf stand.
»Weißt du«, sagte Mister Kuddelmuddel, sie feierlich anstarrend, »das
ist aber sehr seltsam. Meines Wissens ist das noch keinem andern passiert.
Au f mein Wort, niemals! Hoffentlich nimmst du es nicht übel?«
Jane lachte, wandte ihm den Kopf zu und strampelte mi t den Beinen
in der Luft. »I bewahre, besten Dank. Ich hab mir immer schon gewünscht,
auf dem Kopf stehen zu können, und hab es bisher niemals fertiggebracht.
Es ist sehr bequem.«
»Hm«, sagte Mister Kuddelmuddel mit leichtem Zweifel. »Ich bin froh,
daß es wenigstens einem gefällt. Vo n mir kann ich das nicht behaupten.«
»Aber ich«, sagte Michael, »ich wünschte, ich könnte mein ganzes
Leben lang so bleiben. Alles sieht so vergnügt und anders aus.«
Und in der Tat , alles war anders. Von ihrer seltsamen Stellung auf
dem Fußboden aus konnten Jane und Michael sehen, daß die Gegenstände
auf der Hobelbank alle umgekehrt lagen — Porzellanhunde, zerbrochene
Puppen, Holzstühle, alles stand auf dem Kopf.
»Guck!« flüsterte Jane Michael zu. Er drehte, so weit er konnte, den
Kopf. Und da, aus einem Loch in der Bodenleiste, kam eine kleine Maus
herausgekrochen. Sie hüpfte, Purzelbaum schlagend, mitten ins Zimmer,
kippte hoch und balancierte auf der Nasenspitze zierlich vor ihnen herum.
Sie beobachteten sie eine Weile. Dann sagte Michael plötzlich:
»Guck mal aus dem Fenster, Jane!«
Sie wandte vorsichtig den Kopf, was ziemlich schwierig war, und entdeckte
zu ihrer Verblüffung, daß außerhalb des Zimmers alles ebenso
verdreht war wie drin. Draußen auf der Straße standen die Häuser kopf.
Ihre Schornsteine ruhten auf dem Pflaster, und ihre Vortreppen, aus
denen kleine Rauchwölkchen emporkräuselten, ragten in die Luft. Etwas
weiter entfernt wa r eine Kirche gekentert und balancierte, reichlich kopflastig,
auf ihrer Kirchturmspitze. Und der Regen, der bisher stets vom
Himmel herabgeströmt war, drang jetzt in einem gleichmäßigen, alles
durchnässenden Rieseln aus der Erde.
»Ach«, sagte Jane. »Wie wundervoll seltsam ist das alles! Al s wären
wi r in einer andern Welt. Wi e bin ich froh, daß wir gerade heute
kamen.«
»Na«, sagte Mister Kuddelmuddel traurig, »du bist sehr freundlich,
das muß ich sagen. Du verstehst es, Komplimente zu machen. Und nun,
was machen wi r mi t der Schale?«
Er streckte die Hand aus, um sie aufzunehmen, aber im gleichen
Augenblick kippte die Schale um und lag auf der Nase. Das geschah so
schnell und wirkte so komisch, daß Jane und Michael unwillkürlich
lachen mußten.
»Für mich«, erklärte Mister Kuddelmuddel unglücklich, »ist das nicht
zum Lachen. Das versichere ich euch. Ich muß sie von der falschen Seite
kitten — und wenn es zu sehen ist, so ist es halt zu sehen. Ich kann's
nicht ändern.« Er zog sein Werkzeug aus der Tasche und reparierte die
Schale, bei der Arbeit leise vor sich hin weinend.
»Hmpf«, sagte Mary Poppins und bückte sich, um die Schale aufzuheben.
»Das wäre geschehen. Und jetzt wollen wir gehen.«
Da fing Mister Kuddelmuddel erbarmungswürdig an zu schluchzen.
»So ist's recht, geht nur!« sagte er bitter. »Bleibt nur ja nicht hier und
steht mir in meinem Unglück bei. Streckt mir keine freundliche Hand
entgegen. Ich bin es ja nicht wert. Ich hatte gehofft, ihr würdet mir die
Ehre antun und ein paar Erfrischungen zu euch nehmen. Es ist ein Pflaumenkuchen
da. Er liegt in einem Blechkasten oben auf dem Regal. Aber
ich hab wohl kein Recht, so etwas zu erwarten. Ihr müßt euer eigenes
Leben leben, und ich darf euch nicht bitten, bei mir zu bleiben und mir
das meine zu erleichtern. Heute ist nicht mein Glückstag . . . «
» N u n . . . « , begann Mary Poppins und hörte auf, ihre Handschuhe
weiter zuzuknöpfen.
»Ach, bleib doch, Mary Poppins, bleib!« riefen Jane und Michael wie
aus einem Munde und tanzten fröhlich auf ihren Köpfen.
»Du kannst leicht zum Kuchen hinaufgelangen, wenn du dich auf
einen Stuhl stellst!« sagte Jane hilfreich.
Z um erstenmal lachte Mister Kuddelmuddel. Es klag reichlich melancholisch,
aber immerhin lachte er.
»Die braucht keinen Stuhl«, sagte er und kicherte kläglich. »Die bekommt,
was sie will und wie sie es will. — Die bestimmt.«
Da tat, vor den erstaunten Augen der Kinder, Mary Poppins etwas
Seltsames. Sie reckte sich steif auf den Zehenspitzen hoch und hielt sich
einen Augenblick in der Schwebe. Dann, ganz langsam und auf höchst
merkwürdige A r t , schlug sie sieben Saltos durch die Luft. Und so — die
Röcke umspannten dabei ihre Fesseln, der Hut saß kerzengerade auf
ihrem Kopf — wirbelte sie am Regal hoch, ergriff den Kuchen und landete
vor Mister Kuddelmuddel und den Kindern auf dem Kopf.
»Hurra! Hurra! Hurra!« schrie Michael begeistert. Doch vom Fußboden
her warf Ma r y Poppins ihm einen Blick zu, daß er wünschte, er
wäre lieber ruhig gewesen und hätte nichts gesagt.
»Danke, Mary«, murmelte Mister Kuddelmuddel traurig, doch keineswegs
überrascht.
»So!« sagte Mary Poppins. »Das ist das letzte, was ich heute für euch
tue!« Sie stellte die Blechdose vor Mister Kuddelmuddel hin.
Sofort kippte sie mi t leichtem Schwanken um. Jedesmal, wenn Mister
Kuddelmuddel sie wieder mi t dem Deckel nach oben vor sich hinstellte,
drehte sie sich um und fiel wieder auf den Kopf.
»Ach«, sagte er entmutigt, »das hätte ich wissen können! Nichts hat
heute seine Richtigkeit, nicht einmal die Kuchenbüchse. Wi r werden den
Boden aufschneiden müssen. Ich werde ma l . . .«
Und er stolperte auf seinem Kopf zur Tür und rief durch den Spalt
an der Schwelle: »Miß Törtchen! Miß Törtchen! Es tut mir leid, daß ich
Sie stören muß; könnten Sie . . . würden Sie . . . macht es Ihnen was aus,
einen Büchsenöffner zu bringen?«
Von weitem, aus dem unteren Stockwerk, ertönte Mi ß Törtchens
Stimme, die grimmig protestierte.
»Ruhe!« krächzte plötzlich eine Stimme laut durch das Zimmer.
»Ruhe! Und Schluß mi t dem Unfug! Störe die Frau nicht! Laß Polly das
tun! Die hübsche Polly! Die kluge Polly!«
Den Kopf wendend, stellten Jane und Michael zu ihrer Ãœberraschung
fest, daß die Stimme aus der papageienköpfigen Krücke von Mary Poppins'
Schirm kam, der gerade radschlagend zu dem Kuchen hinrollte. In
zwei Sekunden hatte der Schnabel ein großes Loch hineingehackt.
»So!« kreischte der Papageienkopf selbstgefällig. »Polly hat's fertiggebracht!
Die hübsche Polly!« Und ein glückliches, selbstzufriedenes
Lächeln breitete sich um seinen Schnabel, als er sich kopfunter neben
Mary Poppins auf dem Fußboden niederließ.
»Nun, das wa r sehr freundlich, wirklich sehr freundlich«, sagte Mister
Kuddelmuddel mi t seiner düsteren Stimme, als die dunkle Kruste des
Kuchens zum Vorschein kam.
Er zog ein Messer heraus und schnitt ein Stück ab. Plötzlich stutzte er
und untersuchte den Kuchen genauer. Dann blickte er Mary Poppins vorwurfsvoll
an.
»Das ist dein Werk, Mary! Leugne es nicht. Dieser Kuchen war beim
letzten Öffnen ein Pflaumenkuchen, und nun . . .«
»Biskuit ist sehr viel bekömmlicher«, sagte Ma r y Poppins spitz. »Eßt
gefälligst langsam. Ihr seid keine halbverhungerten Wilden!« fuhr sie
Jane und Michael an, jedem ein kleines Stück reichend.
»Alles schön und gut«, murrte Mister Kuddelmuddel verbittert, während
er sein Stück mi t zwei Bissen verschlang. »Aber ich äße gern ein
Stückchen Pflaumenkuchen oder zwei, das muß ich gestehen. Na schön,
es ist halt nicht mein Glückstag heute!« Er brach ab, denn es pochte laut
an der Tür. »Herein!« rief er mürrisch.
Miß Törtchen, die wenn möglich noch runder aussah und vom Treppensteigen
keuchte, stürzte ins Zimmer.
»Der Büchsenöffner, Mister K u d d e l m u d d e l . . . « , begann sie barsch.
Dann hielt sie inne und staunte.
»Aijai«, sagte sie, den Mund sperrangelweit offen, während ihr der
Büchsenöffner aus den Fingern glitt. »So wa s hab ich mein Lebtag nicht
gesehen. Und auch nicht erwartet!«
Sie trat einen Schritt vor und starrte mi t tiefster Verachtung auf die
vier Paar in der Luft zappelnden Füße.
»Kopfunter — alle miteinander — wie Fliegen an der Decke! Und Sie
bilden sich ein, anständige Menschen zu sein? Für eine Dame von meinem
Stand ist hier kein Platz. Ich werde das Haus augenblicklich verlassen,
Mister Kuddelmuddel. Nehmen Sie das zur Kenntnis, bitte!«
Sie rauschte ärgerlich zur Tür.
Doch bei ihren ersten Schritten hoben ihre weiten wogenden Röcke sie
plötzlich in einen Wirbel vom Fußboden auf.
Ein tödliches Erschrecken malte sich auf ihrem Gesicht.
»Mister Kuddelmuddel! Mister Kuddelmuddel! Fangen Sie mich! Halten
Sie mich fest! Hilfe! Hilfe!« schrie Mi ß Törtchen, als auch sie radzuschlagen
begann.
»Oh, oh, die Welt ist zu einer Spindel geworden! Wa s mach ich nur?
Hilfe! Hilfe!« kreischte sie, als es sie wieder herumzudrehen begann.
Bei diesem Herumwirbeln verwandelte sie sich auf seltsame Weise. Ihr
rundes Gesicht verlor den mürrischen Ausdruck und begann lächelnd zu
strahlen. Und Jane und Michael sahen zu ihrer höchsten Überraschung,
wi e sich ihr straffes Haar in zahllosen kleinen Löckchen kräuselte, während
sie so durchs Zimmer drehte und wehte. Al s sie wieder zu sprechen
begann, klang ihre mürrische Stimme süß wie ein Honigbonbon.
»Was ist denn los mi t mir?« rief Mi ß Törtchens neue Stimme. »Ich
fühle mich wie ein Ball! Oder vielleicht wie ein Ballon oder wie ein
Kirschtörtchen!« Sie brach in ein glückliches Gelächter aus.
»Du meine Güte, wie glücklich ich bin!« trillerte sie, durch die Luft
trudelnd. »Noch nie hab ich mein Leben so genossen wie jetzt; wenn es
nach mir ginge, ich hörte gar nicht mehr auf. Wa s für ein angenehmes
Gefühl! Ich werde das nach Hause schreiben, meiner Schwester, meinen
Kusinen und Onkeln und Tanten. Ich werde ihnen erklären, daß es die
einzig vernünftige Ar t ist, so zu leben: kopfüber, kopfunter, kopfüber,
kopfunter, kopfüber, kopfunter . . .«
Und fröhlich vor sich hin summend trudelte Mi ß Törtchen immer
rundum. Jane und Michael beobachteten sie entzückt und Mister Kuddelmuddel
erstaunt, denn er hatte Miß Törtchen nie anders als mürrisch und
unfreundlich kennengelernt.
»Höchst seltsam! Höchst seltsam!« bemerkte Mister Kuddelmuddel zu
sich selbst und schüttelte, obwohl er darauf stand, den Kopf.
Wieder klopfte es an der Tür.
»Wohnt hier jemand namens Kuddelmuddel?« erkundigte sich eine
Stimme. Auf der Schwelle stand der Postbote mi t einem Brief in der
Hand und blickte verdutzt auf das Bild, das sich ihm bot.
»Heiliger Strohsack!« bemerkte er und rückte seine Mütze ins Genick.
»Ich muß verkehr t gegangen sein. Ich suche einen vornehmen, ruhigen
Herrn namens Kuddelmuddel. Ich habe einen Brief für ihn. Außerdem
hab ich meiner Frau versprochen, früh zu Hause zu sein, und ich habe
mein Wort gebrochen und dachte . . .«
»Ha!« sagte Mister Kuddelmuddel vom Fußboden. »Ein gebrochenes
Versprechen ist etwas, was ich nicht reparieren kann. Tut mir leid!«
Der Briefträger blickte starr zu ihm hinunter.
»Träum ich oder nicht?« murmelte er. »Mir scheint, ich bin in eine
Gesellschaft von wirbelnden Verrückten geraten!«
»Geben Sie mir den Brief, lieber Herr Briefträger! Geben Sie Topsy
Törtchen den Brief und schlagen Sie Rad mi t mir. Mister Kuddelmuddel
ist beschäftigt, wie Sie sehen!«
Miß Törtchen trudelte auf den Briefträger zu und ergriff ihn bei den
Händen. Sowie sie ihn berührte, schlitterten seine Füße vom Fußboden
in die Luft. Und fort g i n g ' s ; der Briefträger und Miß Törtchen, Hand in
Hand, rollten herum wie zwei Fußbälle. »Wie herrlich ist das!« rief Miß
Törtchen glücklich. »Ach, lieber Herr Briefträger, wi r genießen unser
Leben zum erstenmal und auf die angenehmste Weise! Achtung, wir
kippen wieder! Ist das nicht wundervoll?«
»Jawohl!« jauchzten Jane und Michael und beteiligten sich an dem
wirbelnden Tanz des Briefträgers mi t Mi ß Törtchen.
Bald darauf schloß sich auch Mister Kuddelmuddel an, der sich seltsam
hüpfend und springend durch die Luft bewegte. Mary Poppins und ihr
Schirm folgten; höchst würdevoll drehten sie sich gleichmäßig und genau
um und um. Da waren sie nun alle dabei, sich drehend und radschlagend,
während die We l t um sie her Karussell fuhr und Mi ß Törtchens glückliche
Juchzer durchs Zimmer schallten.
»Vom Fuß bis zum Schopf,
Die Stadt steht kopf!«
sang sie hüpfend und springend.
Und oben auf den Regalen wirbelten die angeknacksten und zersprungenen
Herzen und drehten sich wie die Brummkreisel; die Schäferin
tanzte graziös mit ihrem Löwen, der graue Tuchelefant stand auf den
Vorderbeinen im Boot und schlug mi t den Hinterfüßen in die Luft, und
die Matrosenpuppe tanzte ihren Schottischen, nicht auf den Füßen, sondern
auf dem Kopf, der auf der Porzellanplatte immer wieder zierlich
aufschlug.
»Wie bin ich heute glücklich!« sang Jane, während sie durchs Zimmer
sauste.
»Und ich erst!« schrie Michael, der Saltos durch die Luft drehte.
Mister Kuddelmuddel wischte sich die Au g e n mi t dem Taschentuch,
als er vom Fenstersims abprallte.
Mary Poppins und ihr Schirm sagten gar nichts; sie segelten nur,
Kopf nach unten, ruhig rundum.
»Wie sind wi r alle glücklich!« sang Miß Törtchen.
Aber der Briefträger hatte inzwischen die Sprache wiedergefunden und
war nicht ihrer Meinung.
»Halt!« brüllte er, als er gerade wieder hintenüber kippte. »Hilfe!
Hilfe! Wo bin ich? We r bin ich? Wa s bin ich? Ich habe keine Ahnung!
Ich bin verloren! Hilfe!«
Aber keiner half ihm, und von Mi ß Törtchen festgehalten, wirbelte er
weiter.
»Immer ein ruhiges Leben geführt, das hab ich!« seufzte er. »Mich
wie ein anständiger Bürger benommen, das auch. Ach, was wird meine
Frau dazu sagen! Und wie komm ich nach Hause? Hilfe! Feuer! Diebe!«
Und mi t einer gewaltigen Anstrengung riß er seine Hand aus der von
Mi ß Törtchen. Er ließ den Brief fallen, rollte aus der Tür und die Treppe
hinunter, immer noch Hals über Kopf und laut schreiend:
»Ich werde Sie verklagen! Ich rufe die Pol izei ! Ich spreche mi t dem
Oberpostdirektor!«
Seine Stimme erstarb, je weiter er die Treppe hinabbumste.
»Ping ping ping ping ping ping!«
Die Uhr draußen auf dem Platz schlug sechs.
Im gleichen Augenblick stießen Janes und Michaels Füße mi t einem
Plumps auf den Fußboden; plötzlich standen sie wieder aufrecht, fühlten
sich aber noch etwas schwindlig.
Graziös landete Mary Poppins rechts von ihnen, so elegant und untadelig
anzusehen wie eine Schaufensterpuppe.
Der Schirm machte noch eine Umdrehung und blieb auf der Spitze
stehen. Mister Kuddelmuddel krabbelte, heftig strampelnd, auf die Füße.
Die Herzen oben auf den Regalen standen wieder still und stumm, und
auch die Schäferin und ihr Löwe bewegten sich nicht, sowenig wie der
graue Tuchelefant oder die Matrosenpuppe. Wenn man sie ansah, hätte
man niemals vermuten können, daß sie noch vor kurzem alle miteinander
auf dem Kopf herumgetanzt waren.
Nur Miß Törtchen kreiselte noch durchs Zimmer, kopfüber, kopfunter,
glücklich lachend und ihr Lied vor sich hin summend:
»Vom Fuß bis zum Schopf,
Die Stadt steht kopf!
Wa s soll das nur heute,
Ihr ulkigen Leute!«
»Miß Törtchen! Mi ß Törtchen!« rief Mister Kuddelmuddel und rannte,
ein seltsames Licht in den Augen, auf sie zu. Er hielt sie am A rm fest,
als sie vorbeiwirbelte, und ließ nicht eher los, als bis sie auf beiden
Füßen neben ihm stand.
»Wie sagten Sie, daß Sie heißen?« fragte Mister Kuddelmuddel, keuchend
vor Anstrengung.
Miß Törtchen wurde plötzlich rot. Scheu blickte sie ihn an.
»Ach, Törtchen, Topsy Törtchen!«
Mister Kuddelmuddel ergriff ihre Hand.
»Wollen Sie mich heiraten, Mi ß Törtchen, und Topsy Kuddelmuddel
werden? Es würde für mich so sehr viel bedeuten. Und mir scheint, Sie
sind so glücklich geworden, daß Sie vielleicht auch nachsichtig genug
sein werden, sich über meine zweiten Montage hinwegzusetzen.«
»Hinwegsetzen, Mister Kuddelmuddel? Ei, sie werden künftig mein
größtes Vergnügen sein!« sagte Miß Törtchen. »Ich habe heut die ganze
Welt kopfstehen sehen und dadurch einen neuen Blickpunkt gewonnen.
Ich versichere Ihnen, ich werde mich jeden Monat auf den zweiten Montag
freuen!«
Sie lachte schüchtern und reichte Mister Kuddelmuddel auch ihre andere
Hand. Und auch Mister Kuddelmuddel lachte, wie Jane und Michael
freudig feststellten.
»Es ist sechs Uhr vorbei, ich glaube, jetzt kann er wieder er selbst
sein«, wisperte Michael Jane zu.
Jane antwortete nicht. Sie beobachtete gerade die Maus. Die stand
nicht länger auf der Nase, sondern eilte, mi t einem großen Kuchenkrümel
in der Schnauze, zu ihrem Loch zurück.
Ma r y Poppins hob die große Porzellanschale auf und begann sie einzuwickeln.
»Hebt eure Taschentücher auf, bitte — und setzt euch den Hut gerade«,
sagte sie barsch.
»Und nun . . .«, sie ergriff ihren Schirm und schob die neue Handtasche
unter den Arm.
»Aber wi r gehen doch noch nicht, Mary Poppins?« fragte Michael.
»Wenn du gewöhnt bist, die ganze Nacht aufzubleiben, ich bin's
nicht«, bemerkte sie und drängte ihn zur Tür.
»Müßt ihr wirklich gehen?« sagte Mister Kuddelmuddel, doch wie es
schien, mehr aus Höflichkeit. Er hatte nur noch Augen für Miß Törtchen.
Aber Mi ß Törtchen kam auf sie zu, lächelnd und ihre Locken schüttelnd.
»Kommt wieder«, sagte sie und reichte jedem die Hand. »Tut es auch
wirklich! Mister Kuddelmuddel und i c h . . . « , sie schlug errötend die
Augen nieder, »wir werden an jedem zweiten Montag um die Teezeit
zu Hause sein, nicht wahr, Artur?«
»Nun«, sagte Mister Kuddelmuddel, »wir werden zu Hause sein, wenn
wi r nicht draußen sind — das ist mal sicher!« Und er lachte, und Jane
und Michael lachten auch.
Er und Mi ß Törtchen blieben oben auf der Treppe stehen und winkten
Mary Poppins und den Kindern ein Lebewohl nach. Miß Törtchen errötete
glücklich, und Mister Kuddelmuddel hielt Mi ß Törtchen an der
Hand und sah sehr stolz aus und nahm sich wichtig.
»Ich wußte gar nicht, daß es so leicht ist«, sagte Michael zu Jane, als
sie unter Mary Poppins' Schirm durch den Regen platschten.
»Was leicht ist?« fragte Jane.
»Auf dem Kopf stehen. Ich werd's zu Hause noch weiter üben.«
»Ich wünschte, wi r hätten auch einen zweiten Montag«, meinte Jane.
»Macht gefälligst, daß ihr hineinkommt!« sagte Mary Poppins; sie
schloß ihren Schirm und drängte die Kinder vor sich her, die Wendeltreppe
zum Oberdeck des Autobusses hinauf.
Nebeneinander saßen die beiden hinter ihr und unterhielten sich leise
über alles, wa s sie am Nachmittag erlebt hatten.
Mary Poppins drehte sich um und starrte sie an.
»Flüstern ist unhöflich«, sagte sie streng. »Und haltet euch grade beim
Sitzen. Ihr seid doch keine Mehlsäcke!«
Ein paar Minuten lang blieben sie stumm. Ma r y Poppins, auf ihrem
Sitz halb umgewandt, beobachtete sie ärgerlich.
»Was für eine komische Familie du doch hast«, bemerkte Michael zu
ihr, mi t dem Versuch, Konversation zu machen.
Ihr Kopf flog mi t einem Ruck hoch.
»Komisch? Wa s meinst du bitte mi t — komisch?«
»Na, eben — seltsam. Mister Kuddelmuddel beim Radschlagen und
Kopfstehen . . . «
Mary Poppins starrte ihn an, als traute sie ihren Ohren nicht.
»Habe ich recht verstanden«, begann sie und zerbiß gleichsam die
Worte, »sagtest du wirklich, mein Vetter hätte radgeschlagen? Und
hätte auf . . . «
»Aber er hat es doch getan«, protestierte Michael nervös. »Wir haben
es doch gesehen.«
»Auf dem Kopf? Ein Verwandter von mir? Auf dem Kopf? Und herumwirbelnd
wie ein Feuerwerkskörper?« Ma r y Poppins schien kaum
imstande, eine so fürchterliche Behauptung zu wiederholen, sie blickte
Michael durchdringend an.
»Das ist doch . . .«, begann sie, und er schrak vor der Drohung ihrer
wild flammenden Augen zurück. »Das ist wohl das Letzte! Erst bist du
frech zu mir, und dann beleidigst du meinen Verwandten. Es fehlt nur
noch ein kleines bißchen — ein ganz kleines bißchen —, und ich kündige.
So — ich hab dich gewarnt.«
Mi t diesen Worten fuhr sie auf ihrem Sitz herum und drehte ihnen
den Rücken zu. Und selbst von hinten sah sie ärgerlicher aus, als die
beiden sie jemals gesehen hatten.
Michael beugte sich vor . »Ich bitte um Verzeihung«, sagte er.
Von dem Sitz vor ihnen kam keine Antwort.
»Es tut mir leid, Mary Poppins!«
»Hmpf!«
»Schrecklich leid!«
»Das will ich hoffen!« erwiderte sie, blickte aber immer noch stracks
vor sich hin.
Michael beugte sich zu Jane hinüber.
»Aber ich hab doch die Wahrheit gesagt. Oder nicht?« flüsterte er.
Jane schüttelte verweisend den Kopf und legte einen Finger auf die
Lippen. Sie blickte starr auf Ma r y Poppins' Hut. Und als sie sicher war ,
daß Mary Poppins nichts bemerkte, deutete sie auf die Krempe.
Da lagen, auf dem schwarzen Stroh glänzend, ein paar verstreute Krumen,
gelbe Krümel von einem Biskuit, genau die Ar t Krümel, die man
auf dem Hut einer Person zu finden erwartete, die ihren Tee im Kopfstand
eingenommen hatte.
Michael blickte einen Augenblick stumm auf die Krümel. Dann drehte
er sich um und nickte Jane verständnisvoll zu.
So saßen sie denn, auf und ab hopsend, während der Bus heimwärts
rumpelte. Mary Poppins' Rücken, steif und ärgerlich, war wie eine
schweigende Drohung. Sie wagten es nicht, sie anzusprechen. Aber jedesmal,
wenn der Autobus um eine Ecke bog, sahen sie, wie die Krümel auf
der Hutkrempe radschlugen . . .
5. Kapitel
Der Neuankömmling
»Aber warum müssen wi r denn mit Ellen Spazierengehen?« brummte
Michael und schlug das Gattertor zu. »Ich kann sie nicht leiden. Ihre
Nase ist mir zu rot.«
»Pst!« sagte Jane. »Sie kann dich hören.«
Ellen, die den Kinderwagen vor sich herstieß, drehte sich um.
»Du bist ein gräßlicher, unfreundlicher Junge, Michael. Ich tue nur
meine Pflicht, das ist mal sicher. Es ist für mich kein Vergnügen, bei dieser
Hitze spazierenzugehen — so, da hast du's!«
Sie schneuzte ihre rote Nase in ein grünes Taschentuch.
»Warum gehst du denn dann?« fragte Michael.
»Weil Mary Poppins keine Zei t hat. Na, komm schon weiter, sei ein
guter Junge, und ich kauf dir für einen Penny Bonbons.«
»Ich will keine Bonbons«, murrte Michael. »Ich wi l l Mary Poppins.«
Plopp—plopp. Plopp—plopp. Ellens Füße wanderten langsam und
schwer die Straße hinunter.
»Ich kann durch jede Ritze meines Strohhutes einen Regenbogen
sehen«, sagte Jane.
»Ich nicht«, sagte Michael unwirsch. »Ich kann nur mein Seidenfutter
sehen.«
Ellen blieb an der Ecke stehen und sah sich ängstlich den Verkehr auf
der Straße an.
»Kann ich helfen?« erkundigte sich der Schutzmann, hilfreich hinzuspringend.
»Ach«, sagte Ellen errötend, »wenn Sie uns auf die andere Seite hinüberbringen
wollten, wäre ich Ihnen sehr dankbar. Mi t meiner starken
Erkältung und den vier Kindern, auf die ich aufpassen muß, weiß ich
selbst nicht, ob ich auf dem Kopf stehe oder auf den Füßen.« Wieder
schneuzte sie sich.
»Aber das mußt du doch wissen! Du brauchst doch nur nachzusehen!«
sagte Michael und dachte darüber nach, wie wahrhaft scheußlich Ellen
war.
Aber der Schutzmann war augenscheinlich anderer Meinung, denn er
ergriff mi t der einen Hand Ellens A rm und mi t der anderen den Griff des
Kinderwagens und führte sie so zärtlich über die Straße, als wäre sie
seine Braut.
»Haben Sie mal 'nen Ta g frei?« erkundigte er sich und blickte Ellen
gespannt in das rote Gesicht.
»Na«, sagte Ellen. »Sagen wi r 'nen Nachmittag. Jeden zweiten Sonnabend.
« Sie putzte sich nervös die Nase.
»Komisch«, sagte der Schutzmann. »Das sind auch meine Ausgehtage.
Und gewöhnlich bin ich gegen zwei Uhr mittags hier in der Gegend.«
»Oh!« sagte Ellen und machte den Mund sperrangelweit auf.
»So!« sagte der Schutzmann mit einem höflichen Nicken.
»Schön, ich will sehen«, sagte Ellen. »Leben Sie wohl.«
Und sie ging schwerfällig weiter, sich hin und wieder umsehend, ob
der Schutzmann ihr immer noch nachblickte.
Und das tat er.
»Mary Poppins braucht nie einen Schutzmann«, beschwerte sich Mi -
chael. »Was hat sie nur heute zu tun?«
»Zu Hause geht etwas sehr Wichtiges vor«, sagte Jane. »Das ist mal
sicher.«
»Woher weißt du das?«
»Ich hab so ein ungewisses, leeres Gefühl innerlich.«
»Puh«, machte Michael. »Wahrscheinlich bist du hungrig! Können wir
nicht schneller gehen, Ellen, und es hinter uns bringen?«
»Der Junge«, sprach Ellen zum Parkgitter, »hat ein Herz von Stein. —
Nein, das geht nicht, Michael, wegen meiner Füße.«
»Was fehlt ihnen denn?«
»Die wollen nicht schneller gehen.«
»Ach, meine liebe Mary Poppins!« sagte Michael bitter.
Seufzend trollte er hinter dem Kinderwagen her. Jane ging neben ihm
und zählte die Regenbogen durch ihre Hutritzen.
Ellens langsame Füße stampften gemächlich weiter. Eins, zwei — eins,
zwei. Plopp-plopp. Plopp-plopp . . .
Und fern von ihnen, hinten im Kirschbaumweg, trug sich das bedeutende
Ereignis zu.
Von außen gesehen, wirkte Nummer siebzehn ebenso friedlich und
verschlafen wie die anderen Häuser. Doch hinter den herabgezogenen
Rolläden herrschte eine so wilde Geschäftigkeit, daß, wäre es nicht Sommer
gewesen, ein Passant hätte glauben können, die Bewohner des Hauses
hielten ihren Frühjahrsputz oder bereiteten eine Weihnachtsbescherung
vor.
Das Haus selber stand blitzend im Sonnenschein und kümmerte sich
um nichts. Schließlich, dachte es, hab ich schon öfters solche Geschäftigkeit
erlebt, und es wi rd wohl auch nicht das letztemal sein; warum soll
ich mir deswegen graue Haare wachsen lassen?
Aber da gerade riß Mistreß Brill die Türe auf, und Doktor Simpson
kam eilig heraus. Mistreß Brill blieb auf den Zehenspitzen stehen und
blickte ihm nach, wie er, seine kleine braune Tasche hin und her schwenkend,
den Gartenweg hinunterging. Dann eilte sie in ihr Küchenreich
und rief laut:
»Wo stecken Sie, Robertson? Machen Sie rasch, wenn Sie überhaupt
kommen wollen!«
Sie huschte die Treppe hinauf, immer zwei Stufen auf einmal, während
hinter ihr ein gähnender Robertson Ay sich reckte und streckte.
»Pst!« zischte Mistreß Brill. »Pst!«
Sie legte den Finger auf die Lippen und schlich auf Zehenspitzen an
Mistreß Banks Tür.
»Tz, tz! Es ist nichts zu sehen außer dem Schrank«, klagte sie, zum
Schlüsselloch hinuntergebeugt. »Der Schrank und ein kleines Stückchen
Fenster.«
Doch gleich darauf fuhr sie heftig zurück.
»Allmächtiger!« kreischte sie, als die Tür plötzlich aufflog und sie
rücklings auf Robertson Ay fiel.
Denn vor ihr, vom Licht umrissen, stand Mar y Poppins; sie sah sehr
ernst und mißtrauisch aus. In ihrem Arm trug sie mi t großer Vorsicht
ein Etwas, das wie ein Bündel Leintücher aussah.
»Ach«, sagte Mistreß Brill atemlos. »Wahrhaftig, Sie sind's! Ich polierte
gerade die Türklinke, wollte ihr 'n bißchen Glanz geben sozusagen,
als Sie herauskamen.«
Mary Poppins blickte auf die Türklinke. Sie war reichlich dreckig.
»Das Schlüsselloch poliert, das hätte ich gesagt!« bemerkte sie herausfordernd.
Aber Mistreß Brill überhörte es. Sie blickte zärtlich auf das Bündel.
Mi t ihrer großen roten Hand zog sie in einem der Tücher eine Falte beiseite,
und ein befriedigtes Lächeln stahl sich über ihr Gesicht.
»Ach«, gurrte sie. »Aach, unser Lämmchen! Aach, unser Entchen!
Aach, unser Schätzchen! Macht soviel Freude, möcht ich wetten, wie 'ne
Woche lang Sonntag!«
Robertson Ay gähnte wieder einmal und glotzte mit leicht geöffnetem
Mund auf das Bündel.
»Noch ein Paar Schuhe mehr zum Putzen!« sagte er traurig. Und
lehnte sich hilfesuchend gegen das Treppengeländer.
»Daß Sie's ja nicht fallen lassen!« sagte Mistreß Brill besorgt, als
Mary Poppins an ihr vorbeifegte.
Mary Poppins warf beiden einen tief verachtungsvollen Blick zu.
»Wenn ich Sie wäre«, bemerkte sie säuerlich, »würde ich mich um
meine eigenen Angelegenheiten kümmern!«
Damit schob sie das Tuch über dem Bündel wieder zurecht und ging
hinauf ins Kinderzimmer.
»Entschuldigen Sie, bitte! Entschuldigen Sie!« Mister Banks kam die
Treppe heraufgerast und rannte Mistreß Brill fast über den Haufen, als
er in Mistreß Banks Schlafzimmer stürzte.
»Na«, sagte er und ließ sich am Fußende des Bettes nieder, »das ist
eine heikle Geschichte. Recht heikel, in der Tat. Ich weiß nicht, ob ich
mir das leisten kann. Mi t fünfen hatte ich nicht gerechnet.«
»Es tut mir ja so leid!« sagte Mistreß Banks und lächelte ihn glücklich
an.
»Es tut dir gar nicht leid, nicht die Spur. In Wirklichkeit bist du höchst
erfreut und außerordentlich stolz darauf. Und dazu besteht gar kein
Grund. Es ist ein sehr kleines Exemplar.«
»So hab ich sie gern«, sagte Mistreß Banks. »Außerdem wird es
wachsen.«
»Ja, leider!« erwiderte er, nicht ohne Bitterkeit. »Und ich werde ihm
Schuhe kaufen müssen und Kleider und ein Dreirad. Ja, und dann muß
ich es zur Schule schicken und ihm einen guten Start im Leben sichern.
Eine ziemlich kostspielige Sache. Und dann, zum Schluß, wenn ich als
alter Mann am Kamin sitze, wird es fortgehen und mich verlassen. Daran
hast du wohl nicht gedacht?«
»Nein«, sagte Mistreß Banks; sie versuchte traurig auszusehen, doch
ohne Erfolg. »Daran nicht.«
»Das dacht ich mir. Na, da kann man nichts machen. Aber ich warne
dich, ich kann es mir jetzt nicht leisten, das Badezimmer neu kacheln zu
lassen.«
»Mach dir deshalb keine Sorgen«, tröstete ihn Mistreß Banks. »Mir
gefallen die alten Kacheln noch recht gut.«
»Dann bist du eine sehr törichte Frau. Das kann ich nur sagen.«
Und Mister Banks ging fort; er murrte und brummte im Haus herum.
Aber als er aus der Haustür trat, drückte er die Schultern zurück, reckte
die Brust und steckte sich eine dicke Zigarre in den Mund. Und bald darauf
hörte man, wie er die Neuigkeit Admiral Boom erzählte; seine
Stimme klang dabei sehr laut und selbstgefällig, ja direkt prahlerisch.
Mary Poppins beugte sich über die neue Wiege zwischen Johns und
Barbaras Gitterbettchen und legte das Bündel achtsam hinein. »Da bist
du ja endlich! Bei allem, was einen Schnabel und Schwanzfedern hat,
. . . ich dachte schon, du kämst überhaupt nicht. Wa s ist es denn?« schrie
eine krächzende Stimme vom Fenster.
Mary Poppins blickte hoch.
Der Star, der oben auf dem Schornstein wohnte, hüpfte begeistert auf
dem Fenstersims.
»Ein Mädchen. Annabel«, sagte Mary Poppins kurz. »Und ich wäre
dir dankbar, wenn du etwas leiser sein wolltest. Quiekst und krächzt
hier herum wie 'ne getroffene Schießbudenfigur!«
Aber der Star hörte nicht zu. Er wirbelte auf dem Fenstersims herum
und klatschte jedesmal, wenn er mit dem Kopf wieder hochkam, wild
mit den Flügeln Beifall.

»Was für ein Spaß!« keuchte er, als er schließlich wieder aufrecht
stand. »Was für ein SPASS! Ach, ich könnte singen vor Vergnügen!«
»Das könntest du nicht. In alle Ewigkeit nicht«, höhnte Mary Poppins.
Aber der Star war viel zu glücklich, um sich zu ärgern.
»Ein Mädchen!« kreischte er und tanzte auf den Fußspitzen. »Ich habe
dreimal gebrütet in diesem Sommer, und — ob du's glaubst oder nicht —
jedesmal waren es nur Jungen. Aber Annabel wird mich dafür entschädigen.
«
Er hüpfte ein Stückchen den Sims entlang. »Annabel!« schmetterte er
wieder. »Das ist ein hübscher Name. Ich hatte eine Tante, die hieß
Annabel. Sie lebte auf Admiral Booms Schornstein, und das arme Ding
starb daran, daß sie grüne Äpfel und Birnen aß. Ich hatte sie gewarnt,
ich hatte sie gewarnt! Aber sie glaubte mir nicht. Und natürlich . . .«
»Willst du wohl still sein!« befahl Mary Poppins und schlug mi t der
Schürze nach ihm.
»Das w i l l ich nicht!« schrie er, geschickt ausweichend. »Es ist jetzt
keine Zeit zum Schweigen. Ich mach mich auf, um die Nachricht zu verkünden.
« Er witschte zum Fenster hinaus.
»Bin gleich wieder da!« rief er beim Davonfliegen über die Schulter
zurück.
Mary Poppins ging leise durchs Kinderzimmer und stapelte Annabels
neue Wäsche zu sauberen Bündeln auf.
Ein Sonnenstrahl schlüpfte durchs Fenster und kroch durchs Zimmer
bis zur Wiege hin.
»Mach die Augen auf!« sagte er sanft, »und ich streue einen Schimmer
hinein!«
Das Deckchen in der Wiege bewegte sich. Annabel schlug die Augen
auf.
»Braves Kind!« sagte der Sonnenstrahl. »Sie sind blau, wie ich sehe.
Meine Lieblingsfarbe! Da ! Du wirst nirgends ein Paar leuchtendere
Augen finden!«
Er glitt leicht von Annabels Augen weg und seitlich an der Wiege
herab.
»Schönen Dank!« sagte Annabel höflich.
Ein warmes Lüftchen ließ die Musselinvorhänge über ihrem Kopf flattern.
»Locken oder glattes Haar?« flüsterte es und ließ sich neben ihr in der
Wiege nieder.
»Ach, Locken, bitte!« sagte Annabel sanft.
»Macht weniger Umstände, was?« stimmte das Lüftchen zu. Und es
wehte über ihrem Kopf hin und her und drehte sorgfältig die flaumigen
Enden ihres Haars hoch, bevor es aus dem Zimmer flatterte.
»Da sind wir! Da sind wir!«
Eine schrille Stimme ertönte vom Fenster. Der Star war aufs Fenstersims
zurückgekehrt. Und hinter ihm landete mit unsicherem Flügelschlag
ein ganz junger Vogel.
Mary Poppins trat drohend auf sie zu.
»Macht, daß ihr fortkommt!« sagte sie böse. »Ich wi l l keine Spatzen
hier im Kinderzimmer herumlungern sehen . . .«
Aber der Star, mi t dem Jungen an der Seite, fegte hochnäsig an ihr
vorbei.
»Bedenke gefälligst, Mary Poppins«, sagte er eisig, »daß meine ganze
Familie sehr gut erzogen ist. >Herumlungern<, wa s für ein Ausdruck!«
Er landete elegant auf dem Wiegenrand und half dem Vogeljungen
neben ihm, das Gleichgewicht wiederzufinden. Der junge Vogel blickte
mit runden, forschenden Augen um sich. Der alte Star hüpfte zum Kissen
hin.
»Annabel, liebe«, begann er mit einer heiseren, schmeichlerischen
Stimme, »ich habe viel übrig für ein hübsches, knuspriges, krachendes
Stückchen Zwieback.« Seine Augen funkelten gierig. »Du hast wohl
nicht zufällig einen bei dir?«
Das lockige Köpfchen bewegte sich unruhig auf dem Kissen.
»Nein? Na, du bist vielleicht noch 'n bißchen jung für Zwieback.
Deine Schwester Barbara, das war ein nettes Mädchen, freigebig und
freundlich — dachte immer an mich. Wenn du dir also in Zukunft für
einen alten Knaben wie mich ein Krümchen oder zwei vom Munde absparen
. . .«
»Natürlich werde ich das«, sagte Annabel aus ihrer Decke heraus.
»Gutes Kind!« krächzte der Star beifällig. Er legte den Kopf auf eine
Seite und blickte sie mi t seinen runden, blanken Augen an. »Ich hoffe«,
bemerkte er höflich, »die Reise hat dich nicht allzusehr ermüdet.«
Annabel schüttelte den Kopf.
»Wo ist sie hergekommen — aus einem Ei?« piepste das Vogeljunge
plötzlich.
»Haha!« höhnte Mary Poppins. »Denkst du vielleicht, das ist ein
Star?«
Der Star warf ihr einen ebenso hochmütigen wie verletzten Blick zu.
»Na, was ist sie denn dann? Und wo kommt sie her?« schrillte das
Vogeljunge, flatterte mi t seinen kurzen Flügeln und starrte hinunter in
die Wiege.
»Erzähl du es ihm, Annabel!« krächzte der Star.
Annabel bewegte unter der Decke die Hände.
»Ich bin Erde und Luft und Feuer und Wasser!« sagte sie sanft. »Ich
komme aus dem Dunkel, worin alle Dinge ihren Anfang nehmen.«
»Ach, solch ein Dunkel!« sagte der Star milde und ließ den Kopf auf
die Brust sinken.
»Auch im Ei war es dunkel«, piepste das Vogeljunge.
»Ich komme von der See und ihren Gezeiten«, fuhr Annabel fort. »Ich
komme vom Himmel und seinen Sternen, ich komme von der Sonne und
ihrer H e l l i g k e i t . . .«
»Ach, und wie hell!« sagte der Star und nickte.
»Ich komme von den Wäldern der Erde.«
Wi e im Traum schaukelte Mary Poppins die Wiege — hin und her,
h i n und her — gleichmäßig und schwingend.
»Ja?« flüsterte das Vogeljunge.
»Zuerst bewegte ich mich langsam«, sagte Annabel, »immerfort schlafend
und träumend. Ich erinnerte mich an alles, was gewesen war, und
dachte an alles, was kommen sollte. Und als ich meinen Traum ausgeträumt
hatte, wachte ich auf.«
Sie hielt einen Augenblick inne, die blauen Augen voller Erinnerungen.
»Und dann?« wollte das Vogeljunge wissen.
»Ich hörte die Sterne singen und fühlte mich von warmen Schwingen
umhegt. Ich begegnete den Tieren der Wildnis und schritt durch tiefe
und dunkle Wasser. Es war eine lange Reise.«
Annabel schwieg.
Das Vogeljunge betrachtete sie mi t hellen, forschenden Augen.
Mary Poppins' Hand lag ruhig auf dem Rand der Wiege. Sie hatte mit
dem Schaukeln aufgehört.
»Eine lange Reise, wahrhaftig!« sagte der Star milde und hob den
Kopf von der Brust. »Und ach, wie bald vergessen!«
Annabel bewegte sich unruhig unter der Decke.
»Nein!« sagte sie zuversichtlich. »Ich werde es niemals vergessen.«
»Papperlapapp, bei allen Schnäbeln und Klauen! Natürlich wirst du
vergessen! Nach Ablauf einer Woche wirst du dich an nichts mehr erinnern
— weder an das, was du bist, noch woher du kamst!«
Unter ihrem Flanelltuch trat Annabel wütend um sich.
»Doch, doch! Wi e könnt ich je vergessen?«
»Weil es alle tun«, höhnte der Star gellend. »Jeder törichte Mensch,
nur sie nicht« — er deutete mi t einem Kopfnicken auf Mary Poppins —,
»sie ist anders, sie ist die Abweichung, die Ausnahme . . .«
»Du unverschämter Star!« schrie Mary Poppins und stürzte sich auf
ihn.
Doch mi t sprödem Gelächter scheuchte er sein Vogeljunges vom Wiegenrand
und hüpfte mi t ihm zum Fenstersims.
»Hasch mich, wenn du kannst!« sagte er unverschämt, als er an ihr
vorbeiwitschte. »Nanu, was ist denn das?«
Draußen auf dem Treppenabsatz waren Stimmen zu hören und auf
den Stufen ein Getrappel von Füßen.

»Ich glaube dir nicht! Ich will dir nicht glauben!« schrie Annabel wild.
Im gleichen Augenblick stürzten Jane und Michael und die Zwillinge
ins Zimmer.
»Mistreß Brill behauptet, du hättest uns etwas zu zeigen!« sagte Jane
und riß sich den Hut ab.
»Was ist es?« erkundigte sich Michael, im Zimmer umherblickend.
»Zeig's mir!« — »Mir auch!« quiekten die Zwillinge.
Mary Poppins blickte sie ärgerlich an. »Sind wir hier in einem anständigen
Kinderzimmer oder im Zoo?« fragte sie streng. »Antwortet, bitte!«
»Im Zoo — iii — ich meine —« Eilig brach Michael ab, denn er hatte
Mary Poppins' Blick aufgefangen. »Ich meine, im Kinderzimmer«, schloß
er lahm.
»Ach guck, Michael, guck!« schrie Jane aufgeregt. »Ich sagte euch ja,
daß etwas Wichtiges geschehen würde! Es ist ein neues Baby! Ach, Mary
Poppins, darf ich es einmal halten?«
Mary Poppins, mi t einem furchtbaren Blick auf sie alle, bückte sich,
hob Annabel aus der Wiege und setzte sich mi t ihr in den alten Armsessel.
»Vorsichtig, bitte, vorsichtig!« sagte sie warnend, als sie sich von allen
Seiten umdrängt sah. »Das ist ein Baby und kein Schlachtschiff!«
»Ein männliches?« fragte Michael.
»Nein, ein Mädchen — Annabel.«
Michael und Annabel starrten einander an. Er steckte seinen Finger in
ihre Hand, und sie umklammerte ihn fest.
»Meine Puppe!« sagte John und stieß gegen Mary Poppins' Knie.
»Mein Kaninchen!« sagte Barbara und zog an Annabels Wickeltuch.
»Ach!« seufzte Jane und berührte zaghaft das Haar, das der Wind gekräuselt
hatte. »Wie winzig und süß. Wi e ein Sternchen. Wo kommst du
denn her, Annabel?«
Sehr angenehm berührt von dieser Frage, begann Annabel, ihre Geschichte
v on vorn zu erzählen.
»Ich kam aus dem Dunkeln . . . « , wiederholte sie sanft.
Jane lachte. »Wa s für komische kleine Töne!« rief sie. »Ich wünschte,
sie könnte sprechen und uns erzählen.«
Annabel staunte.
»Aber ich erzähle euch ja«, protestierte sie, um sich schlagend.
»Haha!« kreischte der Star unverschämt vom Fenster her. »Was hab
ich gesagt? Verzeiht, daß ich lache!«
Das Vogeljunge kicherte hinter seinem Flügel.
»Vielleicht kommt sie aus einem Spielzeugladen«, meinte Michael.
Wütend stieß Annabel seinen Finger weg.
»Sei nicht töricht!« sagte Jane. »Doktor Simpson muß sie in seiner
kleinen braunen Tasche mitgebracht haben!«
»Hatte ich recht oder nicht?« Die alten, dunklen Starenaugen zwinkerten
Annabel zu.
»Sag mir das!« stichelte er und schlug triumphierend mi t den Flügeln.
Doch statt aller Antwort drehte Annabel ihr Gesicht nach Ma r y Poppins'
Schürze und weinte. Ihre ersten Schreie, dünn und einsam, klangen
durchdringend durch das Haus.
»Na, na!« sagte der Star mürrisch, »stell dich nicht an! Dagegen läßt
sich nichts machen. Du bist schließlich nur ein Menschenbaby. Aber das
nächste Ma l wirst du vielleicht Klügeren glauben! Älteren und Klügeren!
Älteren und Klügeren!« schrie er und hüpfte aufgeplustert umher.
»Michael, hol bitte meinen Staubwedel und fege diese Vögel vom
Fensterbrett!« sagte Mary Poppins bedeutsam.
Ein amüsiertes Gepiepse war die Antwort des Stars.
»Wir können uns selbst wegfegen, Ma r y Poppins, besten Dank! Wir
waren ohnehin grad dabei. Komm mit, Junge!«
Und mi t lautem Gekicher stieß er das Vogeljunge vom Fensterbrett
und flog mi t ihm davon.
In erstaunlich kurzer Zeit hatte sich Annabel im Kirschbaumweg eingelebt.
Sie genoß es, Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit zu
sein, und es gefiel ihr stets, wenn jemand sich über ihre Wiege beugte
und sagte, wie hübsch sie sei, wie gut oder wie wohlgeartet.
»Bewundert mich nur!« sagte sie lächelnd. »Das hab ich so gern!«
Und dann beeilte sich jeder, ihr zu erzählen, wie lockig ihr Haar war
und wie blau ihre Augen, und Annabel lächelte so zufrieden, daß sie
ausriefen: »Wie klug sie doch ist! Man könnte denken, sie versteht
alles!«
Aber gerade das langweilte sie dann wieder, und sie wandte sich voll
Verachtung von soviel Albernheit ab. Das war töricht von ihr, denn
wenn sie verachtungsvoll aussah, wirkte sie so bezaubernd, daß die
anderen sich immer alberner aufführten.
Eine Woche verging, bevor der Star zurückkehrte. Mary Poppins
schaukelte im dämmrigen Schein des Nachtlichtes die Wiege, als er auftauchte.
»Wieder da?« fuhr Ma r y Poppins ihn an und beobachtete sein Umherstolzieren.
»Du bist so schlecht wie ein falscher Penny!« Sie zog verächtlich
die Luft durch die Nase.
»Ich hatte zu tun«, sagte der Star. »Ich mu ß meine Angelegenheiten
in Ordnung halten. Und wie du dir denken kannst, ist das nicht das einzige
Kinderzimmer, auf das ich aufpassen muß!« Seine kleinen, runden,
glänzenden Augen zwinkerten mutwillig.
»Hmpf!« machte sie kurz. »Die andern können mir leid tun!«
Er kicherte und schüttelte den Kopf.
»So was gibt's nicht ein zweites Mal!« bemerkte er zirpend zur Vor -
hangquaste. »Die ist einzig! Auf alles hat sie eine Antwort!« Er streckte
den Kopf zur Wiege hin. »Nun, wie steht's? Schläft Annabel?«
»Nicht dein Verdienst, wenn sie's tut!« sagte Mary Poppins.
Der Star überhörte die Bemerkung. Er hüpfte ans Ende des Fensterbretts.
»Ich werde Wache halten«, flüsterte er. »Geh du hinunter und hol
eine Tasse Tee.«
Mary Poppins stand auf.
»Aber gib acht, daß du sie nicht aufweckst!«
Der Star lachte mitleidsvoll.
»Mein liebes Kind, ich habe mi t der Zei t mindestens zwanzigmal
junge Brut aufgezogen. Man braucht mir nicht zu sagen, wie man auf ein
Baby aufpaßt.«
»Hmpf!« Mary Poppins ging an den Schrank und steckte sehr betont
die Keksbüchse unter den Arm, bevor sie hinausging und die Tür hinter
sich schloß.
Der Star stolzierte auf dem Fensterbrett hin und her, vor und zurück,
und hielt dabei die Flügelspitzen unter den Schwanzfedern gefaltet.
In der Wiege regte es sich. Annabel schlug die Augen auf.
»Hallo!« sagte sie. »Ich habe schon auf dich gewartet.«
»Aha«, sagte der Star und flatterte zu ihr hin.
»Ich möchte mich gern an etwas erinnern«, sagte Annabel, die Stirn
runzelnd, »und ich dachte, du könntest mich darauf bringen.«
Er horchte auf. Seine schwarzen Augen glitzerten.
»Wie klang es?« fragte er sanft. »Etwa so?«
Und mi t heiserem Flüstern begann er: »Ich bin Erde und Luft und
Feuer und Wasser . . .«
»Nein, nein«, unterbrach ihn Annabel ungeduldig. »Natürlich nicht.«
»Na schön«, sagte der Star beunruhigt. »Wie wär's dann mit deiner
Reise? Du kamst von der See und ihren Gezeiten, du kamst vom Himmel
und . . .«
»Ach, sei doch nicht albern!« rief Annabel. »Die einzige Reise, die ich
unternahm, ging in den Park heute morgen und wieder zurück. Nein,
nein — es war etwas Wichtiges. Es fing mi t B an.«
Plötzlich krähte sie.
»Jetzt hab ich's!« rief sie. »Biskuit war's. Ein halber Kinderzwieback
oben auf dem Kaminsims. Michael hat ihn nach dem Tee dort vergessen!
«
»Und das ist alles?« fragte traurig der Star.
»Ja, natürlich«, sagte Annabel gereizt. »Ist das etwa nicht genug? Ich
dachte, du würdest dich freuen über ein schönes Stück Zwieback!«
»Das tu ich auch, das tu ich!« sagte der Star hastig. »Aber . . .«
Annabel drehte den Kopf auf dem Kissen und schloß die Augen.
»Sprich bitte nicht mehr«, sagte sie. »Ich möchte schlafen.«
Der Star blickte zum Kaminsims hinüber und dann wieder auf Annabel.
»Biskuit!« sagte er kopfschüttelnd. »Arme Annabel, so was!«
Mary Poppins kam leise herein und schloß die Tür. »Ist sie wach geworden?
« erkundigte sie sich flüsternd.
Der Star nickte.
»Nur für eine Minute«, sagte er traurig. »Aber es langte.«
Mary Poppins warf ihm einen fragenden Blick zu.
»Sie hat vergessen«, sagte er und hatte plötzlich einen Kloß in der
Kehle. »Sie hat alles vergessen. Ich wußte es im voraus. Aber ach, meine
Liebe, wie schade!«
»Hmpf!«
Mary Poppins ging ruhig im Kinderzimmer umher und räumte das
Spielzeug weg. Sie blickte nach dem Star. Er stand auf dem Fensterbrett,
den Rücken ihr zugekehrt, und seine gesprenkelten Schultern bebten.
»Wieder mal erkältet?« bemerkte sie anzüglich.
Er fuhr herum.
»Das nicht. Es ist — hm — die Nachtluft. Bißchen frostig, weißt du.
Treibt einem das Wasser in die Augen. Nun — ich muß weg.«
Er watschelte unsicher zum Rand des Fensterbretts. »Ich werde alt«,
krächzte er traurig. »Das i s t ' s ! Nicht mehr so jung, wie wi r waren. Was,
Mary Poppins?«
»Ich weiß nicht, wie es mi t dir s t e h t . . . « Mary Poppins reckte sich
hochmütig. »Aber ich bin immer noch so jung wie früher, besten Dank
für die Nachfrage!«
»Ach«, sagte der Star kopfschüttelnd. »Du bist ein Wunder. Ein wahres,
erstaunliches, großartiges Wunder!« Seine runden Augen zwinkerten
mutwillig.
»Man sollt's nicht denken!« rief er herausfordernd zurück, als er aus
dem Fenster schoß.
»Unverschämter Spatz!« schrie sie ihm nach und schloß mi t einem
Knall das Fenster .. .
6. Kapitel
Die Geschichte v on Robertson Ay
»Geht weiter, bitte!« sagte Ma r y Poppins und stieß den Kinderwagen
mi t den Zwillingen an dem einen und Annabel am anderen Ende zu
ihrem Lieblingsplatz im Park. Das war eine grüne Bank, dicht am Teich,
und sie hatte sie erwählt, weil sie sich hin und wieder vorbeugen und
ihr Spiegelbild im Wasser begutachten konnte. Der Anblick ihres Gesichts,
das zwischen zwei Wasserlilien hervorschimmerte, erzeugte in ihr
stets ein Gefühl angenehmer Befriedigung.
Michael zottelte hinterdrein.
»Wir gehen und gehen«, flüsterte er Jane brummig zu, wobei er wohl
achtgab, daß Mary Poppins ihn nicht hörte, »aber es scheint, wi r kommen
nirgends hin.«
Mary Poppins drehte sich um und sah ihn scharf an.
»Setz deinen Hut gerade!«
Michael zog seinen Hut bis über die Aug en. Au f dem Band stand
>SMS Trompeter<, und er fand, daß der Hut ihn recht gut kleidete.
Aber Mary Poppins blickte verächtlich auf die beiden.
»Hmpf!« machte sie. »Ein hübsches Bild gebt ihr ab, das muß ich
sagen! Kriecht dahin wie zwei Schildkröten, und nicht mal die Schuhe
sind geputzt!«
»Och, Robertson Ay hat seinen freien Nachmittag«, sagte Jane. »Er
hat wohl keine Zeit gehabt, sie zu putzen, ehe er wegging.«
»Tz-tz! Ein träger, fauler Tunichtgut — das ist er. Das war er schon
immer und wird's immer bleiben!« sagte Ma r y Poppins und stieß ungestüm
den Kinderwagen auf ihre grüne Bank zu.
Sie hob die Zwillinge heraus und zog das Wickeltuch fester um Annabel.
Sie spähte nach ihrem sonnenhellen Spiegelbild im Teich und
lächelte überlegen, während sie ihre neue Bandschleife am Hal s zurechtzupfte.
Dann nahm sie ihren Strickbeutel aus dem Wagen.
»Woher weißt du, daß er immer faul war?« fragte Jane. »Hast du
Robertson Ay denn schon gekannt, bevor er zu uns kam?«
»Wer viel fragt, kriegt viel Antwort!« sagte Mary Poppins von oben
herab und begann, die Maschen zu einem wollenen Wämschen für John
aufzunehmen.
»Sie erzählt uns nie etwas!« beschwerte sich Michael.
»Ich weiß!« seufzte Jane.
Aber bald vergaßen sie Robertson Ay und begannen, >Vater und Mut -
ter und Kinder< zu spielen. Dann verwandelten sie sich in rote Indianer,
und John und Barbara waren die Squaws. Und danach stellten sie Seiltänzer
vor, wobei die Banklehne ihnen als Seil diente.

»Gebt gefälligst acht auf meinen Hut!« sagte Mary Poppins. Es war
ein brauner Hut , hinter dessen Band eine Taubenfeder steckte.
Michael setzte auf der Banklehne vorsichtig einen Fuß vor den anderen.
Al s er am Ende angelangt war, riß er den Hut vom Kopf und
winkte damit.
»Jane!« rief er, »ich bin der Schloßkönig und du die . . . «
»Still, Michael!« unterbrach sie ihn und deutete über den Teich.
»Schau mal da hinüber!«
Den Pfad am Rande des Teiches entlang kam eine hochgewachsene,
magere Gestalt in seltsamer Kleidung, ein Mann in gelb und rot geringelten
Strümpfen und einem rot-gelben Umhang mit runden Zacken. Auf
dem Kopf trug er einen breitkrempigen rot-gelben Hut, auf dem eine
spitze Krone saß.
Jane und Michael blickten ihm gespannt entgegen. Er ging mit lässigen,
schwankenden Schritten, die Hände in den Taschen und den Hut
bis über die Augen gezogen.
Er pfiff laut vor sich hin, und als er näher kam, sahen die Kinder, daß
die Zacken seines Umhangs und seine Hutkrempe mi t kleinen Schellen
besetzt waren, die bei jeder Bewegung melodisch klingelten. Etwas so
Seltsames hatten sie noch nie gesehen — und dennoch berührte etwas an
der Erscheinung sie merkwürdig vertraut.
»Mir kommt es vor, als hätte ich ihn schon einmal gesehen«, sagte
Jane stirnrunzelnd und suchte in ihrer Erinnerung.
»Mir auch. Aber ich weiß nicht mehr, wo!« Michael balancierte auf
der Banklehne und sah nachdenklich vor sich hin.
Pfeifend und klingelnd schlenderte der seltsame Mann zu Mary Poppins
hin und lehnte sich gegen den Kinderwagen.
»Tag, Mary!« sagte er. »Wie geht es dir?«
Mary Poppins blickte von ihrem Strickzeug auf. »Keineswegs besser
durch deine Frage«, sagte sie abweisend.
Jane und Michael konnten das Gesicht des Mannes nicht sehen, denn
die Hutkrempe war tief herabgezogen, aber am Geklingel der Glöckchen
merkten sie, daß er lachte.
»Wieder einmal beschäftigt, ich seh schon«, bemerkte er mit einem
Blick auf das Strickzeug. »Aber das warst du ja immer, selbst damals bei
Hof. Wenn du nicht gerade den Thron abstaubtest, machtest du dem
König das Bett, und wenn es das nicht war, putztest du die Kronjuwelen.
So was von einem Arbeitstier gibt's nicht noch einmal.«
»Na, das kann man von dir nicht gerade behaupten«, sagte Mary
Poppins unwirsch.
»Ach«, lachte der Fremde. »Darin irrst du dich aber! Ich bin immer
beschäftigt. Nichtstun nimmt eine Menge Zeit in Anspruch! Genaugenommen
meine ganze Zeit!«
Mary Poppins schob die Lippen vor und antwortete nicht.
Der Fremde kicherte vergnügt. »Nun, ich muß weiter«, sagte er. »Auf
Wiedersehen, bei Gelegenheit!«
Er fuhr mi t dem Finger über die Schellen an seinem Hut und trollte
sich gemächlich, beim Gehen vor sich hin pfeifend.
Jane und Michael sahen ihm nach, bis sie ihn aus den Au g e n verloren.
»Hanswurst!« entfuhr es Mary Poppins scharf, und als die Kinder sich
nach ihr umdrehten, stellten sie fest, daß auch sie ihm nachblickte.
»Wer war das, Mary Poppins?« erkundigte sich Michael und hüpfte
aufgeregt auf der Bank herum.
»Ich hab's ja eben gesagt«, fuhr sie ihn an. »Du hast vorhin behauptet,
du wärst der Schloßkönig — und das bist du nicht, gar nicht daran zu
denken! Aber der da, das ist der Hanswurst.«
»Du meinst den aus dem Kinderreim?« fragte Jane atemlos.
»Aber Kinderreime sind doch nicht wahr!« widersprach Michael. »Und
wenn doch, wer ist dann der Schloßkönig?«
»Seht!« sagte Jane und legte ihm die Hand auf den Arm.
Mary Poppins hatte ihr Strickzeug sinken lassen; sie blickte geistesabwesend
über den Teich.
Jane und Michael verhielten sich mäuschenstill, in der Hoffnung, daß
sie ihnen die ganze Geschichte erzählen würde, wenn sie keinen Mucks
von sich gaben. Die Zwillinge kuschelten sich dicht aneinander und
guckten Mary Poppins erwartungsvoll an. Annabel schlief fest.
»Der König auf seinem Schloß«, begann Mary Poppins; die Hände
über dem Wollknäuel gefaltet, blickte sie durch die Kinder hindurch, als
wären sie gar nicht vorhanden. »Der König auf seinem Schloß lebte in
einem Land, so wei t weg, daß die meisten Menschen nie davon gehört
haben. Denkt, so weit, wie ihr könnt, und es ist immer noch weiter;
denkt, so hoch, wie ihr könnt, und es ist immer noch höher; denkt, so
tief, wie ihr könnt, und es ist immer noch tiefer.
Und wenn ich euch aufzählen wollte, was er alles besaß, würden wir
bis nächstes Jahr hier sitzen und hätten erst die Hälfte seiner Reichtümer
kennengelernt. Er war ungeheuer reich. In der Tat gab es auf der ganzen
Welt nur eins, was ihm fehlte: und das war Verstand.«
Nach einer kleinen Pause fuhr Mary Poppins fort:
»Sein Land steckte voller Goldminen, sein Volk war höflich, wohlhabend
und im allgemeinen wohlgeraten. Er hatte eine gute Frau und
vier wohlgenährte Kinder — vielleicht waren es auch fünf. Er konnte sich
nie auf die genaue Zahl besinnen, denn sein Gedächtnis war schlecht.
Sein Schloß war aus Silber und Granit, seine Kisten voller Gold, und
die Edelsteine in seiner Krone waren so groß wie Enteneier.
Er besaß wunderbare Städte und auf dem Meer einen Haufen Segel-
schiffe. Al s rechte Hand stand ihm ein Staatskanzler zur Seite, der sich
überall auskannte und den König entsprechend beriet.
Aber der König war ohne Verstand. Er war schrecklich töricht, um
nicht zu sagen: dumm, und mehr noch, er wußte es auch. Tatsächlich
konnte er gar nicht anders, denn v on der Königin und dem Staatskanzler
angefangen rieb es ihm jeder dauernd unter die Nase. Selbst Autobusfahrer
und Lokomotivführer und die Verkäufer in den Läden konnten
sich's nicht verkneifen, ihn merken zu lassen, daß sie wußten, wie wenig
klug er war. Sie hatten nichts gegen ihn, sie verachteten ihn bloß.
Es war nicht seine Schuld, daß er so dumm war. Von frühester Kindheit
an hatte er immer wieder versucht, etwas zu lernen. Aber mitten in
den Unterrichtsstunden brach er, selbst noch als Erwachsener, plötzlich in
Tränen aus und rief, sich die Augen mit seinem Hermelinmantel wi -
schend:
>Ich weiß, ich schaffe es nicht — nie! Weshalb nörgelt ihr denn an mir
herum?<
Aber seine Lehrer fuhren trotzdem fort, sich alle Mühe zu geben. Aus
der ganzen Welt eilten Professoren herbei, um dem König auf seinem
Schloß etwas beizubringen — und wäre es auch nur das Einmaleins oder
das Abc. Aber keiner hatte Erfolg.
Dann hatte die Königin einen Einfall.
>Laßt uns<, so sagte sie zu dem Staatskanzler, >eine Prämie aussetzen
für jeden Professor, der dem König ein wenig Wissen beibringt! Wenn
er aber am Ende eines Monats keinen Erfolg aufzuweisen hat, so soll
man ihm den Kopf abschlagen und auf einem Spieß am Schloßtor aufpflanzen,
als Warnung für die anderen Professoren, damit sie sehen, was
ihnen blüht, wenn sie versagen.<
Und da die meisten Gelehrten ziemlich arm waren und die Belohnung
aus einer großen Summe Geldes bestand, kamen immer wieder Professoren,
richteten nichts aus und verloren ihren Kopf. Und am Schloßtor
mehrten sich die Spieße mit den abgeschlagenen Köpfen.
Es wurde immer schlimmer. Und zu guter Letzt sagte die Königin zum
König:
>Adalbert< — so hieß der König mi t Vornamen —, >ich glaube wirklich,
es wäre besser, du überließest das Regieren mir und dem Staatskanzler,
denn wir beide wissen über alles Bescheid!<
>Aber das wäre nicht gerecht!< wehrte sich der König. Schließlich ist
es doch mein Königreich.<
Aber endlich gab er nach, denn er wußte, daß sie die Klügere war. Indessen
litt er so darunter, in seinem eigenen Schloß herumkommandiert
zu werden und ein altes, verbogenes Zepter benutzen zu müssen, weil
er von dem richtigen Zepter immer den Knauf abnagte, daß er auch weiterhin
Professoren empfing, um etwas von ihnen zu lernen. Wenn sich
wieder einmal herausstellte, daß alles vergeblich war, dann weinte er
bitterlich. Er weinte um ihretwillen nicht weniger als um seinetwillen,
denn es machte ihn unglücklich, wenn er ihre Köpfe am Schloßtor sah.
Jeder neue Professor traf vol l Zuversicht ein und begann mit einigen
Fragen, die sein Vorgänger nicht gestellt hatte.
>Was macht sechs und sieben, Euer Majestät?< wollte ein junger,
hübscher Professor von ihm wissen, der von weit her gekommen war.
Und der König strengte sich nach Kräften an und dachte eine Weile
nach. Dann beugte er sich eifrig vor und antwortete:
>Zwölf natürlich!<
>Tz-tz-tz!< machte der Staatskanzler.
Der Professor seufzte.
>Sechs und sieben macht dreizehn, Euer Majestät!<
>Ooh, das tut mir aber leid! Versuchen Sie's bitte mi t einer anderen
Frage, Professor. Ich bin sicher, diesmal gebe ich die richtige Antwort.<
>Na schön. Wa s macht dann fünf und acht?<
>Hm, hm, warten Sie mal! Verraten Sie's nicht, es liegt mir schon auf
der Zunge. Ja! Fünf und acht macht elf!<
>Tz-tz-tz!< ließ sich der Staatskanzler hören.
>Dreizehn<, rief der junge Professor entmutigt.
>Aber, mein lieber Herr! Soeben sagten Sie, daß sechs und sieben dreizehn
macht, wie kann dann fünf und acht das gleiche ergeben? Es gibt
doch sicherlich nicht zwe i Dreizehnen?<
Doch der junge Professor schüttelte nur den Kopf, knöpfte sich den
Kragen auf und ging niedergeschlagen mi t dem Henker davon.
>Gibt es denn mehr als eine Dreizehn?< fragte der König nervös.
Der Staatskanzler wandte sich verächtlich ab.
>Tut mir leid<, sagte der König zu sich selbst. >Mir gefiel sein Gesicht
so gut. Es ist ein Jammer, daß es auf einem Spieß landen muß.<
Und dann stürzte er sich hartnäckig wieder auf seine Rechenaufgaben,
in der Hoffnung, daß er bei der Ankunft des nächsten Professors imstande
sein würde, die richtige Antwort zu geben.
Er setzte sich dabei gern auf die oberste Stufe der Schloßtreppe, dicht
neben die Zugbrücke; auf seinen Knien lag das Rechenbuch, und er wiederholte
das Einmaleins still für sich selbst. Und solange er in das Buch
guckte, ging alles gut , aber wenn er die Augen schloß und aus dem Gedächtnis
aufsagen wollte, ging alles schief.
>Einmal sieben ist sieben, zweimal sieben ist dreiunddreißig, dreimal
sieben ist vierundfünfzig . . .<, begann er eines Tages, und als er feststellte,
daß wieder alles falsch war, warf er das Buch angeekelt fort und
barg den Kopf in seinem Mantel.
>Es nützt nichts, es nützt nichts! Ich werde nie gescheit werden!< rief
er verzweifelt.
Schließlich aber, weil er doch nicht ewig weinen konnte, wischte er sich
die Augen und lehnte sich in seinen goldenen Stuhl zurück. Gleich darauf
fuhr er überrascht hoch. Denn ein Fremder hatte die Wache am
Schloßtor zur Seite gestoßen und kam jetzt den Pfad herauf, der zum
Schloß führte.
>Hallo<, sagte der König, >wer bist du?<
>Wenn's darum geht<, erwiderte der Fremde, >wer bist denn du?<
>Ich bin der König hier im Schloß<, sagte der König; er nahm das verbogene
Zepter auf und gab sich Mühe, bedeutend auszusehen.
>Und ich bin der Hanswurst<, kam die Antwort.
Der König sperrte vor Verwunderung die Augen auf.
>Es gibt dich also wirklich? Wi e interessant! Ich freue mich sehr, dich
kennenzulernen. Weißt du, wieviel sieben mal sieben ist?<
>Nein. Warum sollte ich?<
Da stieß der König einen Schrei des Entzückens aus, und die Stufen
hinabeilend, umarmte er den Fremden.
>Endlich! Endlich!< rief der König. »Ich habe einen Freund gefunden.
Du sollst bei mir bleiben! Wa s mir gehört, soll auch dir gehören! Wi r
wollen unser ganzes Leben lang zusammenbleiben!<
>Aber, Adalbert<, widersprach die Königin, »das ist doch ein ganz gewöhnlicher
Kerl! Den kannst du nicht hierbehalten.<
>Euer Majestät<, sagte der Staatskanzler streng. >Das geht nicht.<
Doch zum erstenmal bot ihm der König die Stirn.
>Das geht sehr wohl!< sagte er gebieterisch. »Wer ist hier der König?
Du oder ich?<
>Nun, natürlich, sozusagen bist du es, das soll wohl sein, Majestät,
aber . . .<
>Nun gut. Gib dem Mann eine Schellenkappe; er soll mein Narr sein!<
>Ein Narr!< schrie die Königin und rang die Hände. »Haben wi r den
hier noch nötig?<
Aber der König antwortete nicht. Er legte dem Fremden den A rm um
die Schulter, und beide tänzelten davon, hinüber zum Eingangstor.
>Geh du voran!< sagte der König höflich.
>Nein, bitte du!< sagte der Fremde.
>Dann also beide zugleich!< entschied der König großzügig, und sie
schritten Seite an Seite durch das Tor.
Von diesem Tage an machte der König keine Anstrengungen mehr,
seine Aufgaben zu lernen. Er warf all seine Bücher auf einen großen
Haufen und verbrannte sie im Schloßhof. Er und sein Freund tanzten um
das Feuer und sangen:
>Ich b in der König hier im Schloß . . .
Und ich der Hanswurst, dein Genoss'!<
>Ist das das einzige Lied, das du kennst?< fragte der Narr eines Tages.
>Ich fürchte, ja!< sagte der König ein wenig traurig. >Kennst du noch
andere?<
»Du liebe Güte, natürlich!< sagte der Narr. Und er sang mit frischer
Stimme:
>Flieg, Bienlein, flieg,
Damit ich Honig krieg.
Und bringst du nur ein Tröpfchen,
Ich sammle es in mein Töpfchen,
Da hab ich was aufs Frühstücksbrot:
Honig macht die Wangen rot.<
Und:
>Hat Scheren, aber schneidet nicht,
Den Panzer trägt er nur zum Spaß.
Wer ist das wohl? Sag, weißt du das?
Ach du Dummer — ein Hummer!<
Und:
>Die Buben, die Mädchen, alle die vielen,
Kommen gerannt zu fröhlichen Spielen.
Das Schaf auf der Wiese, im Stalle die Kuh,
Alles fällt um: Baby — Wiege — und du.<
>Großartig!< rief der König und klatschte Beifall. »Aber jetzt hör zu!
Ich habe mir grad selber was ausgedacht. Das geht so:
Alle Hunde mit großen Pratzen
Hassen die Katzen,
Dideldideldum!<
>Hm!< sagte der Narr. »Gar nicht so schlecht!<
>Warte mal!< sagte der König. >Mir ist grad noch was anderes eingefallen.
Ich denke, das ist besser. Hör gut zu!<
Und er sang:
>Pflück mir eine Blume,
Pflück mir einen Stern,
Brat sie mir recht knusprig,
So esse ich sie gern.
Trallalala!
So esse ich sie gern!<
>Bravo!< rief der Narr. »Jetzt wollen wir es mal zusammen singen!<
Und der König und er tanzten durch das ganze Schloß und sangen die
beiden Lieder des Königs, eines nach dem anderen, nach einer höchst
eigenartigen Melodie. Und als sie genug gesungen hatten, fielen sie im
großen Wandelgang um, fielen übereinander und schliefen ein.
>Es wird immer schlimmer mi t ihm<, sagte die Königin zum Staatskanzler.
>Was machen wir nur?<
>Ich habe eben erfahren<, erwiderte der Staatskanzler, >daß der klügste
Mann im ganzen Königreich, der berühmteste von allen Professoren,
morgen hier eintrifft. Vielleicht kann der uns helfen!<
Am nächsten Ta g kam der große Professor an; er wanderte, eine
kleine schwarze Aktentasche in der Hand, flink den We g zum Schloß
empor. Es regnete ein bißchen, aber der ganze Hof hatte sich oben auf
der Treppe versammelt, um ihn zu empfangen.
>Glaubst du, er hat sein Wissen in der kleinen schwarzen Tasche mit?<
flüsterte der König. Aber der Narr, der in ein Spiel vertieft neben dem
Thron saß, lächelte nur und würfelte weiter.
>Nun, wenn Euer Majestät geruhen<, sagte der große Professor mi t
geschäftsmäßiger Stimme, >dann fangen wi r mi t Rechnen an. Kann Euer
Majestät folgendes beantworten: Wenn zwei Männer und ein Junge
Mitte Februar einen Schubkarren über ein Kleefeld rollen, wieviel Beine
haben sie dann zwischen sich?<
Der König blickte ihn eine Weile nachdenklich an und rieb sich mit
dem verbogenen Zepter die Backe.
Der Narr warf ein Würfelknöchelchen in die Luft und fing es geschickt
mit dem Handrücken auf.
>Ist das wichtig?< sagte der König und lächelte freundlich.
Der große Professor stutzte und blickte den König erstaunt an.
>Genaugenommen<, sagte er ruhig, >ist es das nicht. Aber ich werde
Euer Majestät etwas anderes fragen. Wi e tief ist das Meer?<
>Tief genug, um ein Schiff zu tragen.<
Wieder stutzte der berühmte Professor, und sein langer Bart zitterte.
>Welcher Unterschied ist zwischen einem Stern und einem Stein, einem
Vogel und einem Menschen, Euer Majestät?<
>Ãœberhaupt kein Unterschied, Professor. Ein Stein ist ein Stern, der
nicht strahlt. Ein Mann ist ein Vogel ohne Flügel.<
Der große Professor starrte den König verwundert an.
>Was ist das Beste in der Welt?< fragte er ruhig.
>Nichts tun<, entgegnete der König und wedelte mit seinem verbogenen
Zepter.
>Oje, oje!< jammerte die Königin. »DAS IST JA FURCHTBAR!<
>Tz-tz-tz!< machte der Staatskanzler.
Aber der berühmte Professor rannte die Stufen empor und stellte sich
dicht vor den Königsthron.
>Wer hat Euch diese Dinge gelehrt, Majestät?< fragte er.
Der König deutete mi t seinem Zepter auf den Narren.
>Der da<, sagte er und drückte sich damit nicht gerade gewählt aus.
Der große Professor hob die buschigen Brauen. Der Narr blickte zu
ihm auf und lächelte. Er war f ein Würfelknöchlein in die Luft, und der
Professor fing es, sich vorbeugend, mit dem Handrücken auf.
>Ha!< rief er. >Dich kenne ich. Schon an der Schellenkappe erkenne ich
den Hanswurst!<
>Haha!< lachte der Narr.
>Was hat er Euch sonst noch beigebracht, Majestät?< wandte sich der
große Professor wieder an den König.
>Singen!< erwiderte der König.
Und er erhob sich und sang:
>Eine Kuh, schwarz und weiß,
Untern Baum legt sie sich,
Und wäre ich sie,
So wär ich nicht ich!<
>Sehr wahr<, sagte der Professor. >Und wa s noch?<
Und wieder sang der König, mi t einer angenehmen, etwas zittrigen
Stimme:
>Die Erde dreht sich,
Ohne zu kippen.
Darum läuft das Meer
Nicht über die Klippen.<
>Das stimmt<, bemerkte der Professor. >Noch etwas?<
>Du meine Güte, natürlich!< sagte der König, sehr stolz auf seinen Erfolg.
>Da ist noch das hier:
Wollt ich nur immer lernen,
Wär ich bald neunmalklug.
Um dann noch nachzudenken,
Hätt ich nicht Zeit genug.
Aber vielleicht mögen Sie das hier noch lieber, Professor?
Die Fahrt um die Welt,
Sie zahlt sich nicht aus,
Denn der We g führt zuletzt
Doch wieder nach Haus!<
Der berühmte Professor klatschte Beifall.
>Ich weiß noch eins<, sagte der König. >Wenn Sie das hören möchten?<
Der König legte den Kopf zur Seite und bunkerte dem Narren zu. Mit
spitzbübischem Lächeln sang er:
>Die großen Professoren,
Die sollt man allesamt
In dem Trog ersäufen,
Au s dem ihr Wissen stammt.<
Am Schluß des Liedes lachte der Professor hellauf und fiel dem König
zu Füßen.
>O König<, sagte er, >du sollst lange leben! Du hast mich nicht nötig!<
Und ohne ein weiteres Wo r t rannte er die Schloßtreppe hinunter und
riß sich den Mantel, den Rock und die Weste vom Leibe. Dann warf er
sich ins Gras und rief nach einer Schüssel Erdbeeren mi t Schlagsahne und
nach einem großen Glas Bier.
>Tz-tz-tz!< machte der Staatskanzler entsetzt. Denn jetzt rannten alle
Höflinge die Treppe hinunter, rissen sich die Röcke vom Leibe und wälzten
sich im regennassen Gras.
>Erdbeeren und Bier! Erdbeeren und Bier!< riefen sie durstig.
>Gebt dem den Preis!< sagte der große Professor, sein Bier durch einen
Strohhalm saugend, und deutete mi t dem Kopf auf den Narren.
>Puh!< sagte der Narr. >Ich will ihn nicht haben. Wa s soll ich damit?<
Und er krabbelte auf die Füße, steckte seine Würfelknöchlein in die
Tasche und trollte sich davon.
>He! Wohin gehst du?< rief der König ängstlich.
>Ach, irgendwohin, irgendwohin!< sagte der Narr unbestimmt und
entfernte sich hüpfend und springend.
>Wart auf mich, war t auf mich!< rief der König und stolperte über
seine Mantelschleppe, als er die Stufen hinabrannte.
>Adalbert! W a s tust du nur? Du vergißt dich!< schrie die Königin.
>Keineswegs, meine Liebe!< rief der König zurück. >Im Gegenteil, ich
besinne mich zum erstenmal auf mich selbst.<
Er rannte den We g hinunter, holte den Narren ein und umarmte ihn.
>Adalbert!< schrie die Königin wieder.
Der König beachtete es nicht.
Der Regen hatte aufgehört, aber die Luft war immer noch feucht. Und
plötzlich bildete die Sonne einen Regenbogen, der sich in mächtigem
Schwung zum Schloß niedersenkte.
»Ich denke, wir nehmen diesen Weg<, sagte der Narr und deutete mit
dem Finger auf den Bogen.
>Was? Den Regenbogen? Ist der denn fest genug? Wird er uns tragen?<
>Versuch's!<
Der König blickte auf die schimmernden Streifen von Violett, Blau,
Grün, Gelb, Hell- und Dunkelrot. Und dann auf den Narren.
>Na schön<, sagte er. >Mir soll's recht sein! Komm!<
Er betrat die farbenfrohe Brücke.
>Sie hält!< rief er entzückt. Und behende rannte er mi t hochgehobener
Schleppe den Regenbogen hinauf.
>Ich bin der König hier im Schloß!< sang er triumphierend.
>Und ich der Hanswurst, dein Genoss'!< rief der Narr und rannte hinterdrein.
>Aber — das ist doch unmöglich!< sagte der Staatskanzler.
Der große Professor lachte und verdrückte noch eine Erdbeere.
>Wie kann etwas, was wirklich geschieht, unmöglich sein?< fragte er.
>Aber es ist nicht möglich! Es ist nicht! Es verstößt gegen alle Naturgesetze!<
Das Gesicht des Staatskanzlers wurde rot vor Wut .
Die Königin stieß einen Schrei aus.
>Ach, Adalbert, komm doch zurück!< flehte sie. >Es soll mir gleich sein,
wie töricht du bist, wenn du nur wiederkommst!<
Der König blickte über die Schulter zurück und schüttelte den Kopf.
Der Narr lachte laut. Immer höher stiegen sie miteinander, gleichmäßigen
Schrittes kletterten sie den Regenbogen hinauf.
Etwas Schweres und Glitzerndes fiel der Königin vor die Füße. Es war
das verbogene Zepter. Einen Augenblick später folgte die Königskrone.
Flehend streckte sie die Arme aus.
Aber statt aller Antwort stimmte der König mit seiner hohen und trällernden
Stimme nun folgendes Lied an:
>Sag: leb wohl, mein Lieb,
Weine nicht, mein Lieb,
Du bist klug, mein Lieb,
Und ich bin's auch!<
Der Narr warf ihr mit verächtlicher Handbewegung ein Würfelknöchlein
hinunter. Dann gab er dem König einen kleinen Stoß und drängte
ihn vorwärts. Der König hob seine Mantelschleppe auf und rannte davon,
der Narr dicht auf seinen Fersen. Immer weiter entfernten sie sich
über die strahlende, farbenprächtige Brücke, bis sich eine Wolke davor
schob und sie den Augen der Königin entzog.
>Du bist klug, mein Lieb,
Und ich bin's auch!<
Wi e ein Widerhall klang das Lied des Königs noch einmal zurück. Sie
hörte den letzten dünnen Triller, als der König schon verschwunden war.
>Tz-tz-tz!< machte der Staatskanzler. >So etwas gibt es einfach nicht!<
Aber die Königin setzte sich auf den leer gewordenen Thron und
schluchzte bitterlich.
>O weh<, weinte sie leise hinter den vorgehaltenen Händen. >Mein
König ist fort, und ich bin ganz verzweifelt. Niemals wird es wieder, wie
es war!<
Unterdessen hatten der König und der Narr den höchsten Punkt des
Regenbogens erreicht.
>Was für ein Gekletter!< sagte der König, setzte sich nieder und zog
den Mantel enger um die Schultern. >Ich denke, ich bleibe hier ein bißchen
sitzen — vielleicht auch länger. Geh du nur ruhig weiter!<
>Wird es dir nicht zu einsam?< fragte der Narr.
>Ach nein. Warum denn? Es ist hier oben hübsch friedlich und still.
Und ich kann nachdenken — oder besser noch — schlafen.< Und damit
streckte er sich auf dem Regenbogen aus und stopfte den Mantel unter
den Kopf.
Der Narr beugte sich nieder und gab ihm einen Kuß.
>So leb denn wohl, König<, sagte er sanft, >du brauchst mich nicht
länger.<
Er verließ den ruhig Schlafenden und stieg pfeifend den Regenbogen
auf der anderen Seite hinab.
Und dann wanderte er weiter durch die Welt, wie er es vor seiner Begegnung
mi t dem König getan hatte, singend und pfeifend und nicht
weiter denkend als bis zum nächsten Augenblick.
Zuweilen diente er einem anderen König und seinem Volk, zuweilen
aber mischte er sich auch unter die einfachen Leute, die in engen Straßen
oder Seitengäßchen lebten. Manchmal trug er eine prächtige Livree und
manchmal Kleider, so armselig wie kaum ein anderer. Aber ganz gleich,
wohin er sich wandte, stets brachte er Wohlstand und Glück unter das
Dach, das ihn beherbergte . . . «
Mary Poppins verstummte. Eine Weile noch lagen ihre Hände ruhig in
ihrem Schoß, und ihre Augen starrten blicklos ins Weite.
Dann seufzte sie, schüttelte ein wenig die Schultern und stand auf.
»Also denn!« sagte sie munter, »nehmt die Füße in die Hand und ab
nach Hause!«
Al s sie sich umdrehte, entdeckte sie, daß Jane sie unverwandt ansah.
»Hoffentlich erkennst du mich beim nächsten Ma l wieder«, bemerkte
sie spöttisch. »Und du, Michael, mach, daß du von der Bank herunterkommst!
Du willst dir wohl den Hals brechen, damit ich in Ungelegenheiten
gerate und einen Schutzmann holen muß?«
Sie schnallte die Zwillinge im Kinderwagen fest und schob ihn dann
ungeduldig vor sich her. Jane und Michael marschierten hinterdrein.
»Ich möchte wissen, wohin der König geriet, als der Regenbogen verschwand
«, sagte Michael nachdenklich.
»Wahrscheinlich begleitete er ihn, wohin er auch ging«, meinte Jane.
»Aber wa s ich wissen möchte: was geschah mi t dem Narren?«
Mary Poppins hatte den Kinderwagen in die Ulmenallee geschoben.
Als die Kinder um die Ecke bogen, packte Michael Jane an der Hand.
»Da ist er ja!« schrie er aufgeregt und deutete die Ulmenallee hinunter
nach dem Parktor.
Eine hochgewachsene, hagere Gestalt, seltsam rot und gelb gekleidet,
schwankte auf den Ausgang zu. Am Kirschbaumweg blieb sie stehen und
blickte pfeifend nach rechts und links. Dann schlurfte sie über die Straße
und schwang sich auf der anderen Seite lässig über eine Gartenmauer.
»Das ist doch bei uns!« sagte Jane, denn sie erkannte die Mauer an
einem ausgebrochenen Ziegelstein. »Er ist in unsern Garten gesprungen.
Lauf, Michael, wir wollen ihn einholen!«
Sie rannten im Galopp hinter Mary Poppins her.
»Nanu, nanu! Hier wird nicht Pferdchen gespielt!« sagte Ma r y Poppins
und hielt Michael am Arm fest, als er an ihr vorbei wollte.
»Aber wi r möchten . . . « , begann er, sich unter ihrem Griff windend.
»Was hab ich gesagt?« fragte sie mi t einem so strengen Blick, daß er
sich nicht zu widersetzen wagte. »Bleib gefälligst neben mir und benimm
dich. Und du, Jane, du kannst mir den Kinderwagen schieben helfen!«
Unwillkürlich fiel Jane mi t ihr in gleichen Schritt.
Für gewöhnlich erlaubte Mary Poppins keinem anderen, den Kinderwagen
zu schieben. Aber heute schien es Jane, als wollte sie mi t Absicht
verhindern, daß sie beide vorausliefen. Denn Mary Poppins, die sonst
so schnell ging, daß es schwerfiel, mi t ihr Schritt zu halten, kroch so
langsam wie eine Schnecke durch die Ulmenallee, hielt alle Augenblicke
an, um Umschau zu halten, und blieb mindestens eine Minute vor einem
Abfallkorb stehen. Stunden schien es zu dauern, bis sie endlich ans Parktor
gelangten. Auch dann noch ließ sie Jane und Michael nicht von ihrer
Seite, bis endlich Nummer siebzehn erreicht war . Nu n aber waren die
beiden nicht mehr zu halten und stoben durch den Garten davon.
Sie schauten hinter den Fliederbaum. Da war niemand. Sie suchten
zwischen den Rhododendronbüschen und spähten ins Treibhaus, in den
Geräteschuppen und die Wassertonne. Sie guckten sogar in den aufgerollten
Gartenschlauch. Der Schellenmann war nirgends zu entdecken.
Nur ein Mensch war im Garten, und das war Robertson Ay . Mitten
auf dem Rasen, die Wange gegen die Mähmaschine gepreßt, lag er und
schlief.
»Wir haben ihn verfehlt!« sagte Michael. »Er muß den We g abgekürzt
haben und ist zur Hintertür hinaus. Jetzt sehen wir ihn nie wieder.«
Er kehrte zum Rasenmäher zurück. Dor t stand Jane und blickte liebe-
voll auf Robertson Ay nieder. Sein Filzhut wa r tief übers Gesicht gezogen;
der zerbeulte Kopf lief in eine hakenförmig gebogene Spitze aus.
»Ich möchte wissen, ob ihm sein freier Nachmittag Spaß gemacht hat«,
sagte Michael flüsternd, um ihn nicht zu stören.
So leise er gesprochen hatte, Robertson Ay mußte ihn dennoch gehört
haben. Denn plötzlich regte er sich im Schlaf und rückte, eine bequemere
Lage suchend, näher an den Rasenmäher heran. Gleichzeitig ertönte ein
zartes Klimpern, als ob ganz in der Nähe kleine Glöckchen läuteten.
Ãœberrascht hob Jane den Kopf und sah Michael an.
»Hast du gehört?« flüsterte sie.
Er nickte erstaunt.
Wieder rührte sich Robertson Ay und murmelte im Schlaf vor sich hin.
Sie bückten sich, um zuzuhören.
»Kuh, schwarz und weiß«, murmelte er undeutlich. »Untern Baum
legt sie sich . . . mm, mmm, mmh . . . so wär ich nicht ich! Hmm . . .!«
Ãœber den Schlafenden hinweg blickten sich Jane und Michael verwundert
in die Augen.
»Hmpf! Der hat's gut , das muß ich schon sagen!«
Mary Poppins hatte sie inzwischen eingeholt, und auch sie starrte jetzt
auf Robertson Ay nieder. »Dieser liederliche, faule Nichtsnutz!« sagte sie
böse.
Aber in Wirklichkeit konnte sie gar nicht so böse sein, wie es klang,
denn sie nahm ihr Taschentuch und schob es Robertson Ay unter die
Backe.
»So hat er wenigstens ein sauberes Gesicht, wenn er aufwacht!« sagte
sie bissig.
Aber Jane und Michael hatten gesehen, wie behutsam sie vermieden
hatte, Robertson Ay aufzuwecken, und wie sanft ihre Augen blickten,
als sie sich von ihm wegwandte.
Sie folgten ihr auf Zehenspitzen, sich gegenseitig verständnisvoll zunickend.
Jeder wußte den anderen im Bilde.
Mary Poppins zog den Kinderwagen über die Stufen und in die Diele
hinein. Die Haustür fiel mi t einem kleinen Klicken ins Schloß.
Draußen im Garten schlief Robertson Ay den Schlaf des Gerechten. An
diesem Abend, als Jane und Michael gute Nacht sagen kamen, tobte
Mister Banks vor Wut . Er zog sich gerade um, denn er wollte ausgehen,
und konnte seinen besten Kragenknopf nicht finden.
»Zum Kuckuck, da ist er ja!« rief er plötzlich. »In einer Büchse mit
Ofenschwärze — ausgerechnet! Auf meinem Toilettentisch. Dieser Robertson
Ay macht Sachen! Den Kerl schmeiß ich nächstens 'raus. Er ist
nichts als ein schmieriger Hanswurst.«
Und er verstand durchaus nicht, warum Jane und Michael bei diesen
Worten so furchtbar lachen mußten . . .
7. Kapitel
Der Abendausgang
»Was, keinen Pudding?« beschwerte sich Michael, als Ma r y Poppins,
den Arm voller Teller, Becher und Messer, den Tisch für den abendlichen
Tee zu decken begann.
Sie drehte sich um und war f ihm einen strengen Blick zu.
»Heute abend«, sagte sie kurz, »hab ich Ausgang. Deshalb wirst du
Brot und Butter und Erdbeermarmelade essen und Gott dankbar sein.
Manch kleiner Junge wäre froh, wenn er das hätte!«
»Ich nicht«, murrte Michael. »Ich möchte Reispudding mit Honig
drin.«
»Du möchtest! Du möchtest! Immer möchtest du was. Bald dies, bald
das, bald das eine, bald das andere. Nächstens möchtest du noch den
Mond haben.«
Er steckte die Hände in die Taschen und ging verdrossen zur Fensterbank.
Dort kniete Jane und blickte in den hellen, frostklaren Himmel. Er
kletterte neben sie, immer noch mi t verdrossener Miene.
»Na schön! Dann möchte ich eben den Mond haben. Nun gerade!« rief
er Mary Poppins über die Schulter zu. »Aber ich weiß, ich kriege ihn
nicht. Nie gibt mir einer was.«
Vor ihrem bösen Blick wandte er sich eilends ab.
»Jane«, sagte er, »es gibt keinen Pudding.«
»Stör mich jetzt nicht, ich zähle gerade!« sagte Jane, das Gesicht ans
Fenster gepreßt, so daß ihre kleine Nasenspitze ganz breitgequetscht
wurde.
»Was zählst du denn?« fragte er, nicht allzu interessiert. Ihm lag
immer noch sein Reispudding mit Honig im Sinn.
»Sternschnuppen. Guck, da ist wieder eine! Das ist die siebente. Und
noch eine! Acht. Und eine über dem Park — das sind neun!«
»O — o — oohh, und dort fällt eine in Admiral Booms Schornstein!«
sagte Michael, sich plötzlich aufrichtend, und schon hatte er den Pudding
vergessen.
»Und da eine kleine — guck! Sie schießt quer über die Straße. Wa s für
ein kaltes Licht!« rief Jane. »Ach, ich wünschte, wir wären draußen! We r
schießt denn die Sternschnuppen ab, Mary Poppins?«
»Kommen sie aus einer Kanone?« erkundigte sich Michael.
Mary Poppins zog verächtlich die Luft durch die Nase.
»Wofür haltet ihr mich? Für ein Konversationslexikon? Von A bis Z?«
fragte sie böse. »Kommt gefälligst und eßt euer Abendbrot!« Sie schob
beide zu ihren Stühlen hin und ließ den Rolladen herunter. »Und keinen
Unfug mehr. Ich hab's eilig!«
Und sie zwang sie, so rasch zu essen, daß die Kinder Angst hatten,
sich zu verschlucken.
»Kann ich noch 'ne Schnitte haben?« fragte Michael und streckte die
Hand nach dem Teller mi t Butterbroten aus.
»Nein, nicht mehr Du hast schon mehr gegessen, als dir guttut.
Nimm einen Ingwerkeks und geh zu Bett.«
»Aber . . .«
»Kein >Aber<, oder es wird dir leid tun!« fuhr sie ihn heftig an.
»Ich werde Bauchweh kriegen, ich weiß es genau«, sagte er zu Jane,
doch nur ganz leise, denn wenn Mary Poppins so aussah, war es klüger
den Mund zu halten. Jane überhörte seine Klage. Sie kaute langsam an
ihrem Ingwerkeks und spähte dabei vorsichtig durch eine Ritze im Rollladen
in den frostklaren Himmel.
»Dreizehn, vierzehn, fünfzehn, sechzehn .. .«
»Sagte ich >Bett< oder nicht?« fragte eine vertraute Stimme hinter
ihnen.
»Ja doch, ich geh schon! Gleich, Ma r y Poppins!«
Und mi t lautem Geschrei rannten sie ins Kinderschlafzimmer, gefolgt
von Mary Poppins, die ein einfach abscheuliches Gesicht machte.
Kaum eine halbe Stunde später hatte Mary Poppins sie alle in ihren
Bettchen verstaut und stopfte Leintücher und Decken energisch unter die
Matratzen.
»So!« stieß sie zwischen den Zähnen hervor. »Das wäre alles für
heute. Und wenn ich noch einen Mucks höre . . .«
Sie führte den Satz nicht zu Ende, aber ihr Blick sprach Bände.
». . . dann setzt's was!« ergänzte Michael. Aber er flüsterte es nur in
sein Bettuch, denn er wußte, was ihm blühen würde, wenn sie es hörte.
Sie rauschte aus dem Zimmer, ihre gestärkte Schürze knisterte und
krachte, und sie ließ die Türe ärgerlich hinter sich zufallen. Die Kinder
hörten, wie ihre Füße leicht die Treppe hinabeilten — tapp, tapp — tapp,
tapp — von Absatz zu Absatz.
»Sie hat vergessen, das Nachtlicht anzuzünden«, sagte Michael und
spähte um die Ecke seines Kopfkissens. »Muß die es heute eilig haben!
Ich möchte zu gern wissen, wo sie hingeht!«
»Und hier hat sie den Rolladen oben gelassen!« sagte Jane, die sich im
Bett aufgesetzt hatte. »Hurra, jetzt können wir die Sternschnuppen beobachten!
«
Die spitzen Dächer des Kirschbaumwegs schimmerten im Frost, und
das Mondlicht glitt schräg und leuchtend an ihnen herab und fiel lautlos
in die dunklen Buchten zwischen den Häusern. Alles glitzerte und
glänzte. Die Erde war ebenso hell wie der Himmel.
»Siebzehn, achtzehn, neunzehn, z w a n z i g . . .«, sagte Jane und zählte
eifrig die niederfallenden Sternschnuppen. Kaum war die eine ver-
schwunden, da zeigte sich schon eine andere, bis endlich der ganze Himmel
von tanzenden und taumelnden Sternschnuppen zu wimmeln schien.
»Wie beim Feuerwerk«, sagte Michael. »Ach, guck mal die hier! Oder
wie beim Zirkus. Glaubst du, es gibt auch im Himmel einen Zi rkus,
Jane?«
»Ich weiß nicht recht«, meinte Jane unsicher. »Natürlich gibt es den
Großen und den Kleinen Bären und Taurus, den Stier. Und Leo, den
Löwen. Aber von einem Zirkus weiß ich nichts.«
»Mary Poppins wüßte es«, nickte Michael weise.
»Ja, aber sie würde es uns nicht erzählen«, sagte Jane und wandte sich
wieder dem Fenster zu. »Wo war ich stehengeblieben? Wa r es nicht bei
einundzwanzig? Ach, Michael, so etwas Schönes — hast du gesehen?
Siehst du es?« Erregt hüpfte sie im Bett auf und ab und deutete auf das
Fenster.
Ein ungewöhnlich heller Stern, größer als alle, die sie bisher gesehen,
schoß quer über den Himmel auf den Kirschbaumweg Nummer siebzehn
zu. Er verhielt sich anders als die übrigen, denn anstatt geradeaus durch
die Finsternis zu schießen, schlug er einen Purzelbaum nach dem anderen
und beschrieb in der Luft seltsame Kurven.
»Duck dich, Michael!« schrie Jane plötzlich. »Er kommt hier herein!«
Sie verschwanden unter der Bettdecke und bohrten den Kopf in die
Kissen.
»Glaubst du, er ist wieder weg?« kam es nach einer Weile mit erstickter
Stimme von Michaels Bett. »Ich kriege keine Luft mehr!«
»Natürlich bin ich noch da!« antwortete ihm eine leise, klare Stimme.
»Wofür hältst du mich denn?«
Auf s höchste überrascht stießen Jane und Michael ihre Bettdecken von
sich und setzten sich auf. Dort, am Rande des Fensterbretts, gestützt auf
ihren glitzernden Schweif und fröhlich leuchtend, stand die Sternschnuppe.
»Kommt mit, ihr beiden! Beeilt euch!« sagte sie und leuchtete eisig
durchs Zimmer.
Michael staunte sie an.
»Aber — ich verstehe nicht. . . « , begann er.
Ein fröhliches, glitzerndes Gekicher klang auf.
»Das passiert dir wohl öfters?« sagte der Stern.
»Meinst du wirklich, wir sollen mitkommen?« fragte Jane.
»Natürlich! Und zieht euch wa rm an. Es ist kalt draußen!«
Sie sprangen aus den Betten und rannten zu ihren Mänteln.
»Habt ihr Geld?« fragte die Sternschnuppe kurz.
»In meiner Manteltasche hab ich zwei Pence«, sagte Jane unsicher.
»Kupferstücke? Die nützen euch nichts. Hier, fangt!« Und mi t leisem
Zischen, wie eine Wunderkerze, die abbrennt, begann die Sternschnuppe
Funken zu sprühen. Zwe i dieser Funken flogen durchs Zimmer und landeten
einer in Janes und einer in Michaels Hand.
»Beeilt euch, oder wir kommen zu spät!«
Die Sternschnuppe fuhr durchs Zimmer, durch die geschlossene Tür
und die Treppe hinunter, gefolgt von Jane und Michael, die ihr glitzerndes
Geld fest in der geballten Faust hielten.
»Ob das ein Traum ist, möchte ich wissen«, sagte Jane zu sich selbst,
als sie über den Kirschbaumweg eilten.
»Folgt mir!« rief der Stern, als er sich am Ende der Straße, dort, wo
der frostige Himmel das Pflaster zu berühren schien, in die Luft schwang
und verschwand.
»Folgt mir! Folgt mir!« kam die Stimme irgendwoher aus dem Himmel.
»Tretet auf einen Stern! Wollt ihr mit, so wagt den Schritt!«
Jane ergriff Michael bei der Hand und hob unentschlossen den Fuß. Zu
ihrer Überraschung fand sie, daß der unterste Stern am Himmel ganz
leicht zu erreichen war . Vorsichtig balancierend stieg sie hinauf. Der
Stern schien fest und tragfähig.
»Komm, Michael!«
Sie eilten an dem frostklaren Himmel empor, wobei sie größere Zwi -
schenräume übersprangen.
»Folgt mir!« rief die Stimme weit voraus. Jane machte halt und blickte
hinunter; es verschlug ihr den Atem, als sie sah, wie hoch sie schon
waren. Der Kirschbaum we g , ja die ganze Welt wirkte wie eine kleine,
glitzernde Christbaumkugel.
»Wird dir schwindlig, Michael?« fragte sie und sprang auf einen großen
flachen Stern hinüber.
»Nmm — nein, nicht, wenn du mich festhältst.«
Wieder machten sie halt. Hinter ihnen führte die große Sternentreppe
zur Erde nieder, aber vor ihnen war nichts mehr zu sehen, nichts als ein
dicker, blauer Fleck nackten Himmels.
Michaels Hand zitterte in der Janes.
»Www — was machen wir jetzt?« sagte er und versuchte, den Schrekken
in seiner Stimme nicht merken zu lassen.
»Weitergehen! Weitergehen! Immer heran, meine Herrschaften!
Schaut her, wa s wi r zu bieten haben! Zahlt euer Eintrittsgeld und trefft
eure Wahl! Der doppelschwänzige Drache oder das geflügelte Pferd!
Magische Wunder! Wunder des Weltalls! Weitergehen! Weitergehen!«
Eine laute Stimme schien ihnen unmittelbar in die Ohren zu brüllen.
Sie blickten verdutzt rundum. Es war niemand zu sehen.
»Immer 'ran, meine Herrschaften! Laßt euch den goldenen Stier und
den komischen Clown nicht entgehen! Die Vorstellung der weltberühmten
Sternbildertruppe! Einmal gesehen und nie wieder vergessen! Schiebt
den Vorhang zur Seite und tretet ein!«
Wieder erklang die Stimme dicht neben ihnen. Jane streckte die Hand
aus. Zu ihrer Überraschung stellte sich heraus, daß das, was sie für einen
leeren Sternenlosen Fleck Himmel gehalten hatten, in Wirklichkeit ein
dicker dunkler Vorhang war. Sie drückte dagegen und fühlte, wie er
nachgab; sie griff in eine Falte und, Michael hinter sich her ziehend,
schob den Vorhang zur Seite.
Ein starker Lichtstrahl blendete sie für einen Augenblick. Al s sie wieder
sehen konnte, entdeckten sie, daß sie am Rande einer mi t leuchtendem
Sand bestreuten Manege standen. Der große blaue Vorhang hüllte
die Manege von allen Seiten ein und war in der Mitte zu einer Spitze
hochgezogen wie bei einem Zelt.
»Na also! Wißt ihr, daß ihr fast zu spät gekommen wärt? Habt ihr
schon Eintrittskarten?«
Sie fuhren herum. Neben ihnen — sein leuchtender Fuß glitzerte im
Sand — stand ein seltsamer, mächtiger Riese. Er sah aus wie ein Jäger,
denn er trug ein sternengeflecktes Leopardenfell über der Schulter und an
seinem mi t drei großen Sternen geschmückten Gürtel ein Schwert.
»Die Eintrittskarten, bitte!« Er streckte die Hand aus.
»Ich fürchte, wir haben keine. Wissen Sie, wi r wußten n i c h t . . . « , begann
Jane.
»Oje, oje, wie unvorsichtig! Kann euch ohne Eintrittskarten leider
nicht hineinlassen. Aber was habt ihr denn da in der Hand?«
Jane hielt ihm den goldenen Funken hin.
»Na, wenn das keine Eintrittskarte ist!« Er drückte den Funken zwi -
schen die drei großen Sterne. »Noch ein Glanzstück für Orions Gürtel!«
bemerkte er vergnügt.
»Bist du das?« sagte Jane und starrte ihn an.
»Natürlich — wußtest du das nicht? Aber — entschuldigt mich jetzt, ich
muß auf die Tür aufpassen. Geht weiter, bitte.«
Die Kinder, die sich ziemlich gehemmt fühlten, gingen Hand in Hand
weiter. Zu Rängen geordnet, stiegen rechts die Sitzreihen an, während
links ein goldenes Seil den Gang von der Manege trennte. Dort stießen
und drängten sich die seltsamsten Tiere; alle schimmerten wie pures
Gold. Ein Pferd mi t großen goldenen Flügeln tänzelte auf glitzernden
Hufen vorbei. Ein goldener Fisch wirbelte mi t einer Flosse den Manegensand
auf. Drei kleine Böcklein sprangen mutwillig umher, auf zwei Beinen
statt auf allen vieren. Und als Jane und Michael genauer hinsahen,
kam es ihnen vor, als wären all die Tiere aus Sternen gemacht. Die
Flügel des Pferdes bestanden aus Sternen, nicht aus Federn, die drei
Böcklein hatten einen Stern auf der Nase und am Schwanz, und der Fisch
war mit sternglitzernden Schuppen bedeckt.
»Guten Abend!« sagte er und verbeugte sich im Vorbeistolzieren höflich
vor Jane.
»Ein schöner Abend für die Vorstellung!«
Noch ehe Jane antworten konnte, war er schon we g .
»Das ist aber seltsam«, sagte sie. »Solche Tiere hab ich noch nie gesehen!
«
»Wieso seltsam?« sagte hinter ihnen eine Stimme.
Zwei Kinder, beides Knaben, ein wenig älter als Jane, standen da und
lächelten. Sie waren in schimmernde Kittel gekleidet, und von ihren spitzen
Kappen baumelte statt einer Quaste ein Stern.
»Entschuldigt«, sagte Jane höflich. »Aber, wißt ihr, wi r sind an — an
Pelze und Federn gewöhnt, und diese Tiere sehen aus, als wären sie aus
Sternen gemacht.«
»Aber das sind sie ja auch!« sagte der erste Junge mi t weit aufgerissenen
Augen. »Woraus denn sonst? Es sind die Sternbilder!«
»Aber selbst das Sägemehl ist Gold . . .«, begann Michael.
Der zweite Junge lachte auf. »Sternenstaub, meinst du wohl! Warst du
noch nie in einem Zirkus?«
»In so einem nicht.«
»Ein Zirkus ist wie der andere«, sagte der erste Junge. »Unsere Tiere
leuchten mehr, das ist alles.«
»Doch wer seid ihr?« fragte Michael.
»Die Zwillinge. Das da ist Pullux, und ich bin Cator. Wi r sind unzertrennlich.
«
»Wie die siamesischen Zwillinge?«
»Ja. Doch in weit höherem Maß. Die siamesischen Zwillinge hängen
nur körperlich aneinander, wir aber sind ein Herz und eine Seele. Wir
denken einer des anderen Gedanken und träumen einer des anderen
Träume. Aber wir dürfen hier nicht stehenbleiben und schwätzen. Wir
müssen uns fertigmachen — wi r sehen uns später noch!«
Die Zwillinge rannten we g und verschwanden durch einen Spalt im
Vorhang.
»Hallo!« klang eine düstere Stimme mitten aus der Manege. »Ihr habt
wohl nicht zufällig ein Korinthenbrötchen in der Tasche?«
Ein Drache mi t zwe i großen Schuppenschwänzen kam auf sie zu und
stieß Dampf aus den Nüstern.
»Leider nicht«, sagte Jane.
»Auch keine Kekse?« fragte der Drache ärgerlich.
Sie schüttelten die Köpfe.
»Das dachte ich mir«, sagte der Drache und vergoß eine goldene
Träne.
»So geht es mir immer in den Zirkusnächten. Ich werde erst nach der
Vorstellung gefüttert. Für gewöhnlich bekomme ich ein knuspriges Mädchen
zum Abendbrot. . .«
Jane trat rasch einen Schritt zurück und zog Michael an sich.

»Ach, reg dich nicht auf!« beschwichtigte sie der Drache. »Ihr wärt
beide viel zu klein. Außerdem seid ihr Menschenkinder, und die schmekken
nicht. — Ma n läßt mich hungern«, erklärte er, »damit ich meine
Kunststücke besser ausführe. Aber nach der Vorstellung . . .« Ein gieriges
Licht trat in seine Augen, und mit weit heraushängender Zunge trollte er
sich davon. »Yum, yum!« zischte er leise und gierig vor sich hin.
»Ich bin froh, daß wir nur Menschenkinder sind«, wandte sich Jane an
Michael. »Es muß schrecklich sein, von einem Drachen gefressen zu werden!
«
Aber Michael war schon vorausgeeilt und sprach eifrig mi t den drei
kleinen Böcklein.
»Wie geht es?« fragte er gerade, als Jane hinzutrat.
Und das älteste Böcklein, das sich offensichtlich zum Vorsingen bereit
erklärt hatte, räusperte sich und begann:
»Horn und Huf,
Huf und Horn . . . «
»Na, ihr Böcklein!« fuhr Orions laute Stimme dazwischen. »Ihr könnt
euer Verschen aufsagen, wenn's soweit ist. Jetzt macht euch fertig, es
fängt gleich an! — Folgt mir, bitte!« forderte er die Kinder auf.
Gehorsam trotteten sie hinter der glitzernden Gestalt her, und wo sie
vorübergingen, drehten sich die goldenen Tiere um und starrten sie an.
Fetzen der geflüsterten Unterhaltung erreichten ihr Ohr.
»Wer ist das?« fragte ein mächtiger, sternfunkelnder Stier; er blieb
stehen und wirbelte mi t seinen Hufen den Manegensand auf, während
er ihnen nachblickte. Und ein Löwe wandte sich um und flüsterte dem
Bullen etwas ins Ohr . Sie verstanden »Banks« und »Ausgehabend«, aber
mehr nicht. Inzwischen war auf den Rängen jeder Platz mi t einer schimmernden,
funkelnden Gestalt besetzt. Nur drei Sitze waren noch leer,
und zu ihnen führte Orion jetzt die Kinder.
»Das sind eure Plätze. Wi r haben sie für euch freigehalten. Direkt
unter der Hofloge. Ihr werdet ausgezeichnet sehen. Paßt auf! Es fängt
gerade an!«
Jane und Michael wandten den Kopf und sahen, daß die Manege sich
geleert hatte, während sie zu ihren Sitzen emporgeklettert waren. Sie
knöpften ihre Mäntel auf und beugten sich aufgeregt vor.
Vo n irgendwoher ertönte eine Trompetenfanfare. Sie schallte durch
das ganze Zelt, dazwischen hörte man ein hohes, melodisches Wiehern.
»Die Kometen!« sagte Orion und setzte sich neben Michael. Ein heftig
nickendes Haupt erschien am Eingang, und hintereinander galoppierten
neun Kometen in die Manege, mit goldgeflochtenen Mähnen und einem
silbernen Federbusch auf dem Kopf.
Plötzlich blies die Musik einen Tusch, und wie mi t einem Schlag fielen
die Kometen auf die Knie und beugten die Köpfe. Ein warmer Lufthauch
strich durch die Manege.
»Wie heiß es wird!« rief Jane.
»Pscht, er kommt!« sagte Orion.
»Wer?« flüsterte Michael.
»Der Zirkusdirektor!«
Orion wies mit einer Kopfbewegung nach dem Eingang. Dort erschien
jetzt ein gleißendes Licht, das an Helligkeit die Sternbilder überstrahlte.
Immer stärker wurde sein Leuchten.
»Da ist er!« Orions Stimme klang merkwürdig sanft.
Bei seinen Worten tauchte zwischen den Vorhängen eine hochragende,
goldene Gestalt auf, das volle, strahlende Antlitz von flammenden Lokken
umrahmt. Gleichzeitig drang eine Welle warmer Luft in die Manege,
die sich kreisförmig immer weiter ausbreitete. Halb unbewußt, von der
Hitze ganz benommen, schlüpften die Kinder aus ihren Mänteln.
Orion sprang auf die Füße und hielt die rechte Hand hoch über den
Kopf.
»Heil, Sonne, heil!« rief er. Und von den Sternenrängen widerhallte
der Ruf: »Heil!«
Die Sonne blickte sich in dem weiten, dunklen Ringzelt um und
schwang als Antwort auf die Begrüßung dreimal eine lange, goldene
Peitsche um ihr Haupt. Al s die Schnur so durch die Luft sauste, gab es
ein scharfes, schnelles Klatschen. Mi t einem Satz sprangen die Kometen
auf und trabten hinaus; ihre golddurchflochtenen Schwänze schwangen
eifrig hin und her, und sie reckten stolz ihre federgeschmückten Köpfe.
»Da bin ich wieder, da bin ich wieder!« krähte laut eine heisere
Stimme, und in die Manege hüpfte ein komisches Wesen mi t silbern bemaltem
Gesicht, einem breiten, roten Mund und einer silbernen Halskrause.
»Saturn — der Clown!« flüsterte Orion hinter der Hand den Kindern
zu.
»Wann ist eine Tür keine Tür?« fragte der Clown ins Publikum,
schlug einen Purzelbaum und endete im Handstand.
»Wenn sie offensteht!« antworteten Jane und Michael laut.
Ein enttäuschter Ausdruck malte sich auf dem Gesicht des Clowns.
»Ach, den kennt ihr schon?« sagte er vorwurfsvoll. »Das ist aber unfair!
«
Die Sonne klatschte mi t ihrer Peitsche.
»Schon gut, schon gut«, sagte der Clown. »Ich we i ß noch wa s anderes:
Warum rennt eine Henne über die Straße?« fragte er und setzte sich mi t
einem Plumps in den Sternenstaub.
»Um auf die andere Seite zu kommen!« riefen Jane und Michael.
Die geschwungene Peitschenschnur ringelte sich dem Clown um die
Knie.
»Oh — oh — oh! Mach das nicht! Du tust dem armen Jockel ja weh!
Guck! wie sie mich alle auslachen! Aber die kriege ich schon! Hör t zu!«
Er wirbelte in einem doppelten Salto durch die Luft.
»Welches ist der kälteste Vogel? We r weiß das?«
»Der Zeisig — er ist hinten eisig!« schrien Michael und Jane gellend.
»Hinaus mit dir!« rief die Sonne, und ihre Peitschenschnur ringelte
sich um die Schultern des Clowns; dieser schlug Purzelbäume rund um
die Manege und schrie:
»Ich armer Jockel! Wieder umsonst! Die kennen meine schönsten
Witze, ach, ich armer Kerl, ich armer, alter . . . Ach, Verzeihung, Miß,
Verzeihung!« Er brach ab, denn er war gegen Pegasus, das geflügelte
Pferd, geprallt, das soeben hereingesprengt kam, eine leuchtend flimmernde
Gestalt auf dem Rücken.
»Venus, der Abendstern«, erklärte Orion.
Atemlos sahen Jane und Michael zu, wie die flimmernde Gestalt leicht
durch die Manege ritt. Eine Runde um die andere ritt sie, sich vor der
Sonne verbeugend, sooft sie an ihr vorbeikam, bis schließlich die Sonne
ihr in den We g trat und einen großen, mit Goldpapier zugeklebten Reifen
hochhielt.
Eine Sekunde lang balancierte Venus auf den Zehenspitzen. »Hopp!«
sagte die Sonne, und mi t unnachahmlicher Grazie sprang Venus durch
den Reifen und landete wieder auf dem Pferderücken.
»Hurra!« schrien Jane und Michael, und das Sternenpublikum stimmte
mi t ein in den Ruf. »Hurra!«
»Laß mich's noch einmal versuchen, laß den armen Jockel noch einen
Witz machen, just einen, der selbst eine Katze zum Lachen bringt!«
schrie der Clown. Aber Venus schüttelte nur lachend den Kopf und ritt
aus der Manege.
Kaum war sie verschwunden, da kamen die drei Böcklein hereinspaziert;
sie wirkten ziemlich scheu und verbeugten sich unbeholfen vor der
Sonne. Dann stellten sie sich in einer Reihe vor ihr auf die Hinterbeine
und sangen in hohen, dünnen Tönen folgendes Lied:
»Horn und Huf,
Huf und Horn,
In jeder Nacht
Werden drei Böcklein gebor'n.
Mi t den Schnipperschnupper-Schnäuzchen
Und den Wickelwackel-Schwänzchen
Drehen sie ein Tänzchen.
Blau und schwarz,
Schwarz und blau
Ist es am Abend,
Wenn ich die Böcklein erschau.
Mi t den Schnipperschnupper-Schnäuzchen
Und den Wickelwackel-Schwänzchen
Drehen sie ein Tänzchen.
Mild und süß,
Süß und mild
Mundet die Milch,
Die aus der Milchstraße quillt.
Mi t den Schnipperschnupper-Schnäuzchen
Und den Wickelwackel-Schwänzchen
Drehen sie ein Tänzchen.
Am Himmelsrain
Stehn sie und weiden.
Beim Morgenrot
Müssen die Böcklein scheiden.
Mi t den Schnipperschnupper-Schnäuzchen
Und den Wickelwackel-Schwänzchen
Drehen sie schnell noch ein Tänzchen.
Sind sie nicht zu beneiden?«
Die letzte Zeile sangen sie mit langgezogenen, meckernden Tönen und
tanzten aus der Manege.
»Was kommt jetzt?« erkundigte sich Michael, aber Orion brauchte
nicht zu antworten, denn schon stand der Drache da. Dampf strömte aus
seinen Nüstern, und seine zwei schuppigen Schwänze wirbelten den Sternenstaub
auf. Hinter ihm trugen Castor und Pollux einen großen, schimmernden
Globus herein, auf dem Berge und Flüsse eingezeichnet waren.
»Sieht aus wie der Mond!« meinte Jane.
»Natürlich ist es der Mond«, sagte Orion.
Der Drache stand jetzt auf seinen Hinterbeinen, und die Zwillinge legten
ihm zum Balancieren den Mond auf die Nase. Er schwankte einen
Augenblick unsicher und kam dann zur Ruhe. Der Drache begann in
der Manege einen Walzer zu tanzen, begleitet von der Sternenmusik.
Rundum tanzte er, einmal — zweimal — dreimal.
»Das genügt!« sagte die Sonne und knallte mi t der Peitsche. Und mit
einem Seufzer der Erleichterung schüttelte der Drache den Kopf und ließ
den Mond durch die Manege fliegen. Er landete mi t einem Schwung auf
Michaels Schoß.
»Herrje!« rief er verblüfft. »Was soll ich denn damit?«
»Was du w i l l s t « , sagte Orion. »Ich dachte, du wolltest ihn haben.«
Und plötzlich erinnerte sich Michael an seine Unterhaltung mit Mary
Poppins heute abend. Da hatte er sich den Mond gewünscht, und jetzt
hatte er ihn. Und nun wußte er nicht, wa s er damit anfangen sollte. Wie
komisch!
Aber es blieb ihm keine Zeit, sich Gedanken zu machen, denn abermals
ließ die Sonne ihre Peitsche knallen. Michael setzte den Mond auf
seine Knie, umschloß ihn mi t den Armen und wandte seine Aufmerksamkeit
wieder der Manege zu.
»Was macht zwei und drei?« fragte die Sonne gerade den Drachen.
Fünfmal fegten die zwei Schwänze über den Sternenstaub.
»Und sechs und vier?« Der Drache dachte eine Weile nach. Eins, zwei,
drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht, neun . . . Die beiden Schwänze machten
halt.
»Falsch!« sagte die Sonne. »Ganz falsch! Du gehst heut ohne Abendbrot
zu Bett!«
Da brach der Drache in bittere Tränen aus und stürzte schluchzend aus
der Manege.
»Herrje — herrje — herrjemine,
Buhu! Buhu! Buhu!«
Er weinte bitterlich.
»Ich möcht ein Sternenmädchen,
Ein würziges, saftiges Brätchen,
Vom besten, v om besten,
V om allerbesten Stück.
Buh!
Die Augen: goldene Sterne,
Kometenschweif das Haar,
Das schmeckte, das schmeckte,
Da s schmeckte wunderbar.
Buhu!
Und wären es auch zwei,
Da fand ich nichts dabei,
Im Gegenteil, so 'n großes Stück,
Da s war ein rechtes Glück.
Denn ich bin ja sooo hungrig!
Buuh — hu — uh!«
»Kriegt er nicht wenigstens ein ganz kleines Mädchen?« fragte
Michael, dem der arme Drache leid tat.
»Pscht!« sagte Orion, denn gerade sprang eine funkelnde Gestalt in
den Ring. Al s der Sternenstaub sich wieder gesenkt hatte, fuhren die
Kinder erschrocken zurück. Da stand der Löwe und brüllte.
Michael drängte sich ein wenig dichter an Jane.
Der Löwe kauerte sich zusammen und schlich langsam auf die Sonne
zu. Seine lange Zunge hing ihm aus dem Maul und schlabberte gefährlich.
Aber die Sonne lachte nur, hob den Fuß und versetzte dem Löwen
einen freundschaftlichen Tritt auf die goldene Nase. Mi t einem Gebrüll,
als hätte sie sich verbrannt, sprang die funkelnde Bestie hoch.
Klatschend fuhr die Peitsche durch die Luft. Langsam, widerwillig, die
ganze Zeit über grollend, stellte sich der Löwe auf die Hinterbeine.
Die Sonne warf ihm ein Springseil zu, das der Löwe zwischen den Vor -
derpfoten festhielt, während er sang:
»Ich bin der Löwe, Leo — der Löwe.
Der schöne, noble Leo-Löwe.
Blick auf zu mir: in kalter Nacht
Halt ich am Fuß Orions Wacht.
We i t leuchtend, schimmernd, gleißend und
Da s schönste Bild am Himmelsrund!«
Am Ende des Liedes schwang er das Seil und hüpfte seilspringend
durch die Manege; dabei rollte er die Augen und brüllte.
»Beeil dich, Leo, wir kommen dran!« ertönte eine grollende Stimme
hinter dem Vorhang hervor.
»Mach voran, du große Katze!« fügte eine schrille Stimme hinzu.
Der Löwe ließ das Seil fallen und sprang brüllend auf den Vorhang
zu, aber die beiden Tiere, die jetzt eintraten, wichen vorsichtig aus, so
daß der Löwe sie nicht erreichte.
»Der Große und der Kleine Bär«, sagte Orion.
Langsam trotteten die beiden Bären herein, hielten sich bei den Vor -
derpfoten und tanzten nach einer langsamen Melodie. Sie tanzten einmal
um die Manege herum, wobei sie höchst ernsthaft und feierlich dreinsahen,
und machten, als der Tanz zu Ende war, eine schwerfällige Ver -
beugung vor dem Publikum. Dann sangen sie:
»Der Brummbär und der Quiekebär,
Das sind wi r ! Ach, wie schön es war,
Wenn einer eine Wabe hätt;
Die steckten wi r uns unters Bett
Und leckten uns an Honig fett.
Und Brummbrummbär und Quiekebär
U n d . . ,
U n d . . .
U n d . . . «
Der Große und der Kleine Bär blieben stecken, stammelten und blickten
einander an.
»Hast du vergessen, wie's weitergeht?« brummte Brummbär.
»Ja, ich weiß nicht mehr!« Der Quiekebär schüttelte verzweifelt den
Kopf und stierte auf den Sternenstaub hinunter, als hoffte er den vergessenen
Text dort zu finden.
In diesem Augenblick rettete das Publikum die Situation. Ein Regen
von Honigwaben ergoß sich aus den Rängen und hagelte den beiden
Bären um die Ohren. Der Brummbär und der Quiekebär sahen sehr erleichtert
aus, bückten sich und hoben die Waben auf.
»Fein!« brummte der Große Bär und grub seine Nase in eine Wabe.
»Ausgezeichnet!« quiekte der Kleine Bär und versuchte auch eine.
Dann verbeugten sie sich feierlich vor der Sonne und trollten davon.
Die Sonne winkte mit der Hand, und die Musik wurde lauter und
dröhnte triumphierend durch das Zelt.
»Das Signal für die Große Parade«, sagte Orion, während Castor und
Pollux schon als Anführer des Aufzuges hereintanzten.
Die Bären kamen wieder und drehten miteinander einen schwerfälligen
Walzer. Ihnen auf den Fersen folgte Leo, der Löwe, der immer noch
ärgerlich grollte und ihre Spuren beschnüffelte. Dann glitt ein funkelnder
Schwan herein, der einen hohen, klaren Gesang anstimmte.
Und nach dem Schwan kam der goldene Fisch, der die drei Böcklein
an einer silbernen Leine führte, und hinterher der Drache, der immer
noch bitterlich schluchzte. Ein lautes und fürchterliches Gebrüll übertönte
die Musik. Das war Taurus, der schnaubende Stier, der wi ld in die
Manege stürmte, wobei er versuchte, den Clown Saturn von seinem Rükken
zu schütteln. Hintereinander strömten alle Tiere herein, um ihre
Plätze einzunehmen. Die Manege war eine hin und her wogende Masse
von goldenen Hufen und Hörnern, Mähnen und Schweifen.
»Ist es jetzt aus?« flüsterte Jane.
»Bald«, erwiderte Orion. »Heute wird früh Schluß gemacht. Sie muß
um halb elf wieder zurück sein.«
»Wer?« fragten beide Kinder wie aus einem Mund. Doch Orion hörte
nicht. Er war aufgestanden und winkte mit dem Arm.
»Kommt, beeilt euch, macht weiter!« rief er.
Und herein kam Venus geritten, auf ihrem geflügelten Pferd, gefolgt
von einer glitzernden Schlange, die ihr Schwanzende vorsichtig im Maul
hielt und wie ein Reifen dahinrollte.
Zuletzt kamen die Kometen. Stolz trabten sie durch den Vorhang und
wippten mi t den golddurchflochtenen Schweifen. Die Musik wurde lauter
und wilder, und von dem Sternenstaub in der Manege stieg ein goldfarbener
Rauch auf, während die Sternbilder, rufend, singend, brüllend
und brummend, sich zu einem Kreis ordneten. In der Mitte, als wagten
sie sich nicht in ihre Nähe, ließen sie einen Raum frei für die Sonne.
Da stand sie, hoch über alle hinwegragend, die Peitsche zwischen den
verschränkten Armen. Sie nickte jedem Tier freundlich zu, wenn es mi t
gesenktem Haupt an ihr vorbeizog. Und dann sahen Jane und Michael,
wie sich der leuchtende Blick von der Manege hob und über die sternenbesetzten
Zuschauerränge hinwegglitt, bis er sich der Hofloge zuwandte.
Sie fühlten, wie ihnen wärmer wurde, als der Blickstrahl sie erreichte,
und mi t höchster Überraschung merkten sie, daß die Sonne die Peitsche
hob und ihnen zunickte.
Al s die Peitsche in die Luft fuhr, machten alle Sterne und Sternbilder
kehrt. Dann verbeugten sie sich wie auf Kommando.
»Verbeugen die sich etwa vor uns?« flüsterte Michael.
Ein vertrautes Lachen klang hinter ihnen. Sie drehten sich um. Dor t
saß, ganz allein in der Hofloge, eine wohlbekannte Gestalt in Strohhut
und blauem Mantel und mi t einem goldenen Medaillon um den Hals.
»Heil, Mary Poppins, Heil!« ertönte der Chor der Stimmen aus der
Zirkusmanege.
Jane und Michael blickten sich an. So also verbrachte Mary Poppins
ihren freien Abend! Fast trauten sie ihren Augen nicht — doch da saß
sie wirklich, ihre Mary Poppins, in voller Lebensgröße und mi t höchst
überlegener Miene.
»Heil!« erscholl es abermals.
Mary Poppins hob grüßend die Hand.
Stolz und würdevoll verließ sie die Loge. Sie schien nicht im mindesten
überrascht, Jane und Michael hier zu Sehen, aber sie schnaubte, als
sie an ihnen vorbeiging.
»Wie oft«, warf sie ihnen über Orions Kopf zu, »habe ich euch gesagt,
daß es unhöflich ist, jemanden anzustarren!«
Sie stieg an ihnen vorbei in die Manege hinunter. Der Große Bär hob
das goldene Absperrseil hoch. Die Sternbilder wichen zur Seite, und die
Sonne trat einen Schritt vor. Al s sie zu sprechen begann, klang ihre
Stimme warm und voller Wohllaut.
»Mary Poppins, meine Liebe, du bist uns willkommen!«
Mary Poppins versank in einen tiefen und feierlichen Knicks.
»Die Planeten jubeln dir zu, und die Sternbilder grüßen dich. Steh auf,
mein Kind!«
Sie stand auf und neigte voller Achtung den Kopf.
»Deinetwegen, Ma r y Poppins«, fuhr die Sonne fort, »haben sich die
Sterne in diesem dunkelblauen Zelt versammelt, deinetwegen wurde es
ihnen erlassen, heute nacht auf die Erde niederzuscheinen. Deshalb hoffe
ich, du hast deinen Ausgehabend genossen!«
»Ich habe nie einen schöneren erlebt. Nie!« sagte Mary Poppins und
hob lächelnd den Kopf.
»Liebes Kind!« Die Sonne beugte sich vor. »Aber die Stunden verrinnen,
und du mußt um halb elf zu Hause sein. Deshalb wollen wir vor
deinem Aufbruch nach alter Gewohnheit den Tanz des kreisenden Himmels
tanzen!«
»Hinunter mit euch!« sagte Or ion zu den erstaunten Kindern und gab
ihnen einen kleinen Schubs. Sie stolperten die Stufen hinunter und fielen
fast in die mi t Sternenstaub bestreute Manege.
»Wo habt ihr eure Manieren gelassen, wenn ich fragen darf?« zischte
eine wohlbekannte Stimme Jane ins Ohr .
»Wa s soll ich tun?« stammelte Jane.
Mary Poppins blickte sie streng an und deutete mi t einer kleinen
Handbewegung auf die Sonne. Plötzlich begriff Jane. Sie packte Michael
am Arm und, ihn mit sich ziehend, kniete nieder. Die Wärme der
Sonne überflutete sie wohlig.
»Steht auf, Kinder«, sagte diese freundlich. »Seid mir herzlich willkommen.
Ich kenne euch gut — ich habe manchen Sommertag auf euch hinabgeblickt!
«
Jane hob sich auf die Füße und wollte auf sie zulaufen, doch eine Bewegung
der Peitsche hielt sie zurück. »Rühr mich nicht an, Kind der
Erde!« rief sie warnend und bedeutete ihr durch einen Wink, weiter zurückzutreten.
»Das Leben ist süß, und niemand darf der Sonne zu nahe
kommen — rühr mich nicht an!«
»Bist du denn wirklich die Sonne?« fragte Michael und staunte.
Die Sonne streckte die Hand aus.
»Sagt, ihr Sterne und Himmelszeichen: wer bin ich? Da s Kind hier
möchte es wissen.«
»Die Herrin über alle Sterne, o Sonne!« antworteten tausend leuchtende
Stimmen.
»Sie ist die Königin von Süd und Nord«, rief Orion, »und die Beherrscherin
von Os t und West. Sie umwandert den äußersten Rand der
Welt, und die Pole schmelzen vor ihrer Herrlichkeit. Sie treibt den Keim
aus der Saat und segnet die Erde mi t Fruchtbarkeit. Sie ist wirklich die
Sonne.«
Die Sonne lächelte Michael zu.
»Glaubst du es nun?«
Michael nickte.
»So erhebe dich! Und ihr, Himmelsbilder, wählt eure Tanzpartner!«
Die Sonne schwang ihre Peitsche. Die Musik begann wieder zu spie-

len, eine rasche und fröhliche Weise. Michael klopfte mi t den Füßen den
Takt, während er den Mond in seinen Armen wiegte. Aber er drückte
ihn wohl ein wenig zu stark, denn plötzlich gab es einen lauten Knall,
und der Mond begann zu schrumpfen.
»Oh, oh, seht, was geschehen ist!« rief Michael; er weinte fast.
Kleiner und immer kleiner wurde der Mond, schrumpfte in sich zusammen,
bis er kaum noch so groß war wie eine Seifenblase; jetzt war
er nur noch ein Lichtfünkchen und j e t z t . . . Michaels Hände umschlossen
nur noch die leere Luft.
»Das kann doch nicht der wirkliche Mond gewesen sein, oder doch?«
erkundigte er sich.
Jane blickte über den schmalen, mi t Sternenstaub bestreuten Zwischenraum
hinweg fragend auf die Sonne. Die war f das flammende Haupt zurück
und lächelte ihr zu.
»Was ist wirklich und was nicht? We r könnte das sagen? Vielleicht
werden wir niemals mehr wissen als das: eine Sache denken, heißt, sie
wahr machen. Und wenn Michael gedacht hat, er hielte den Mond in den
Armen — nun, dann hat er ihn eben wirklich in den Armen gehalten.«
»Also — ist es wahr«, sagte Jane nachdenklich, »daß wi r heute nacht
hier sind, oder denken wir das nur?«
Wieder lächelte die Sonne, diesmal ein wenig traurig.
»Kind«, sagte sie, »zerbrich dir nicht weiter den Kopf! Seit Anbeginn
der Welt haben alle Menschen diese Frage gestellt. Und ich, die ich den
Himmel beherrsche — selbst ich kenne die Antwort nicht. Ich weiß nur
eines: daß dies der Ausgehabend ist, daß die Sternbilder in eure Augen
scheinen, und daß es Wirklichkeit ist, wenn ihr es dafür h a l t e t . . .«
»Kommt, tanzt mi t uns, Jane und Michael!« riefen die Zwillinge.
Und Jane vergaß ihre Frage, denn zu viert glitten sie jetzt durch die
Manege, im Gleichtakt mi t der himmlischen Melodie; aber sie hatte
kaum eine halbe Runde getanzt, als sie plötzlich stehenblieb.
»Schau doch! Schau doch! Sie tanzt mi t ihr!«
Michael folgte ihrem Blick; seine kurzen, dicken Beinchen blieben am
Boden haften, und er starrte hemmungslos.
Mary Poppins und die Sonne tanzten miteinander. Aber nicht so, wie
Jane und er mi t den Zwillingen tanzten, Brust an Brust und Hand an
Hand. Mary Poppins und die Sonne berührten sich nie, sondern drehten
sich, einander gegenüberstehend, mi t ausgestreckten Armen, wobei sie,
trotz des Zwischenraums zwischen sich, genauen Takt hielten.
Um sie herum wirbelten die tanzenden Sternbilder: Venus, die mi t
ihren Armen Pegasus umhalste, der Stier und der Löwe A rm in Arm,
und die drei Böcklein, die in einer Reihe stolz umherhüpften. Der schimmernde
Glanz blendete die Kinder, als sie so standen und schauten.
Plötzlich wurde der Tanz langsamer und die Musik leiser. Die Sonne

und Mary Poppins, zusammengehörig, obwohl jeder für sich, blieben
stehen. Im gleichen Augenblick brachen auch die Tiere ihren Tanz ab und
machten halt. Ruhe trat ein. Schweigen legte sich über die Manege.
Die Sonne sprach.
»Nun«, sagte sie ruhig, »die Zeit ist gekommen. Zurück auf eure
Plätze am Himmel, meine lieben Sterne und Bilder. Nach Hause zum
Schlafen, meine lieben sterblichen Gäste. Gute Nacht, Ma r y Poppins! Ich
sage nicht Lebewohl, denn wir treffen uns wieder; doch bis dahin: laß es
dir gut gehen!«
Dann beugte die Sonne auf zugleich erhabene und graziöse Weise den
Kopf und küßte, den Zwischenraum zwischen sich und Mary Poppins
überbrückend, diese sehr feierlich, vorsichtig, leicht und rasch auf die
Wange.
»Aaahhh!« riefen die Sternbilder begeistert. »Der Kuß! Der Kuß!«
Doch als sie ihn empfing, flog Ma r y Poppins' Hand schützend zur
Wange, als hätte der Kuß sie gebrannt. Ein Ausdruck des Schmerzes
huschte über ihr Gesicht. Dann hob sie lächelnd den Kopf zur Sonne.
»Auf Wiedersehen!« sagte sie sanft, mi t einer Stimme, wie sie Jane
und Michael noch nie bei ihr vernommen hatten.
»Fort!« rief die Sonne und streckte die Peitsche aus. Gehorsam begannen
die Sternbilder aus der Manege zu strömen. Schützend legten
Castor und Pollux ihre Arme um die Kinder, damit der Große Bär sie im
Vorüberrollen nicht streifte, das Horn des Stiers sie nicht verletzte und
der Löwe ihnen nichts tat. Aber schon verhallten in Janes und Michaels
Ohren die Geräusche der Manege. Der Kopf wurde ihnen schwer und
sank auf die Schultern. Neue Arme umschlangen sie, und wie im Traum
hörten sie die Stimme der Venus, die sagte: »Gib sie mir! Ich bin der
Abendstern. Ich bringe das Lamm ins Stroh und das Kind zu seiner
Mutter.«
Sie überließen sich den wiegenden Armen, die sie schaukelnd mi t sich
forttrugen wi e die Flut ein Boot. Hin und her, hin und her.
Ein Licht flackerte über ihre Augen. Wa r das der Drache, der flammenzüngig
vorbeistrich — oder die Kerze im Kinderzimmer, die jemand
über sie hielt?
Hin und her, hin und her.
Sie kuschelten sich tiefer in die sanfte, wohlige Wärme. Wa r es die
einlullende Wärme der Sonne? Oder die Daunendecke im Kinderbett?
»Ich glaube, es ist die Sonne«, dachte Jane halb im Traum.
»Ich glaube, es ist meine Daunendecke«, dachte Michael.
Und eine weit, weit entfernte Stimme — sie klang wie ein Hauch —
rief leise, leise: »Es ist das, was ihr glaubt! Lebt w o h l . . . lebt w o h l . . . «

Michael erwachte mi t einem Ruck. Ihm wa r plötzlich etwas eingefallen.
»Mein Mantel! Mein Mantel! Ich hab ihn unter der Hofloge liegenlassen!
«
Er schlug die Augen auf. Am Fußende des Bettes sah er die bunte
Ente sitzen. Er sah den Kaminsims mit der Uhr und der großen Porzellanschale
und den mi t grünem Laubwerk gefüllten Marmeladentopf. Und
er sah an dem Haken, an dem er gewöhnlich hing, seinen Mantel und
den Hut darüber.
»Aber wo sind die Sterne?« rief er, setzte sich im Bett auf und staunte.
»Ich möchte die Sterne und die Sternbilder!«
»Ach? Wirklich?« sagte Ma r y Poppins, die gerade ins Zimmer trat
und in ihrer sauberen Schürze sehr steif und gestärkt aussah. »Ist das
alles? Ich wundere mich nur, daß du nicht auch den Mond möchtest!«
»Aber den wollte ich doch!« erinnerte er sich vorwurfsvoll. »Und ich
bekam ihn auch! Aber ich drückte ihn zu fest, und er patzte!«
»Platzte!«
»Na schön, platzte!«
»Unsinn!« sagte Mary Poppins und warf ihm seinen Schlafrock zu.
»Ist es schon Morgen?« fragte Jane; sie öffnete die Augen und blickte
im Zimmer umher, höchst überrascht darüber, sich in ihrem eigenen Bett
wiederzufinden. »Aber wie sind wi r denn nach Hause gekommen? Ich
tanzte mi t dem Zwillingsgestirn, mit Castor und Pollux.«
»Ihr und eure Sterne«, sagte Mar y Poppins ärgerlich und schlug die
Decken zurück. »Ich werde euch helfen. Heraus aus den Betten! Ich bin
sowieso spät daran.«
»Wahrscheinlich hast du heute nacht zu lange getanzt«, sagte Michael,
der sich widerwillig aus den Bettdecken schälte, bis er auf dem Fußboden
stand.
»Getanzt? Hmpf, ich hab wohl viel Gelegenheit, tanzen zu gehen! Ich,
die ich auf die fünf unartigsten Kinder der We l t aufpassen muß!«
Verächtlich schnob Mary Poppins durch die Nase; sie sah unausgeschlafen
aus und so, als bedauere sie sich selbst.
»Aber warst du nicht tanzen — an deinem Ausgehabend?« fragte
Jane. Sie erinnerte sich, wie Mary Poppins und die Sonne inmitten der
mit Sternenstaub bestreuten Manege zusammen getanzt hatten.
Mary Poppins riß die Augen auf.
»Ich hoffe«, bemerkte sie und reckte sich hochmütig, »ich habe an meinem
Ausgehabend etwas Besseres zu tun als herumzuschnurren wie ein
wild gewordener Kreisel.«
»Aber ich habe dich gesehen!« sagt Jane. »Oben im Himmel. Du
sprangst aus der Hofloge hinunter in die Manege, um zu tanzen.«
Mi t angehaltenem At em sahen sie und Michael auf Ma r y Poppins,
deren Gesicht vor Zorn langsam rot anlief.

»Da hast du ja«, sagte sie kurz angebunden, »einen ganz hübschen
Alptraum gehabt, das muß ich sagen. We r hat je so etwas gehört: eine
Person in meiner Stellung und springt aus . . .«
»Aber ich hab auch einen Alptraum gehabt«, fiel Michael ein, »und
der war wunderbar. Ich war mi t Jane oben im Himmel und hab dich
gesehen!«
»Was? Springen?«
»Hm — ja — und tanzen.«
»Im Himmel?« Er zitterte, als sie jetzt auf ihn zutrat. Ihr Gesicht war
finster und furchteinflößend.
»Noch eine Beleidigung . . .«, sagte sie drohend. »Nur noch eine, und
du kannst in die Ecke tanzen. Ich warne dich!«
Er blickte schleunigst zur Seite und machte sich an der Kordel seines
Morgenrocks zu schaffen; Mary Poppins, bei der sogar die Schürze vor
Zorn knisterte, rauschte durchs Zimmer, um die Zwillinge zu wecken.
Jane saß auf ihrem Bett und beobachtete Ma r y Poppins, wie sie sich
über die Gitterbettchen beugte.
Michael schlüpfte langsam in seine Pantoffeln und seufzte.
»Wir müssen wohl doch geträumt haben«, sagte er traurig. »Ich
wollte, es wäre wahr.«
»Es ist wahr«, flüsterte Jane vorsichtig, die Augen nicht von Mary
Poppins lassend.
»Woher weißt du das? Bist du sicher?«
»Ganz sicher. Guck!«
Mary Poppins' Kopf war über Barbaras Bettchen gebeugt. Jane deutete
mi t einem Nicken hin. »Sieh dir ihr Gesicht an!« flüsterte sie ihm ins
Ohr.
Aufmerksam betrachtete Michael Mary Poppins' Gesicht. Da war das
schwarze, hinter die Ohren zurückgestrichene Haar; da die wohlbekannten
blauen Augen, wie bei einer Holländerpuppe; da die Himmelfahrtsnase
und die hellroten, glänzenden Backen.
»Ich sehe nichts . . .«, begann er und brach plötzlich ab. Denn jetzt,
als Mary Poppins den Kopf wandte, entdeckte er, was Jane gesehen
hatte.
Brennend rot, mitten auf ihrer Wange, saß ein kleines feuriges Mal.
Und beim genaueren Hinsehen stellte Michael fest, daß es einen seltsamen
Umriß hatte. Es war rund mi t flammenzüngigen Zacken und glich
einer ganz kleinen Sonne.
»Siehst du's?« sagte Jane sanft. »Das ist die Stelle, wohin sie sie geküßt
hat.«
Michael nickte — ein-, zwei-, dreimal.
»Richtig«, sagte er; er stand ganz still und starrte auf Mary Poppins.
»Ich seh's. Ich seh's . . .«

8. Kapitel
Allerlei Luftballons
»Ich wüßte gern, Ma r y Poppins«, sagte Mistreß Banks, als sie eines
Morgens ins Kinderzimmer geeilt kam, »ob Sie Zeit haben, für mich ein
paar Einkäufe zu erledigen.«
Und sie bedachte Mary Poppins mi t einem liebenswürdigen, nervösen
Lächeln, als wüßte sie nicht recht, wie die Antwort lauten würde.
Mary Poppins wandte sich v om Kaminfeuer weg, wo sie Annabels
Windeln angewärmt hatte.
»Das könnte ich«, meinte sie, nicht allzu ermunternd.
»Ach, ich seh schon . . .«, sagte Mistreß Banks und sah nervöser aus
denn je.
»Oder vielleicht auch nicht«, fuhr Mary Poppins fort, während sie ein
wollenes Jäckchen ausschüttelte und über den Ofenschirm hängte.
»Nun, falls Sie Zeit haben sollten, so ist hier die Einkaufsliste und
eine Pfundnote. Und den Rest können Sie für sich verwenden.«
Mistreß Banks steckte das Geld in die Kommodenschublade.
Mary Poppins sagte nichts. Sie zog nur die Luft durch die Nase.
»Ach!« sagte Mistreß Banks, da ihr plötzlich etwas einfiel, »die Z w i l -
linge müssen heute laufen, Ma r y Poppins. Robertson Ay hat sich heute
morgen in den Kinderwagen gesetzt, er hat ihn für einen Armsessel gehalten.
Jetzt muß er repariert werden. Können Sie ohne ihn fertig wer -
den? — und Annabel tragen?«
Mary Poppins öffnete den Mund, klappte ihn aber gleich wieder zu.
»Ich«, bemerkte sie verletzt, »kann mi t allem fertig werden und mit
noch mehr, wenn ich will!«
»Das . . . weiß ich!« sagte Mistreß Banks und rückte näher zur Tür.
»Sie sind ein Juwel — ein vollkommenes Juwel — eine -- -- -- wahrhaft
wundervolle und in jeder Hinsicht z u f r i e d e n s t e l l e n d e . . . « Ihre Stimme
erstarb, während sie die Treppe hinabeilte.
»Und doch — und doch — manchmal wünschte ich, sie wär nicht ganz
so vollkommen!« bemerkte Mistreß Banks zur Fotografie ihrer Urgroßmutter,
als sie im Wohnzimmer abstaubte. »Ihr gegenüber fühle ich mich
ganz klein und häßlich, als wäre ich wieder ein kleines Mädchen. Und
das bin ich doch nicht!« Mistreß Banks warf den Kopf zurück und blies
ein Staubfusselchen von der gefleckten Kuh auf dem Kaminsims. »Ich bin
eine bedeutende Persönlichkeit und Mutter von fünf Kindern. Das vergißt
sie!« Und sie fuhr mi t ihrer Arbeit fort, wobei sie sich alles mögliche
ausdachte, was sie Ma r y Poppins gerne sagen würde; aber die
ganze Zeit über wußte sie, daß sie dazu nie den Mu t aufbringen würde.
Mary Poppins steckte die Einkaufsliste und die Pfundnote in ihre

Handtasche; im Nu hatte sie ihren Hut festgesteckt und eilte aus dem
Haus, Annabel auf dem Arm und gefolgt von Jane und Michael, die
jeweils einen Zwilling an der Hand führten.
»Nehmt bitte die Beine in die Hand!« sagte sie und drehte sich scharf
nach ihnen um.
Sie beschleunigten ihre Schritte und schleiften dabei die armen Zwillinge
über das Pflaster. Sie vergaßen, daß sie John und Barbara fast die
Arme ausrenkten. Sie dachten nur an eines: nämlich daran, mi t Mary
Poppins Schritt zu halten und zu sehen, was sie mi t dem Rest der Pfundnote
anfangen würde.
»Zwei Pakete Kerzen, vier Pfund Reis, drei Pfund braunen Zucker
und sechs Pfund Würfelzucker; zwei Büchsen Tomatensuppe, eine Herdbürste,
ein Paar Gummihandschuhe, eine halbe Stange Siegellack, einen
Beutel Mehl, einen Feueranzünder, zwei Schachteln Streichhölzer, zwei
Köpfe Blumenkohl und ein Bund Rhabarber.«
Mary Poppins, die jenseits des Parks in den ersten Laden gerannt war,
las die Liste laut vor.
Der Kolonialwarenhändler, ein fetter, kahler und etwas kurzatmiger
Mann, schrieb die Bestellung auf, so rasch er konnte.
»Einen Beutel Gummihandschuhe . . . « , schrieb er nieder und leckte dabei
nervös am falschen Ende seines Bleistiftstummels.
»Mehl, sagte ich!« berichtigte Ma r y Poppins spitz.
Der Händler wurde rot wie eine Himbeere.
»Oh, Verzeihung. Wollte Sie nicht beleidigen, gewiß nicht. Schöner
Ta g heute, wie? Ja. Mein Versehen. Ein Beutel Gummi. . . ä h h . . .
Mehl.«
Schleunigst schrieb er es nieder und fügte hinzu:
»Zwei Schachteln Herdbürsten .. .«
»Streichhölzer!« fuhr Mary Poppins ihn an.
Dem Händler begannen die Hände auf dem Pult zu zittern.
»Ach, natürlich. Der Bleistift muß daran schuld sein — er scheint alles
falsch aufzuschreiben. Ich muß mir einen neuen zulegen. Streichhölzer
natürlich! Wa s noch, bitte?« Nervös blickte er auf und dann wieder auf
seinen kleinen Bleistiftstummel.
Mary Poppins entfaltete die Liste wieder und las sie ungeduldig und
ärgerlich noch einmal vor.
»Tut mir leid«, sagte der Händler, als sie am Ende angelangt war.
»Der Rhabarber ist ausgegangen. Tun's nicht auch Pflaumen?«
»Keinesfalls. Ein Paket Tapioka.«
»Ach nein, Mary Poppins — keinen Tapioka. Den hatten wir erst
vorige Woche«, erinnerte Michael sie.
Sie warf erst ihm und dann dem Händler einen Blick zu, der ausdrückte,
daß sie sich keine Hoffnung machen sollten. Tapioka, dabei blieb

es. Der Händler, der immer röter wurde, ging nach hinten, um ihn zu
holen.
»Wenn sie so weitermacht, bleibt von dem Geld nichts übrig«, sagte
Jane, die zusah, wie der Haufen auf dem Ladentisch immer höher wuchs.
»Vielleicht bleibt noch genug für ein Päckchen saure Drops — aber
mehr bestimmt nicht«, sagte Michael düster, als Mary Poppins die
Pfundnote aus ihrer Tasche zog.
»Besten Dank«, sagte sie, als der Händler ihr das Wechselgeld herausgab.
»Habe Ihnen zu danken!« erwiderte er höflich und stemmte die Arme
auf den Ladentisch. Er lächelte ihr auf liebenswürdige Weise zu und
fuhr fort: »Es wird wohl schön bleiben, meinen Sie nicht auch?« Seine
Stimme klang stolz, als wäre er höchstpersönlich für das Wetter verantwortlich
und hätte extra für sie schönes Wetter bestellt.
»Uns wäre Regen lieber!« sagte Ma r y Poppins spitz und ließ gleichzeitig
ihren Mund und ihre Tasche zuschnappen.
»Da haben Sie recht«, sagte der Händler schnell, im Bemühen, sie
nicht zu verletzen. »Regen ist immer so unterhaltsam.«
»Das nie!« erwiderte Mar y Poppins und rückte Annabel bequemer in
ihrem Arm zurecht.
Der Händler machte ein langes Gesicht. Wa s er auch sagte, war falsch.
»Ich hoffe«, bemerkte er und öffnete höflich die Tür, »Sie beehren uns
weiter mi t Ihrer Kundschaft, Madam.«
»Guten Tag!« Mar y Poppins rauschte hinaus.
Der Händler seufzte.
»Hier«, sagte er und krabbelte eifrig in einer Büchse neben der Tür
herum. »Da nehmt! Ich wollte sie nicht ärgern, wahrhaftig nicht, ich
wollte nur höflich sein.«
Jane und Michael streckten die Hand aus. Der Händler l ieß in Mi -
chaels Hand drei und in Janes Hand zwei Schokoladenplätzchen gleiten.
»Eins für jeden v on euch, eins für die beiden Kleinen, und eins .. .«
Er nickte hinter Ma r y Poppins her. »Für sie.«
Sie bedankten sich und eilten, an ihren Schokoladenplätzchen lutschend,
Mary Poppins nach.
»Was eßt ihr da?« fragte sie und blickte auf den dunklen Rand um
Michaels Mund.
»Schokoladenplätzchen. Der Händler gab uns jedem eins. Und eins
für dich.« Er streckte ihr das Plätzchen hin. Es war schon recht klebrig.
»Diese Frechheit sieht ihm ähnlich!« sagte Mary Poppins, nahm das
Plätzchen aber trotzdem und verschlang es in zwei Happen; es schien
ihr zu schmecken.
»Ist viel Geld übriggeblieben?« erkundigte sich Michael ängstlich.
»Das geht dich nichts an.«
Sie eilte in eine Drogerie und kam mi t einem Stück Seife, einem Senfpflaster
und einer Tube Zahnpasta wieder heraus.
Jane und Michael, die mi t den Zwillingen vor der Tür gewartet hatten,
seufzten schwer.
Die Pfundnote, so meinten sie, müßte bald ausgegeben sein.
»Ihr bleibt kaum noch genug, um eine Briefmarke zu kaufen, und
wenn sie die hat, ist es nicht mehr interessant«, sagte Jane.
»Nun zu Mister Tip!« befahl Ma r y Poppins; an der einen Hand baumelten
ihr die Päckchen aus der Drogerie und ihre Handtasche, und mit
der anderen hielt sie Annabel an sich gepreßt.
»Aber wa s können wi r denn da noch kaufen?« fragte Michael entmutigt.
Denn in Ma r y Poppins' Börse klimperte es kaum noch.
»Kohlen — zweieinhalb Tonnen!« sagte sie und eilte weiter.
»Was kostet Kohle?«
»Zwei Pfund die Tonne.«
»Aber — Mary Poppins! Das können wir ja gar nicht mehr bezahlen!«
Entsetzt blickte Michael sie an.
»Es geht auf Rechnung.«
Das bedeutete für Jane und Michael eine solche Erleichterung, daß sie
neben ihr herhüpften, John und Barbara wurden im Trab mitgeschleift.
»Ist das nun alles?« fragte Michael, als sie Mister Tip und seine Kohlen
ohne Schaden hinter sich gelassen hatten.
»Keksladen!« sagte Ma r y Poppins, die ihre Liste durchsah und dann
auf eine dunkle Tür zueilte. Durchs Schaufenster beobachteten sie, wie
sie auf einen Haufen Makronen deutete. Die Verkäuferin überreichte ihr
eine große Tüte.
»Sie hat mindestens ein Dutzend gekauft«, sagte Jane traurig. Für gewöhnlich
erfüllte sie der Anblick eines Menschen, der Makronen kaufte,
mi t Entzücken, aber heute wünschte sie heiß und innig, daß es auf der
ganzen We l t keine Makronen gäbe.
»Wohin nun?« fragte Michael und hüpfte von einem Bein aufs andere
vor Aufregung, wei l er gern wissen wollte, ob von der Pfundnote noch
etwas übrig war. Er war überzeugt, daß dies nicht der Fall sein könnte,
aber dennoch — er hoffte.
»Nach Hause«, sagte Mary Poppins.
Sie machten lange Gesichter. Es war also kein Geld mehr übrig, nicht
einmal ein Penny; sonst hätte Mary Poppins ihn sicherlich ausgegeben.
Aber Mary Poppins, die die Tüte mi t Makronen Annabel auf die Brust
gesetzt hatte, machte ein solches Gesicht, daß sie keine Bemerkung mehr
wagten. Sie wußten nur, daß sie zum erstenmal von ihr enttäuscht worden
waren, und das, fühlten sie, konnten sie ihr nicht verzeihen.
»Aber hier entlang geht's ja gar nicht nach Hause«, beschwerte sich
Michael, der lustlos über das Pflaster schlurfte.

»Liegt der Park nicht auf dem We g nach Hause, möcht ich wissen?«
fuhr sie ihm heftig über den Mund.
»Das schon — aber . . . «
»Man kann auf mehr als einem We g durch einen Park gehen«, bemerkte
sie und führte sie durch einen Teil, den sie bisher noch nie besucht
hatten.
Die Sonne schien warm hernieder. Die hohen Bäume beugten sich über
die Gitterstäbe und raschelten mi t den Blättern. In den Zweigen kämpften
zwei Spatzen um einen Strohhalm. Ein Eichhörnchen hüpfte die
Steinbalustrade entlang, setzte sich auf die Hinterbeine und bettelte um
eine Nuß.
Aber heute beachteten sie das alles nicht. Jane und Michael waren
anderweitig in Anspruch genommen. Sie dachten nur daran, daß Mary
Poppins die ganze Pfundnote für Kinkerlitzchen ausgegeben und nichts
übrigbehalten hatte.
Müde und enttäuscht trotteten sie hinter ihr her zum Parktor. Über
dem Eingang — er war ihnen fremd, sie hatten ihn bisher noch niemals
benutzt — wölbte sich ein hoher Steinbogen, in den ein Löwe und ein
Einhorn prächtig eingemeißelt waren. Unter dem Bogen saß eine uralte
Frau; ihr Gesicht war so grau und verwittert wie der Stein und verrunzelt
wie eine Walnuß. Auf ihren müden alten Knien hielt sie ein Brett,
auf dem etwas aufgestapelt lag, das wie kleine, farbige Gummistreifchen
aussah; über ihrem Kopf, fest ans Parkgitter gebunden, hüpfte und
schwankte und tanzte ein Bündel hel l leuchtender Luftballons.
»Luftballons! Luftballons!« rief Jane. Die Hand aus Johns klebrigen
Fingern befreiend, lief sie auf die alte Frau zu. Michael rannte hinter ihr
her und ließ Barbara einsam und verlassen mitten auf dem Wege stehen.
»Na, meine Täubchen!« sagte die Ballonfrau mi t einer alten, zittrigen
Stimme. »Welchen wollt ihr haben? Sucht euch einen aus ! Und laßt
euch Zeit.« Sie beugte sich vor und schüttelte das Brett vor ihrer Nase.
»Wir wollten nur mal gucken«, erklärte Jane. »Wir haben kein Geld.«
»Tz — tz — tz! Wa s nützt es, einen Ballon anzugucken? Einen Ballon
muß man fühlen, einen Ballon muß man halten, man muß ihn kennenlernen!
Kommen und angucken! Wa s habt ihr davon?«
Die Stimme des alten Weibleins zitterte wie ein Flämmchen. Sie
wiegte sich auf ihrem Stuhl.
Jane und Michael starrten sie hilflos an. Sie wußten, daß sie recht
hatte. Aber was war zu machen?
»Als ich klein war«, fuhr die alte Frau fort, »verstanden die Leute sich
wirklich noch auf Ballons. Die kamen nicht bloß und guckten! Sie kauften
— jawohl, sie kauften! Ohne Ballon ging kein Kind durch dieses Tor.
Damals hätten sie die Ballonfrau nicht dadurch beleidigt, daß sie nur
guckten und vorbeigingen!«

Sie beugte den Kopf in den Nacken und blickte zu den tanzenden
Ballons hoch.
»Ach, meine lieben Täubchen!« rief sie. »Sie verstehen nichts mehr
von euch — keiner versteht was, nur die alte Frau. Ihr seid aus der Mode
gekommen. Keiner verlangt mehr nach euch!«
»Wir doch«, sagte Michael nachdrücklich. »Aber wir haben kein Geld.
Sie hat die ganze Pfundnote ausgegeben, um . . . «
»Und wer ist >sieMichael Banks< ergaben.
»Aha!« kicherte das Ballonweiblein. »Was hab ich dir gesagt? Du hast
dir Zeit gelassen und den richtigen gewählt!«
»Sieh nach, wie es bei mir ist«, sagte Jane und reichte der alten Frau
eine schlaffe blaue Ballonhülle.
Sie holte Luft und blies sie auf; da stand quer über der dicken blauen
Kugel in großen weißen Buchstaben: >Jane Caroline Banks.<
»Heißt du so, mein Täubchen?« fragte die Ballonfrau.
Jane nickte.
Die Ballonfrau lachte in sich hinein, ein dünnes, altweiberhaftes Gekicher;
Jane nahm ihr den Ballon aus der Hand und ließ ihn in die Luft
steigen.
»Mir! Mir!« schrien John und Barbara und fuhren mi t fetten Patschen
in den Haufen Ballonhüllen. John zog einen rosafarbenen heraus, und
als die Ballonfrau ihn aufblies, lächelte sie. Deutlich waren auf der runden
Ballonhülle folgende Worte zu lesen: >John und Barbara Banks —
einen für beide gemeinsam, weil sie Zwillinge sind.<
»Aber«, sagte Jane, »das verstehe ich nicht. Woher wußtest du das?
Du hast uns doch noch nie gesehen.«
»Ach, mein Täubchen, sagte ich dir nicht, daß es vielerlei Arten Ballons
gibt und diese hier etwas ganz Besonderes sind?«
»Aber hast du die Namen darauf gesetzt?« fragte Michael.
»Ich?« Da s alte Weiblein kicherte. »Wie käm ich dazu?«
»Wer denn sonst?«
»Das darfst du mich nicht fragen, mein Täubchen! Alles, was ich weiß,
ist, daß sie dastehen! Und daß es für jeden in der Welt einen Ballon gibt,
vorausgesetzt, daß er den richtigen wählt!«
»Auch einen für Mary Poppins?«
Das Ballonweiblein legte den Kopf auf die Seite und sah Mary Poppins
mi t seltsamem Lächeln an.
»Sie kann's ja versuchen!« Die alte Frau schaukelte auf ihrem kleinen
Stuhl hin und her. »Triff deine Wahl und laß dir Zeit! Such dir einen
aus und sieh zu!«
Mary Poppins zog voller Wichtigkeit die Luft durch die Nase. Ihre
Hand schwebte einen Augenblick über den Ballonhüllen und deutete
dann auf eine rote. Sie streckte den leeren Ballon auf Armeslänge von
sich, und zu ihrer Ãœberraschung sahen die Kinder, wie er sich langsam,
ganz von allein, mi t Luft füllte. Größer und immer größer wurde er, bis
er so groß war wie der von Michael. Aber immer noch schwoll er an, bis
er dreimal größer war als die anderen. Und quer auf ihm stand in goldenen
Buchstaben: >Mary Poppins.<
Der rote Ballon tanzte in der Luft, und das alte Weiblein band ihn an
eine Schnur; mi t leisem Kichern gab sie ihn Ma r y Poppins wieder zurück.
Hoch in die Luft stiegen die vier Ballons. Sie zogen an ihrer Schnur,
als wollten sie sich von ihrer Fessel befreien. Der Wind ergriff sie und
warf sie vor und zurück, nach Norden, Süden, Osten und Westen.
»Vielerlei Arten Ballons, meine Täubchen! Für jeden einen, wenn sie's
nur alle wüßten!« rief das Ballonweiblein glücklich.
Im gleichen Augenblick trat ein älterer Herr in steifem Hut durch das
Parktor, blickte herüber und sah die Ballons. Die Kinder merkten, wie er
ein wenig zögerte. Dann eilte er zu dem Ballonweiblein hin.
»Wieviel?« fragte er und klimperte mi t seinem Geld in der Tasche.
»Sieben Pence und ein halber Penny. Treffen Sie Ihre Wa h l und lassen
Sie sich Zeit!«
Er nahm sich einen braunen, und die Ballonfrau blies ihn auf. In großen
grünen Buchstaben erschienen die Worte: >Der ehrenwerte Wetherill
Wilkins.<
»Lieber Himmel!« sagte der ältere Herr. »Lieber Himmel, das ist mein
Name!«
»Du hast richtig gewählt, mein Täubchen. Unter vielerlei Arten von
Ballons!« sagte die alte Frau.
Verblüfft betrachtete der ältere Herr seinen Ballon, der mi t Macht an
der Schnur zog.
»Höchst ungewöhnlich«, sagte er und schnaubte sich mi t einem Trompetenton
die Nase. »Vor vierzig Jahren, als ich noch ein kleiner Junge
war, versuchte ich, hier einen Ballon zu kaufen. Aber man erlaubte mir's
nicht. Es hieß, wir könnten uns das nicht leisten. Vierzig Jahre — und so
lange hat er hier auf mich gewartet. Ich muß schon sagen, wirklich
höchst merkwürdig!«
Er eilte davon, und weil seine Augen nur an dem Ballon hafteten,
rannte er gegen einen Pfeiler. Die Kinder sahen ihn mehrmals aufgeregt
in die Luft hüpfen.
»Da, schau hin!« schrie Michael, als der ältere Herr immer höher und
höher hüpfte. Aber im gleichen Augenblick fing sein eigener Ballon an,
mächtig an der Schnur zu ziehen, und er fühlte, wie er den Boden unter
den Füßen verlor.
»Hallo, hallo! Wi e komisch! Mi r geht's genauso!«
»Vielerlei Arten Ballons, mein Täubchen!« sagte die Ballonfrau und
brach in ihr kicherndes Gelächter aus, während nun auch die Zwillinge,
beide ihren Ballon an der einen Schnur festhaltend, v om Boden abstießen.
»Ich fliege! Ich fliege!« schrie Jane, als auch sie in die Luft getragen
wurde.
»Nach Hause, bitte!« sagte Mary Poppins. Und sofort stieg auch der
rote Ballon auf und schleppte Mary Poppins hinter sich her. Au f und ab
hüpfte sie, Annabel und die Pakete im Arm. Durchs Tor und über den
Pfad trug der rote Ballon Ma r y Poppins; ihr Hut saß ebenso gerade wie
sonst, ihr Haar war ebenso straff, und ihre Füße wanderten ebenso energisch
durch die Luft wie sonst über die Erde. Jane und Michael und die
Zwillinge, von den Ballons gezogen, taumelten hinter ihr her.
»Oh, oh, oh!« schrie Jane, als sie durch die Zweige einer Ulme wirbelte.
»Was für ein köstliches Gefühl!«
»Mir ist, als wäre ich aus lauter Luft!« sagte Michael, der gerade eine
Parkbank streifte und sich daran wieder abstieß. »Was für eine spaßige
A r t , nach Hause zu gehen!«
»Oh, oh, oh! Ih, ih, ih!« quiekten die Zwillinge, die dauernd zusammenstießen
und wieder auseinander fuhren.
»Beeilt euch und bummelt nicht herum!« sagte Mary Poppins und
blickte streng über die Schulter zurück; es klang wahrhaftig, als wanderte
sie gelassen über die feste Erde, statt durch die Luft gezogen zu
werden.
Am Haus des Parkaufsehers vorbei ging es in die Lindenallee. Dort
trafen sie den älteren Herrn, der vor ihnen her hoppelte. Michael wandte
einen Augenblick den Kopf und blickte zurück.
»Guck, Jane, guck! Jeder hat einen!«
Sie drehte sich um. Hinter ihnen her trieb eine ganze Gruppe von Leuten,
die, alle Ballons in der Hand, in der Luft auf und ab wippten.
»Auch der Eismann hat einen gekauft!« rief Michael und staunte so,
daß er ums Haar eine Statue umgeworfen hätte.
»Ja, sogar der Straßenfeger. Und da — siehst du? —, da ist Miß Lark!«
Über den Rasen kam eine wohlbekannte Gestalt angehüpft, in Hut
und Handschuhen und einen Ballon in der Hand, der den Namen >Lucinda
Emily Lark< trug. Sie schwebte über die Ulmenallee, wobei sie
ebenso würdig wie vergnügt aussah, und entschwand um die Ecke beim
Springbrunnen.
Mittlerweile hatte sich der Park mit Leuten gefüllt, und jeder hielt
einen Ballon mi t einem Namen darauf, und jeder hüpfte in der Luft
herum.
»Anker auf, ihr da! Platz für den Admiral! Wo ist mein Hafen?
Anker auf!« rief eine mächtige Seemannsstimme, als Admiral Boom und
Frau durch die Luft schlingerten. Sie hielten einen großen, weißen Ballon
an der Schnur, auf dem in blauen Buchstaben ihr Name stand.
»Backen und Wanten! Austern und Krabben! Ändert den Kurs, meine
Lieben!« brüllte der Admiral, der gerade vorsichtig an einer großen Eiche
vorbeisteuerte.
Immer größer wurde der Haufen von Ballonleuten. Im ganzen Park
gab es kaum noch einen Flecken in der Luft, in dem nicht bunt wie ein
Regenbogen die Ballons trieben. Jane und Michael sahen, wie Mary
Poppins sich energisch einen We g bahnte, und auch sie wanden sich eilig
durchs Gedränge, John und Barbara ihnen auf den Fersen.
»Oje, oje, mein Ballon hüpft nicht mi t mi r ! Ich muß den falschen
gewählt haben!« sagte eine Stimme nahe bei Jane.
Eine altmodische Dame mi t einem Federgesteck am Hut und einer
Federboa um den Hals stand gerade unter Jane auf dem Gehsteig.
Zu ihren Füßen lag ein purpurfarbener Ballon, auf dem in Goldbuchstaben
>Der Premierminister< stand.
»Was mach ich nun?« rief sie. »Die alte Frau am Parktor sagte: >Triff
deine Wahl und laß dir Zeit, mein Täubchen!<, und das tat ich. Aber ich
hab den falschen erwischt. Ich bin nicht der Premierminister!«
»Verzeihung, aber ich!« sagte neben ihr eine Stimme; ein hochgewachsener
Herr, sehr elegant gekleidet und einen zusammengerollten
Regenschirm über dem Arm, trat auf sie zu.
Die Dame drehte sich um. »Ach, dann ist das Ihr Ballon! Lassen Sie
mal sehen, ob Sie nicht meinen haben!«
Der Premierminister, dessen Ballon ihn gleichfalls nicht tragen wollte,
zeigte ihn her. Die Aufschrift lautete >Lady Muriel Brighton-Jones<.
»Ja, das ist er! Wi r sind verwechselt worden!« rief sie und, dem Premierminister
seinen Ballon überreichend, ergriff sie den ihren. Gleich
darauf lösten sie sich vom Erdboden und schwebten, sich lebhaft unterhaltend,
zwischen den Bäumen dahin.
»Sind Sie verheiratet?« hörten Jane und Michael Lady Muriel fragen.
Und der Premierminister antwortete: »Nein. Ich kann keine passende
Dame mittleren Alters finden — nicht zu jung und nicht zu alt und ein
bißchen munter, denn ernst bin ich selbst.«
»Wäre ich wohl die Rechte?« fragte Lady Muriel Brighton-Jones. »Ich
bin fast immer vergnügt.«
»Ja, ich glaube, wi r passen zusammen«, sagte der Premierminister,
und Hand in Hand gesellten sie sich zu der herumhüpfenden Menge.
Jetzt wa r der Park schon ziemlich überfüllt. Jane und Michael hopsten
hinter Mary Poppins her über die Wiesen und stießen dauernd mi t anderen
Leuten zusammen, die von der alten Frau Ballons gekauft hatten. Ein
hochgewachsener Mann, der einen langen Schnurrbart, eine blaue Uniform
und einen Helm trug, wurde von einem Ballon gezogen, der ihn als
>Polizeiinspektor< auswies. Ein anderer mi t der Aufschrift Oberbürgermeister
schleifte eine runde, fette Gestalt mi t einem Dreispitz, einem
roten Umhang und einer großen Messinghalskette.
»Bitte weitergehen! Keinen Auflauf im Park! Beachten Sie die Vorschriften!
Allen Ab f a l l in die Papierkörbe!«
Der Parkaufseher, brummend und schimpfend, einen kleinen kirschfarbenen
Ballon mi t der Aufschrift >F. Smith< in der Hand, bahnte sich
einen We g durch die Menge. Mi t einer Handbewegung verscheuchte er
zwei Hunde — eine Bulldogge, auf deren Ballon >CD< stand, und einen
Foxterrier, der >Albertine< zu heißen schien.
»Lassen Sie meine Hunde in Ruhe! Oder ich schreibe mir Ihre Nummer
auf und melde Sie!« schrie eine Dame, deren Ballon bekanntgab,
daß sie die Herzogin von Maifeld war.
Aber der Parkaufseher beachtete sie nicht und trieb hüpfend vorbei;
dabei rief er dauernd: »Alle Hunde an die Leine! Keinen Auflauf im
Park! Rauchen verboten! Vorschriften beachten!«, bis er ganz heiser war.
»Wo ist Mary Poppins?« fragte Michael und winkte Jane.
»Da! Gerade vor uns!« erwiderte sie und deutete auf die steife, adrette
Gestalt, die an dem größten Ballon im ganzen Park hing. Sie folgten ihr
nach Hause.
»Vielerlei Arten Ballons, meine Täubchen!« rief eine zitternde Stimme
hinter ihnen her.
Und sich umblickend, sahen sie die Ballonfrau. Ihr Brett war leer und
nirgends in ihrer Nähe ein Ballon zu sehen; dennoch flog sie durch die
Luft, als würde sie von hundert unsichtbaren Ballons fortgezogen.
»Alle verkauft!« schrie sie im Vorbeigleiten. »Für jeden ist ein Ballon
da, wenn sie's nur alle wüßten. Sie würden ihre Wahl treffen und sich
Zeit lassen! Und ich wäre den ganzen Bestand los! Al l die verschiedenen
Ballons.«
In ihren Taschen klimperte es gewaltig, als sie vorüberflog; Jane und
Michael machten in der Luft hal t und sahen zu, wie die kleine, verschrumpelte
Gestalt zwischen den tanzenden Ballons hindurchschoß, vorbei
am Premierminister und am Oberbürgermeister, vorbei an Mary
Poppins und Anna b e l , bis sie immer winziger wurde und in der Ferne
verschwand.
»Vielerlei Arten Ballons, meine Täubchen!« klang es wie ein leises
Echo zu ihnen zurück.
»Macht vorwärts, bitte!« sagte Mary Poppins. Alle vier umdrängten
sie. Annabel, von Mary Poppins' Ballon gewiegt, kuschelte sich dichter
an sie und schlief ein.
Das Tor von Nummer siebzehn stand offen, die Haustür gleichfalls.
Mary Poppins schwebte steif und leicht anstoßend hindurch und die
Treppe hinauf. Die Kinder folgten, hüpfend und wippend. Und als sie
die Tür zum Kinderzimmer erreichten, setzten sich die vier Paar Füße
mit einem Klapp auf den Fußboden. Mary Poppins schwebte nieder und
landete geräuschlos.
»Ach, was für ein reizender Nachmittag!« sagte Jane und flog Mary
Poppins um den Hals.
»Reizend? — Na , von dir kann man das im Augenblick nicht sagen.
Bürste dir gefälligst das Haar. Ich wünsche keine Vogelscheuchen«, sagte
Mary Poppins scharf.
»Ich fühle mich wie ein Ballon«, sagte Michael vergnügt. »Ganz leuchtend,
luftig und locker!«
»Wenn einer so leuchtend aussieht wie du, dann kann er mir leid
tun«, sagte Mary Poppins. »Geh und wasch dir die Hände. Du siehst aus
wie ein Schornsteinfeger!«
Al s sie sauber und wohlgebürstet zurückkamen, schwebten die vier
Ballons an der Decke, ihre Schnüre waren hinter dem Bild über dem
Kamin sicher verankert.
Michael blickte hoch, zu seinem eigenen gelben, Janes blauem, dem
rosafarbenen der Zwillinge und Mary Poppins' rotem. Sie rührten sich
nicht; kein Lüftchen bewegte sich. Leicht und leuchtend, stetig und still
schwebten sie unter die Decke.
»Wissen möchte ich aber doch . . .«, sagte Michael leise, halb zu sich
selbst.
»Was möchtest du wissen?« fragte Mary Poppins, die ihre Pakete
sortierte.
»Ich möchte wissen, ob all das passiert wäre, wenn du nicht bei uns
gewesen wärst.«
Mary Poppins zog die Luft hoch.
»Ich möchte wissen, ob du nicht viel zuviel wissen möchtest«, sagte
sie.
Und damit mußte Michael sich zufriedengeben.

9. Kapitel
Nelly Rubina
»Ich glaube, das hört nie wieder auf!«
Jane ließ ihren >Robinson Crusoe< sinken und blickte düster zum Fenster
hinaus.
Draußen fiel gleichmäßig der Schnee, senkte sich in großen, weichen
Flocken und deckte den Park und die Bürgersteige und die Häuser im
Kirschbaumweg mi t seinem dicken, weißen Mantel zu. Seit einer Woche
hatte es nicht aufgehört zu schneien, und die ganze Zeit über hatten die
Kinder nicht an die Luft gehen können.
»Mir macht das nichts — jedenfalls nicht v i e l « , sagte Michael vom
Fußboden herauf, wo er gerade eifrig die Tiere aus seiner Arche Noah
aufstellte. »Wi r können ja Eskimo spielen und Wa l e essen.«
»Blödsinn — wie können wir an Wale kommen, wenn es so schneit,
daß wi r uns nicht einmal Hustenbonbons holen können!«
»Sie können ja herkommen. Das tun Wale manchmal«, erwiderte er.
»Woher weißt du das?«
»Na, ich weiß es nicht gerade. Aber sie könnten doch, Jane! Wo ist die
zweite Giraffe? Ach, da ist sie — unter dem Tiger!«
Er stellte die beiden Giraffen nebeneinander in die Arche.
»Die Paare traten ein im Nu,
Der Elefant und 's Känguruh«,
sang Michael. Und weil er kein Känguruh besaß, führte er eine Antilope
mi t dem Elefanten hinein und dahinter Mister und Mistreß Noah, um
Ordnung zu halten.
»Ich frage mich, warum sie eigentlich keine Verwandten haben!« bemerkte
er nach einer Weile.
»Wer?« fragte Jane ungnädig, denn sie wollte nicht gestört werden.
»Die Noahs. Ich habe sie nie mit einer Tochter oder einem Sohn gesehen
oder mi t einem Onkel oder mi t einer Tante. Warum?«
»Weil sie keine haben«, sagte Jane. »Und jetzt hal t den Mund.«
»Na, ich hab doch bloß eine Bemerkung gemacht. Darf ich das etwa
nicht?«
Nun wurde er ungnädig und bekam es satt, im Kinderzimmer eingesperrt
zu sein. Er stand auf und stolperte zu Jane hinüber.
»Ich sagte ja nur . . . « , begann er hartnäckig und schüttelte die Hand,
die das Buch hielt.
Jetzt aber riß Jane die Geduld, und sie schleuderte Robinson Crusoe
quer durchs Zimmer.
»Was fällt dir ein, mich zu stören?« schrie sie und fuhr auf Michael
los.
»Was fällt dir ein, mich keine Bemerkung machen zu lassen?«
»Das habe ich ja gar nicht!«
»Doch!«
Im nächsten Augenblick hatte Jane Michael bei der Schulter gepackt
und schüttelte ihn wütend, während er ihr mit beiden Händen ins Haar
fuhr.
»WAS SOLL D A S HEISSEN?«
In der Tür stand Mary Poppins und blickte düster auf sie nieder.
Sie ließen voneinander ab.
»S — s — sie hat mich geschüttelt!« jammerte Michael, blickte Mary
Poppins aber schuldbewußt an.
»E — er hat mich an den Haaren gezogen!« schluchzte Jane, das Ge -
sicht in den Armen verborgen, denn sie traute sich nicht, dem strengen
Blick zu begegnen.
Mary Poppins kam ins Zimmer. Ãœber dem Arm trug sie einen Haufen
Mäntel, Mützen und Schals, und ihr auf den Fersen folgten die Zwi l -
linge, mi t runden Augen und höchst interessiert.
»Lieber«, schnaubte sie verächtlich, »lieber würde ich eine Kannibalenfamilie
beaufsichtigen, die wären menschlicher!«
»Aber sie hat mich geschüttelt. . .«, fing Michael wieder an.
»Erzähl das deiner Großmutter!« fuhr Ma r y Poppins ihn an. Und
dann, als er aufbegehren wollte, warnte sie: »Untersteh dich, mir zu
widersprechen!« Damit warf sie ihm seinen Mantel zu. »Zieht bitte eure
Sachen an! Wi r gehen aus.«
»Aus?«
Sie trauten ihren Ohren nicht, doch beim Klang dieses Wortes schmolz
ihre schlechte Laune sofort. Michael, der seine Gamaschen zuknöpfte, tat
es leid, daß er Jane gereizt hatte, und als er zu ihr hinblickte, sah er sie
ihre Kappe aufsetzen und ihm zulächeln.
»Hurra! Hurra! Hurra!« schrien sie, stampften mi t den Füßen und
klatschten in ihre wollbehandschuhten Hände.
»Kannibalen!« sagte Mary Poppins streng und schob sie vor sich her
zur Treppe.
Es schneite nicht mehr, doch häuften sich überall im Garten große
Schneewehen, und weiter drüben im Park lag eine dicke, weiße Decke.
Die nackten Zweige der Kirschbäume trugen einen glitzernden Schneesaum,
und die Parkgitter, die sonst grün und zierlich waren, sahen jetzt
weiß aus und fast wollig.
Über den Gartenweg schob Robertson Ay gemächlich seine Schneeschaufel;
alle paar Schritte machte er halt und ruhte sich gehörig aus. Er
hatte einen alten Mantel von Mister Banks an, der viel zu lang für ihn
war. Kaum hatte er ein Stückchen We g freigeschaufelt, so fegte der hinter
ihm herschleppende Mantel eine neue Lage Schnee auf das eben gesäuberte
Stück.
Die Kinder rannten schreiend, rufend und mi t den Armen fuchtelnd
an ihm vorbei zum Tor.
Draußen auf der Straße war alles, wa s hier lebte, auf den Beinen und
schnappte ein wenig Luft.
»Ahoi, Schiffsmaaten!« brüllte eine heisere Stimme; Admiral Boom
trat auf sie zu und schüttelte allen die Hand. Von Kopf bis Fuß umhüllte
ihn ein großes Wettercape, und seine Nase leuchtete röter denn je.
»Guten Tag!« sagten Jane und Michael höflich.
»Potz Steuerbord!« rief der Admiral. »Das nenn ich keinen guten
Tag. Hrrrrumph! Einen scheußlichen, schimmligen Ta g für unbefahrene
Landratten nenne ich das! Warum wird es nicht Frühling, möcht ich
wissen!«
»Hierher, A n d y ! Hierher, Willibald! Bleibt schön bei Frauchen!«
Mi ß Lark, die in ihrem langen Pelzmantel und mi t der Pelzmütze wie
eine Teepuppe aussah, ging mi t ihren beiden Hunden spazieren.
»Guten Morgen allerseits«, grüßte sie zerstreut. »Was für ein Wetter!
Wo bleibt die Sonne? Und warum wird es nicht Frühling?«
»Mich dürfen Sie danach nicht fragen!« brüllte Admiral Boom. »Das
ist nicht meine Sache. Sie sollten zur See gehen. Da ist immer Schönwetter!
Gehen Sie zur See!«
»Ach, Admiral Boom, das kann ich doch nicht. Ich habe keine Zeit
dazu. Ich will grade A n d y und Willibald ein Pelzmäntelchen kaufen.«
Die beiden Hunde wechselten einen Blick voller Scham und Entsetzen.
»Pelzmäntelchen!« brüllte der Admiral. »Potz Fernrohr! Pelzmäntelchen
für diese Promenadenmischungen! Werfen Sie sie über Bord! Und
'raus aus dem Haufen, sag ich! Anker auf! — Pelzmäntelchen!!«
»Admiral! Admiral!« rief Miß Lark und hielt sich die Ohren zu. »Was
für eine Sprache! Bitte, bitte, denken Sie daran, daß ich so etwas nicht
gewöhnt bin. Und meine Hunde sind keine Promenadenmischungen.
Keineswegs! Der eine hat einen ellenlangen Stammbaum und der andere
zum mindesten ein gutes Herz. Promenadenmischungen, so etwas!«
Und sie eilte davon, mi t hoher, ärgerlicher Stimme weiter vor sich hin
sprechend; A n d y und Willibald trotteten neben ihr her, pendelten mit
den Schwänzen und sahen sehr unbehaglich und beschämt aus.
Der Eismann fuhr mi t seinem Wagen vorbei; er war in rasender Eile
und bimmelte wie verrückt.
»NICHT ANHALTEN, SONST ERKÄLTE ICH MICH!« verkündete
das Schild vorn am Wagen.
»Kommt der Frühling überhaupt noch mal?« rief der Eismann dem
Straßenfeger zu, der gerade um die Ecke geschlendert kam. Um sich vor
der Kälte zu schützen, hatte er sich ganz mi t Besen zugedeckt, so daß er
eher wie ein Igel aussah als wie ein Mensch.
»Bur — rum, bummel!« kam seine Stimme unter dem Besen hervor.
»Wie bitte?« sagte der Eismann.
»Bummel!« bemerkte der Straßenfeger und verschwand in Miß Larks
Haus.
Im Parktor stand der Aufseher, schlug die Arme übereinander,
stampfte mi t den Füßen und blies in seine Hände.
»Könnten ein bißchen Frühling gebrauchen, wie?« sagte er freundlich
zu Mary Poppins, als sie und die Kinder an ihm vorbeigingen.
»Ich bin ganz zufrieden!« bemerkte Ma r y Poppins steif und warf den
Kopf in den Nacken.
»Selbstzufrieden, willst du wohl sagen«, murmelte der Aufseher. Aber
da er dabei die Hand vor den Mund hielt, verstanden es nur Jane und
Michael.
Michael zottelte wieder einmal hinterdrein. Er bückte sich und hob
eine Handvoll Schnee auf, den er zwischen den Händen zu rollen begann.
»Hallo, Jane!« rief er scheinheilig. »Ich hab wa s für dich!«
Sie drehte sich um, und der Schneeball pfiff durch die Luft und traf sie
an der Schulter. Aufquietschend begann sie im Schnee zu graben, und
bald flogen Schneebälle nach allen Seiten. Und mitten drin, zwischen den
fliegenden, glitzernden Bällen, wanderte Mary Poppins, sehr stolz und
adrett, und dachte heimlich, wie hübsch sie aussah in ihren langen, w o l -
lenen Handschuhen und ihrem Pelzmantel aus Kaninchenfell.
Und gerade, als sie das dachte, streifte ein großer Schneeball ihre Hut -
krempe und landete auf ihrer Nase.
»Oje«, schrie Michael auf und hob vor Schrecken beide Hände vor
den Mund. »Das wollte ich nicht, Mary Poppins! Wirklich, das wollte ich
nicht. Das galt Jane!«
Mary Poppins drehte sich um, und das Gesicht, das hinter dem zerplatzten
Schneeball erschien, war zum Fürchten.
»Mary Poppins«, sagte er ernsthaft, »es tut mir leid. Es wa r ein Ver -
sehen!«
»Versehen oder nicht«, gab sie zurück. »Auf alle Fälle ist jetzt Schluß
mit der Schneeballerei. Versehen! So was! Ein Zulukaffer hat bessere
Manieren!«
Sie sammelte die Ãœberbleibsel des Schneeballs v on ihrem Hals und
rollte sie zwischen ihren wollenen Handflächen zu einer kleinen Kugel.
Dann warf sie die Kugel geradeaus über den schneebedeckten Rasen und
stampfte hochnäsig hinterher.
»Jetzt hast du was angerichtet«, flüsterte Jane.
»Das wollte ich nicht«, flüsterte Michael zurück.

»Ich weiß. Aber du weißt doch, wie sie ist!«
Als Mary Poppins die Stelle erreichte, wo der Schneeball hingefallen
war, hob sie ihn auf und schleuderte ihn abermals von sich, mi t einem
langen, mächtigen Wurf.
»Wohin will sie denn?« sagte Michael plötzlich. Denn der Schneeball
war unter die Bäume gerollt, und statt auf dem We g zu bleiben, eilte
Mary Poppins hinter ihm her. Ab und zu duckte sie sich, wenn von
einem Zweig ein kleiner Schneeschauer niederrieselte.
»Ich komme fast nicht mehr mit!« sagte Michael und stolperte über
seine eigenen Füße.
Mary Poppins beschleunigte ihre Schritte. Die Kinder folgten ihr keuchend,
und als sie schließlich den Schneeball erreichten, da lag er neben
dem seltsamsten Bauwerk, das sie jemals erblickt hatten.
»Ich erinnere mich nicht, das Haus schon mal gesehen zu haben!« rief
Jane aus, die vor Erstaunen die Augen aufriß.
»Es sieht eher wie eine Arche aus als wie ein Haus«, sagte Michael
und gaffte.
Das Haus stand fest im Schnee, mi t einem dicken Tau an einem Baumstamm
verankert. Rundum lief wie eine Veranda ein langes, schmales
Deck, und das hohe, spitze Dach war hellrot angestrichen. Abe r das
Merkwürdigste war, daß es zwar einige Fenster, aber nicht eine einzige
Tür besaß.
»Wo sind wir?« fragte Jane aufgeregt und neugierig.
Mary Poppins antwortete nicht. Sie führte sie über das Deck, wo sie
vor einer Tafel haltmachte, auf der stand:
»DREIEINHALBMAL KLOPFEN!«
»Was heißt >ein halbmal klopfenWir stehen an
der Schwelle eines Abenteuers. Zerstöre bitte nicht alles durch deine
Fragerei.<
Mary Poppins ergriff den Klopfer, der über dem Schild hing, hob ihn
etwas an und klopfte dreimal laut gegen die Wand. Dann nahm sie ihn
behutsam zwischen Daumen und Zeigefinger ihres Wollhandschuhs und
machte ganz zart, leise, wie hingetupft: tapp. Etwa so:
R A P ! R A P ! R A P ! . . . tapp.
Gleich darauf, als hätte man auf dieses Signal schon gelauscht und gewartet,
flog das Dach des Hauses in großen Scharnieren zurück.
»Oohh!« Michael konnte den Ruf nicht unterdrücken, denn der durch
das Aufklappen des Daches erzeugte Wind hätte ihm um ein Haar den
Hut vom Kopf geblasen.
Mary Poppins ging bis ans Ende des schmalen Decks und begann, eine
kleine, steile Leiter hochzuklettern. Oben angelangt, drehte sie sich um
und winkte feierlich und geheimnisvoll mi t dem wollenen Finger.
»Klettert mir nach, bitte!«
»Springt!« rief Mary Poppins und hüpfte von der Höhe der Leiter ins
Haus. Dann drehte sie sich um und fing die Zwillinge auf, die oben über
die Kante gestolpert kamen, gefolgt von Jane und Michael. Kaum waren
sie allesamt sicher im Haus, da schloß sich das Dach wieder und klappte
mit einem kleinen Ruck zu.
Sie blickten um sich. Vier Augenpaare weiteten sich vor Ãœberraschung.
»Was für ein komischer Raum!« rief Jane.
Aber in Wirklichkeit war er mehr als komisch. Er war ganz außergewöhnlich.
Das einzige Möbelstück darin war ein großer Ladentisch, der
sich an einem Ende des Raums entlangzog. Die Wände waren weiß gekalkt;
dagegen lehnten Stapel von ausgeschnittenen Brettern, die die
Umrisse von Bäumen und Ästen zeigten, alle grün gestrichen. Kleine
hölzerne Blattbüschel, frisch bemalt und poliert, lagen auf dem Fußboden
verstreut. An den Wänden hingen Anschläge, die besagten:
ACHTUNG! FRISCH GESTRICHEN!
oder
NICHT BERÃœHREN!
oder
NICHT DEN RASEN BETRETEN!
Aber das war nicht alles.
In einer Ecke stand eine Herde von hölzernen Schafen, auf deren Pelz
noch die Farbe trocknete. Dicht zusammengedrängt fanden sich in der
nächsten kleine Blumengruppen: steifer, gelber Fingerhut, grün-weiße
Schneeglöckchen und Scyllas von strahlendem Blau. Alle sahen sie noch
sehr glänzend und klebrig aus, wie soeben frisch bemalt. Den gleichen
Anblick boten die hölzernen Vögel und Schmetterlinge, die in Stapeln in
der dritten Ecke lagen, und die flachen, weißen, hölzernen Wolken, die
gegen den Ladentisch lehnten.
Nur der riesige Krug, der am Ende des Raumes auf einem Regal stand,
war nicht angemalt. Er bestand aus grünem Glas und war bis zum Rand
mit Hunderten von kleinen, flachen Plättchen gefüllt, Plättchen von jedem
Umriß und jeder Farbe.
»Du hast recht, Jane«, sagte Michael und staunte. »Das ist ein komischer
Raum.«
»Komisch?« fragte Mary Poppins und sah geradezu beleidigt aus.
»Na, seltsam eben.«
»SELTSAM?«
Michael stockte. Er konnte das rechte Wo r t nicht finden.
»Ich wollte sagen . . . «
»Ich finde, es ist ein sehr hübscher Raum, Mary P o p p i n s . . . « , kam
Jane ihrem Bruder eilig zu Hilfe.
»Ja, das ist er«, sagte Michael, merklich erleichtert. »Außerdem«, fügte
er schlau hinzu, »finde ich, du siehst in diesem Hut sehr nett aus.«
Vorsichtig guckte er hoch. Ja, ihr Gesicht war schon ein wenig sanfter
— schon zeigte sich der Anflug eines geschmeichelten Lächelns um ihren
Mund.
»Hmpf«, machte sie und wandte sich dem Hintergrund des Raumes zu.
»Nelly Rubina!« rief sie. »Wo steckst du? Wi r sind da!«
»Ich komme gleich! Ich komme gleich!«
Das höchste und dünnste Stimmchen, das sie jemals gehört hatten,
schien unter dem Ladentisch hervorzukommen. Und nach einer Weile
tauchte aus dieser Richtung ein Kopf auf, auf dem ein kleiner, flacher
Hut thronte. Ihm folgte eine rundliche, etwas untersetzte Gestalt, die in
der einen Hand einen Topf roter Farbe hielt und in der anderen eine
noch rohe, hölzerne Tulpe.
Bestimmt, dachten Jane und Michael, bestimmt war das die seltsamste
Person, die sie je gesehen hatten.
Nach Gesicht und Größe zu schließen, war sie noch ziemlich jung, aber
irgendwie schien sie nicht aus Fleisch und Blut, sondern aus Hol z zu bestehen.
Ihr steifes, glänzendes, schwarzes Haar wirkte, als sei es mitsamt
dem Kopf aus einem Holzplättchen herausgeschnitzt und dann bemalt
worden. Ihre Augen waren wie zwei kleine, schwarze Bohrlöcher, und
bestimmt war der helle rosa Fleck auf ihrer glänzenden Backe mi t Farbe
aufgetragen.
»Ach, Mary Poppins!« sagte die seltsame Person, und ihre Lippen
schimmerten beim Lächeln. »Das ist aber nett von dir, das muß ich schon
sagen!« Sie legte Farbtopf und Tulpe hin und kam um den Ladentisch
herum, um Mary Poppins die Hand zu schütteln.
Da merkten die Kinder, daß sie überhaupt keine Beine hatte! Von der
Taille ab bestand sie aus einem Stück, und sie bewegte sich rollend fort
mi t Hilfe einer runden, flachen Scheibe, die dort war, wo eigentlich ihre
Füße hätten sein müssen.
»Nicht im geringsten, Nelly Rubina«, sagte Ma r y Poppins mi t ungewohnter
Höflichkeit. »Es ist mir ein großes Vergnügen.«
»Wir haben dich natürlich erwartet«, fuhr Nelly Rubina fort, »weil
wi r auf deine Hilfe rechneten b e i . . . « Sie brach plötzlich ab, nicht nur,
weil Mary Poppins ihr einen warnenden Blick zugeworfen hatte, sondern
weil sie jetzt erst die Kinder entdeckte.
»Oh!« rief sie mi t ihrer hohen, freundlichen Stimme. »Du hast Jane
und Michael mitgebracht! Und die Zwillinge auch. Wa s für eine Überraschung!
« Sie rollte auf die Kinder zu und schüttelte allen die Hand.
»Kennst du uns denn?« fragte Michael, der sie verblüfft anstarrte.
»Aber natürlich!« trillerte sie fröhlich. »Ich habe Vater und Mutter oft
von euch sprechen hören. Ich freue mich, eure Bekanntschaft zu machen.«
Sie lachte und bestand darauf, allen nochmals die Hände zu schütteln.
»Ich dachte mir, Nelly Rubina«, sagte Ma r y Poppins, »daß du vielleicht
für eine Unze Unterhaltungen übrig hättest.«
»Gewiß!« sagte Nelly Rubina und rollte lächelnd zum Ladentisch.
»Für dich tue ich alles, Mary Poppins, es ist mir eine Ehre und ein Ver -
gnügen!«
»Aber kann man denn Unterhaltung nach Unzen kaufen?« fragte
Jane.
»Ja natürlich. Auch nach Pfunden. Oder tonnenweise, wenn du
willst.« Nelly Rubina brach ab. Sie streckte die Arme nach dem großen
Krug auf dem Regal aus. Sie waren zu kurz, um hinaufzureichen. »Tz—
tz—tz! Nicht lang genug! Ich muß mir noch ein Stück anleimen lassen.
Inzwischen kann ihn mein Onkel herunterholen. Onkel Dodger! Onkel
Dodger!«
Die letzten Worte rief sie durch eine Tür hinter dem Ladentisch, und
alsbald erschien eine äußerst merkwürdig aussehende Gestalt.
Der Mann war rundlich wie Nelly Rubina, aber viel älter, auch hatte
er ein trauriges Gesicht. Er trug wie sie einen kleinen, flachen Hut auf
dem Kopf, und sein Mantel war eng über einer Brust zugeknöpft, die
ebenso hölzern wirkte wie die Nelly Rubinas. Al s seine Schürze einen
Augenblick umschlug, konnten Jane und Michael sehen, daß er wie seine
Nichte von der Taille ab aus einem Stück bestand. In der Hand trug er
einen hölzernen Kuckuck, zur Hälfte grau angestrichen, und Spritzer der
gleichen Farbe saßen ihm auf der Nase.
»Du hast gerufen, meine Liebe?« fragte er mi t einer sanften, respektvollen
Stimme.
Dann aber entdeckte er Ma r y Poppins.
»Ach, da bist du ja endlich, Mary Poppins! Das wird Nelly Rubina
aber freuen. Sie hat dich erwartet, um uns zu helfen beim . . .«
Sein Blick fiel auf die Kinder, und er brach plötzlich ab.
»O Verzeihung! Ich wußte nicht, daß jemand bei dir ist, meine Liebe!
Laß mich nur schnell den Vogel fertigmachen und . . .«
»Tu das nicht, Onkel Dodger!« sagte Nel ly Rubina scharf. »Ich
möchte, daß du mir die Unterhaltungen herunterholst. Willst du so nett
sein?«
Obwohl sie ein so fröhliches, freundliches Gesicht hatte, bemerkten die
Kinder, daß sie beim Sprechen dem Onkel eher Befehle erteilte als um
etwas bat.
Onkel Dodger sprang herbei, so rasch, wie das bei einem Mann ohne
Beine nur möglich war.
»Aber gewiß doch, meine Liebe, gewiß doch!«
Er setzte den Krug auf den Ladentisch.
»Genau vor mich hin, bitte!« befahl Nelly Rubina von oben herab.
Mi t ängstlicher Geschäftigkeit schob Onkel Dodger den Krug weiter.
»Hier, meine Liebe, entschuldige bitte!«
»Sind das die Unterhaltungsstücke?« fragte Jane und deutete auf den
Krug. »Sie sehen eher aus wie Süßigkeiten.«
»Das sind sie ja auch, M i ß ! Es sind Unterhaltungssüßigkeiten«, sagte
Onkel Dodger, der den Krug mit der Schürze abwischte.
»Ißt die einer?« erkundigte sich Michael.
Onkel Dodger beugte sich mi t einem vorsichtigen Blick auf Nelly
Rubina über den Ladentisch.
»Eine schon«, flüsterte er hinter der vorgehaltenen Hand. »Aber ich
nicht, denn ich bin nur ein angeheirateter Onkel. Sie hingegen . . .« — er
deutete mi t einem respektvollen Nicken auf seine Nichte —, »sie ist die
älteste Tochter und ein direkter Nachkomme!«
Jane und Michael hatten keine Ahnung, was er damit meinte, aber sie
nickten höflich.
»Nun?« rief Nelly Rubina fröhlich, während sie den Deckel vom Krug
hob, »wer w i l l zuerst?«
Jane steckte ihre Hand in den Krug und brachte ein flaches, sternförmiges
Bonbon zum Vorschein, das aussah wie ein Pfefferminzplätzchen.
»Da steht ja etwas drauf!« rief sie aus.
Nelly Rubina quietschte vor Lachen. »Natürlich! Es ist doch ein Unterhaltungsbonbon!
Lies vor!«
»Du bist mein Ideal«, las Jane laut.
»Wie reizend!« zwitscherte Nelly Rubina und schob Michael den Krug
hin. Er zog ein rosafarbenes, muschelförmiges Bonbon hervor.
»Ich liebe dich. Liebst du mich auch?« buchstabierte er.
»Hahaha! Das ist was besonders Gutes! Ja, ich dich auch!«
Nelly Rubina lachte laut und gab ihm rasch einen Kuß, der auf seiner
Backe einen klebrigen Farbklecks hinterließ.
Johns gelbes Bonbon lautete: »Dideldideldumpling!«, und auf dem
Barbaras stand in großen Buchstaben: »Unser Sonnenscheinchen!«
»Und das bist du auch!« rief Nelly Rubina und lächelte ihr über den
Ladentisch zu.
»Nun du, Mary Poppins«, und während Nelly Rubina ihr den Krug
zuschob, bemerkten Jane und Michael, wie beide einen seltsam verständnisvollen
Blick wechselten.
Da kam der große wollene Handschuh; Mary Poppins schloß die
Augen und wühlte einen Augenblick in den Bonbons. Dann schlossen
sich ihre Finger um ein weißes, das wie ein Halbmond geformt war,
und sie streckte es vor sich hin.
»Heute abend um zehn«, las Jane laut vor.
Onkel Dodger rieb sich die Hände.
»Das stimmt. Das ist die Stunde, wo wir . . .«
»Onkel Dodger!!« rief Nelly Rubina warnend.
Das Lächeln erlosch auf seinem Gesicht, und er sah noch trauriger aus
als vorher.
»Verzeihung, meine Liebe!« sagte er demütig. »Ich bin ein alter Mann
und sage manchmal etwas Falsches, fürchte ich — entschuldige bitte.« Er
sah sehr beschämt aus, aber Jane und Michael begriffen nicht recht, wa s
er falsch gemacht haben sollte.
»Na denn«, sagte Ma r y Poppins und steckte ihr Unterhaltungsbonbon
sorgfältig in die Tasche. »Entschuldige uns bitte, aber ich glaube, wi r
müssen weg!«
»Was, schon?« Nelly Rubina rollte auf ihrer Scheibe ein wenig näher.
»Es war uns ein Vergnügen! Aber«, sie blickte aus dem Fenster, »es
könnte wieder zu schneien anfangen, dann sitzt ihr hier fest. Und das
möchtet ihr wohl nicht, wie?« wandte sie sich zwitschernd an die Kinder.
»Ich doch«, sagte Michael mi t Nachdruck. »Mir würde es Spaß machen.
Dann fände ich vielleicht auch heraus, wozu diese Dinger hier da sind.«
Er deutete auf die gemalten Zweige, die Schafe, die Vögel und die Blumen.
»Die? Ach, das sind nur Dekorationen«, sagte Nelly Rubina obenhin
und verabschiedete sie mi t einer eckigen Handbewegung.
»Aber was tust du damit?«
Onkel Dodger beugte sich eifrig über den Ladentisch.
»Ja, siehst du, wi r nehmen sie mi t uns . . .«
»Onkel Dodger!!!« Nelly Rubinas dunkle Augen funkelten gefährlich.
»Ach, meine Liebe! Jetzt hab ich mich wieder verplappert. Immer falle
ich aus der Rolle. Ich bin eben zu alt, das ist es«, sagte Onkel Dodger.
Nelly Rubina warf ihm einen ärgerlichen Blick zu. Da n n wandte sie
sich lächelnd den Kindern zu.
»Lebt wohl«, sagte sie und schüttelte ihnen ruckhaft die Hand. »Ich
werde an unsere Unterhaltungsbonbons denken: >Du bist mein Ideal,
Ich liebe dich, Dideldideldumpling und Sonnenscheinchen!<«
»Du hast Mary Poppins' Spruch vergessen. Er hieß: >Heute abend um
zehn<«, erinnerte sie Michael.
»Ach, die denkt schon daran!« sagte Onkel Dodger und lächelte glücklich.
»Onkel Dodger!!«
»Oh, entschuldige bitte, entschuldige!«
»Lebt wohl!« sagte Mary Poppins. Sie klopfte bedeutungsvoll auf ihre
Handtasche, und wieder wechselten sie und Nelly Rubina einen seltsamen
Blick.

»Auf Wiedersehen! Au f Wiedersehen!«
Wenn Jane und Michael später daran dachten, konnten sie sich nicht
erinnern, wie sie aus dem seltsamen Haus herausgekommen waren. In
dem einen Augenblick waren sie noch drinnen gewesen und hatten sich
von Nelly Rubina verabschiedet, und im nächsten standen sie schon wieder
draußen im Schnee und eilten hinter Mary Poppins her.
»Weißt du, Michael«, sagte Jane, »ich glaube, das Bonbon war eine
Botschaft.«
»Welches? Meines?«
»Nein. Das von Ma r y Poppins.«
»Meinst du?«
»Ich glaube, heute nacht um zehn wird sich etwas ereignen; ich
möchte wach bleiben und sehen, wa s passiert.«
»Da mache ich mit«, sagte Michael.
»Kommt weiter, bitte! Macht voran!« sagte Mary Poppins. »Ich kann
hier nicht den ganzen T ag vertrödeln . . .«
Jane lag in tiefem Schlaf. Im Traum rief jemand leise und dringlich
ihren Namen. Mit einem Ruck setzte sie sich auf und sah Michael im
Pyjama neben ihrem Bett stehen.
»Du wolltest doch wach bleiben!« flüsterte er vorwurfsvoll.
»Was? Wie? Wo ? Ach, du bist's, Michael! Na, das wolltest du doch
auch.«
»Horch«, sagte er.
Nebenan schlich jemand auf Zehenspitzen durchs Zimmer.
Jane zog scharf den At em ein. »Schnell! Zurück ins Bett. Tu, als ob du
schläfst. Vorwärts!«
Mi t einem Satz war Michael unter seiner Decke. In der Dunkelheit
hielten er und Jane lauschend den Atem an.
Die Tür zum Nebenzimmer öffnete sich verstohlen. Der schmale Lichtspalt
erweiterte sich. Langsam schob sich ein Kopf um die Ecke und
spähte ins Zimmer. Dann schlüpfte jemand durch die Tür, die sich leise
wieder schloß.
Mary Poppins, in ihren Pelzmantel gehüllt und die Schuhe in der
Hand, schlich auf Zehenspitzen durchs Zimmer.
Die Kinder lagen ganz still und horchten, wie ihre Tritte die Treppe
hinabeilten. Nach einem Weilchen drehte sich unten an der Haustür der
Schlüssel im Schloß. Jemand eilte die Stufen zum Gartenpfad hinunter,
und dann schnappte das Tor zu.
Im gleichen Augenblick schlug die Uhr zehn!
Mi t einem Satz waren beide aus dem Bett und rannten ins Nebenzimmer,
dessen Fenster nach dem Park hinausgingen.

Die Nacht war schwarz und prächtig, von hohen, funkelnden Sternen
erleuchtet. Aber heute blickten sie nicht nach den Sternen. Wenn Mary
Poppins' Bonbon wirklich eine Botschaft enthalten hatte, gab es bestimmt
Interessantes zu sehen.
»Guck!« Jane schluckte aufgeregt und streckte deutend ihre Hand aus.
»Da!«
Drüben im Park, gleich beim Eingangstor, stand das seltsame, archenartige
Haus, lose an einem Baumstamm verankert.
»Aber wie kommt das denn hierher?« sagte Michael verwundert.
»Heute morgen war es doch am anderen Ende des Parks.«
Jane antwortete nicht. Sie war ganz von ihren Beobachtungen in Anspruch
genommen.
Das Dach der Arche war aufgeklappt, und oben auf der Leiter stand,
auf ihrer runden Scheibe balancierend, Nelly Rubina. Von innen reichte
Onkel Dodger ein Bündel angemalter Holzzweige nach dem anderen heraus.
»Bist du soweit, Ma r y Poppins?« zwitscherte Nelly Rubina und ließ
einen Armvoll zu Mary Poppins hinunter, die auf dem Deck stand, um
ihn in Empfang zu nehmen.
Die Luft war so klar und ruhig, daß Jane und Michael, auf der Fensterbank
kniend, jedes Wo r t hören konnten.
Plötzlich gab es im Innern der Arche ein großes Getöse, denn eine der
hölzernen Formen war zu Boden gefallen.
»Onkel Dodger!! Gib bitte acht! Sie sind zerbrechlich!« sagte Nelly
Rubina streng. Und Onkel Dodger erwiderte, während er einen Haufen
gemalter Wolken herausreichte, reuevoll:
»Verzeihung, meine Liebe!«
Al s nächstes kam die Herde hölzerner Schafe zum Vorschein, alle sehr
steif und gediegen. Und zuletzt die Vögel, Schmetterlinge und Blumen.
»Das ist 'ne Masse!« sagte Onkel Dodger und schwang sich selbst
durch die Dachöffnung hinauf. Unter seinem Arm trug er den hölzernen
Kuckuck, der nun ganz mi t grauer Farbe bedeckt war. Und in der Hand
schwang er einen großen, grünen Farbtopf.
»Sehr schön«, sagte Nelly Rubina. »Nun, wenn du bereit bist, Mary
Poppins, dann fangen wir an!«
Und jetzt begann die seltsamste Arbeit, die Jane und Michael je gesehen
hatten. Nie, nie, so dachten sie, würden sie das vergessen, und
sollten sie auch neunzig Jahre alt werden.
Vo n dem Stapel angemalter Hölzer nahmen Nelly Rubina und Mary
Poppins große Blattbüschel und befestigten sie, ein wenig hochhüpfend,
rasch an den nackten, frostigen Ästen der Bäume. Die Büschel schienen
leicht zu haften, denn es beanspruchte nicht mehr als eine Minute, sie
anzubringen. Und als alles an seinem Platz saß, hüpfte Onkel Dodger
hoch und verdeckte mi t einem grünen Farbtupfer die Stelle, wo sich die
Blattbüschel mi t den Ästen verbanden.
»Du meine Güte, du meine Güte!« rief Jane, als Nelly Rubina leicht
zur Spitze einer hohen Pappel hinaufsegelte und dort einen großen
Zweig festmachte. Michael aber wa r viel zu verblüfft, um überhaupt
etwas zu sagen.
Durch den ganzen Park gingen die drei; wie auf Springfedern hüpften
sie zu den höchsten Zweigen hinauf. Und im Handumdrehen war
jeder Baum mi t hölzernen Blattbüscheln umkleidet, während Onkel Dodger
dem Ganzen durch einen Farbtupfer den letzten Pfiff gab.
Ab und zu hörten Jane und Michael Nelly Rubinas schrillen Ruf:
»Onkel Dodger! Gib acht!« und Onkel Dodgers Entschuldigungen.
Und jetzt nahmen Nelly Rubina und Mary Poppins die flachen, wei -
ßen, hölzernen Wolken in die Arme. Damit stiegen sie noch höher empor
als bisher, ja sie schossen geradezu über die Baumwipfel hinaus und
drückten die Wolken behutsam gegen den Himmel.
»Die bleiben kleben, die bleiben ja kleben!« rief Michael und tanzte
vor Aufregung auf der Fensterbank. Und wahrhaftig, dort oben am glitzernden,
funkelnden Himmel saßen die weißen Wolken und klebten fest.
»Wupps«, rief Nelly Rubina, als sie auf die Erde herabrutschte. »Und
jetzt die Schafe!«
Sehr sorgfältig setzten sie die hölzerne Herde auf einen beschneiten
Rasenstreifen, stellten die großen Schafe dicht zusammen und steckten
die steifen, weißen Lämmchen dazwischen.
»Wir kommen gut voran!« hörten Jane und Michael Ma r y Poppins
sagen, als sie das letzte Lamm auf die Beine stellte.
»Ich weiß nicht, wa s wi r ohne dich hätten machen sollen, Ma r y Poppins,
wahrhaftig nicht!« sagte Nelly Rubina vergnügt. Dann, in einem
ganz anderen Ton:
»Blumen, bitte, Onkel Dodger! Und paß auf!«
»Hier, meine Liebe.« Eiligst rollte er zu ihr hin, die Schürze bis zum
Platzten gefüllt mi t Schneeglöckchen, Scyl las und Himmelschlüsselchenpflanzen.
»Guck nur, guck!« rief Jane und kuschelte sich vor Entzücken enger in
die eigenen Arme. Denn Nelly Rubina steckte jetzt die Holzformen rings
um ein leeres Blumenbeet. Immer rundum rollte sie, pflanzte ihren hölzernen
Blumenrand und streckte immer wieder ihre Hand nach einer
neuen Blume aus Onkel Dodgers Schürze aus.
»Das sieht gut aus!« sagte Mary Poppins bewundernd, und Jane und
Michael staunten über den freundlichen Klang ihrer Stimme.
»Ja, nicht wahr?« zwitscherte Nelly Rubina und wischte sich den
Schnee von den Händen. »Ein hübscher Anblick! Wa s ist noch da, Onkel
Dodger?«

»Die Vögel, meine Liebe, und die Schmetterlinge!«
Er hielt ihr die fast leere Schürze entgegen. Nelly Rubina und Mary
Poppins griffen nach den übriggebliebenen Holzformen und rannten geschwind
im Park umher; die Vögel setzten sie auf Zweige oder in Nester
und warfen die Schmetterlinge in die Luft. Und das Merkwürdige war,
daß sie sich dort hielten, schwebend über der Erde, mi t glänzenden Farbflecken
auf den Flügeln, die im klaren Sternenlicht aufleuchteten.
»So! Das ist alles, denke ich!« sagte Nelly Rubina und blieb, die
Hände auf die Hüften gestützt, auf ihrer Scheibe stehen, während sie ihr
We rk ringsum betrachtete.
»Noch eins, meine Liebe!« sagte Onkel Dodger.
Und etwas wacklig, als hätte die nächtliche Arbeit ihn alt und müde
gemacht, rollte er zum Eschenbaum neben dem Parktor. Er zog den
Kuckuck unter seinem Arm hervor und setzte ihn auf einen Zweig mitten
zwischen die hölzernen Blätter.
»So, mein Herzchen, so, mein Täubchen!« sagte er und nickte dem
Vogel zu.
»Onkel Dodger! Wann wirst du das lernen! Es ist keine Taube, es ist
ein Kuckuck.«
Demütig beugte er den Kopf. »Ein Täubchen von einem Kuckuck —
das meinte ich nur. Verzeihung, meine Liebe!«
»Und nun, Ma r y Poppins, müssen wir leider gehen!« sagte Nelly Rubina;
auf Mary Poppins zurollend, nahm sie deren rosiges Gesicht zwi -
schen ihre beiden Holzhände und küßte es.
»Auf baldiges Wiedersehen, tralala!« rief sie lustig und rollte das
Deck der Arche entlang und die Leiter hoch. Oben angelangt, drehte sie
sich noch einmal um und winkte Mary Poppins ruckhaft zu. Dann
sprang sie mi t einem hölzernen Klappern von der Leiter und verschwand
im Inneren der Arche.
»Onkel Dodger! Mach voran! Laß mich nicht warten!« klang es dünn
zurück.
»Ich komme ja schon, meine Liebe, ich komme schon! Verzeihung!«
Onkel Dodger rollte, Mary Poppins im Vorübereilen die Hand schüttelnd,
zum Deck. Der hölzerne Kuckuck starrte von seinem belaubten
Zweig hinter ihm her. Onkel Dodger warf ihm einen liebevoll-traurigen
Blick zu. Dann hob sich seine flache Scheibe in die Luft und widerhallte
hölzern, als er drinnen landete. Das Dach flog herab und schnappte ein.
»Weiterfahren!« ertönte von drinnen Nelly Rubinas schriller Befehl.
Mary Poppins trat einige Schritte vor und löste das Haltetau vom Baum.
Im Nu wurde es durch eines der Fenster eingezogen.
»Macht Platz, bitte, ihr da! Macht Platz!« rief Nelly Rubina. Schleunigst
zog sich Mary Poppins zurück.
Michael kniff Jane aufgeregt in den Arm.
»Da ziehn sie hin!« rief er, als die Arche sich von ihrem Standort
löste und schwerfällig über den Schnee glitt. Dann begann sie zu steigen;
wie betrunken taumelte sie zwischen den Bäumen. Schließlich gewann
sie ihr Gleichgewicht, schwebte leicht empor und trieb fort.
Au s einem der Fenster winkte ruckhaft ein Arm, doch bevor Jane und
Michael sich darüber klarwerden konnten, ob er Nelly Rubina oder
Onkel Dodger gehörte, glitt die Arche in die sternhelle Luft, und eine
Ecke des Hauses verbarg sie vor ihren Augen.
Ein Weilchen blieb Mar y Poppins noch beim Parktor stehen und
winkte mit ihren wollenen Handschuhen.
Dann eilte sie über die Straße und über den Gartenweg. Der Haustürschlüssel
drehte sich wieder im Schloß. Unter einem vorsichtigen Schritt
knackten die Treppenstufen.
»Rasch wieder ins Bett!« sagte Jane. »Sie darf uns hier nicht finden.«
Herunter von der Fensterbank und hinüber ins Schlafzimmer! Mi t
einem Plumps landeten sie in ihren Betten. Sie hatten gerade noch Zeit,
sich die Decken über den Kopf zu ziehen, da öffnete Ma r y Poppins schon
leise die Tür und schlich auf Zehenspitzen herein.
Zup! Das war der Mantel, der auf seinen Haken gehängt wurde. Raschel-
raschel! Das wa r ihr Hut , der in seiner Papiertüte verschwand.
Aber weiter hörten sie nichts mehr. Denn bis Mary Poppins ausgezogen
war und in ihr Feldbett schlüpfte, hatten sich Jane und Michael längst
in ihre Decken gekuschelt und schliefen fest.
»Kuckuck! Kuckuck! Kuckuck!«
Über die Straße klang der sanfte Vogelruf.
»Hast du Worte!« rief Mister Banks beim Rasieren, »der Frühling ist
da!«
Und er warf den Rasierpinsel beiseite und rannte hinaus in den Garten.
Einen Blick nur warf er um sich, dann legte er den Kopf in den
Nacken und formte seine Hände zu einer Trompete.
»Jane! Michael! John! Barbara!« brüllte er zu den Fenstern des Kinderzimmers
hinauf, »kommt herunter! Der Schnee ist we g , und der
Frühling ist da!«
Sie stolperten die Stiegen hinunter und zur Haustür hinaus und fanden
draußen die ganze Straße auf den Beinen.
»Schiff ahoi!« brüllte Admiral Boom und winkte mi t dem Schal. »Tau
und Takel! Muscheln und Krabben! Der Frühling ist da!«
»Ach!« sagte Mi ß Lark, die aus ihrem Gartentor gestürzt kam, »endlich
ein schöner T a g ! Ich habe schon daran gedacht, A n d y und Willibald
je zwei Paar Lederschuhchen zu kaufen, aber jetzt, wo der Schnee we g
ist, brauchen sie wohl keine mehr!«
Bei diesen Worten sahen Andy und Willibald merklich erleichtert
drein und leckten ihr die Hand aus Dankbarkeit, weil sie sie nicht so
blamiert hatte.
Der Eismann fuhr gemächlich auf und ab und behielt seine Kundschaft
im A u g e . Auf seinem Schild stand heute:
»Der Frühling ist da!
Hurra! Hurra!
Willst du nicht 'ne Waffel kaufen,
Oder soll sie erst zerlaufen?
Hurra! Hurra!
Der Frühling, der ist da!«
Und der Straßenfeger, der heute nur einen Besen trug, kam über die
Straße gewandert und blickte befriedigt von rechts nach links, so, als
hätte er höchstpersönlich den schönen Ta g bestellt.
Inmitten der allgemeinen Aufregung standen Jane und Michael regungslos
still und hielten verwundert Umschau.
Alles glitzerte und gleißte im Sonnenlicht. Nicht ein Fleckchen Schnee
war mehr zu sehen.
Überall an den Zweigen sprangen zarte lichtgrüne Knospen auf. Rings
am Rand der Blumenbeete im Park zeigten sich die zarten grünen Sprossen
der Himmelschlüssel, der Schneeglöckchen und der Scyllas und wol l -
ten ihre gelben, weißen und blauen Blüten entfalten. Nach einer Weile
erschien auch der Parkaufseher, pflückte sich ein winziges Sträußchen
und steckte es sorgsam ins Knopfloch.
Von Blume zu Blume gaukelten farbenprächtige Schmetterlinge auf
sanften Flügeln, und in den Bäumen sangen jetzt Drosseln, Meisen,
Schwalben und Finken und bauten ihre Nester.
Eine Schafherde, gefolgt von wolligen Lämmchen, zog blökend vorüber.
Und aus den Wipfeln des Eschenbaumes neben dem Parktor ertönte
der klare Doppelruf:
»Kuckuck! Kuckuck!«
Michael wandte sich Jane zu. Seine Augen leuchteten.
»Das also haben sie gestern gemacht, Nelly Rubina, Onkel Dodger
und Mary Poppins!«
Jane nickte und blickte bewundernd umher.
Zwischen dem lichtgrünen Schimmer der Knospen wiegte sich auf
einem Eschenzweig ein grauer Vogelleib.
»Kuckuck! Kuckuck!«
»Aber ich dachte, die wären alle aus angemaltem Holz!« sagte Mi -
chael. »Glaubst du, die sind über Nacht lebendig geworden?«
»Vielleicht«, sagte Jane.
»Kuckuck! Kuckuck!«
Jane nahm Michael an der Hand, und als ahnte er, was sie vorhatte,
rannte er mi t ihr durch den Garten, über die Straße und hinein in den
Park.
»Hallo! Wo wollt ihr hin, ihr beiden?« rief Mister Banks.
»Ahoi, Meßmaaten!« brüllte Admiral Boom.
»Ihr werdet euch verirren!« warnte Miß Lark schrill.
Der Eismann klingelte wie wild, und der Straßenfeger starrte hinter
ihnen her.
Aber Jane und Michael achteten nicht darauf. Sie liefen weiter, geradeaus
durch den Park, zu dem Platz unter den Bäumen, wo sie die
Arche das erstemal gesehen hatten.
Keuchend langten sie an. Hier, unter den düsteren Zweigen, war es
kalt und schattig, und der Schnee war noch nicht weggeschmolzen. Spähend
hielten sie Ausschau; sie suchten und suchten. Aber unter den
dunkelgrünen Wipfeln breitete sich nur ein großer Schneefleck aus.
»Sie ist wirklich fort!« sagte Michael nach einem Blick in die Runde.
»Glaubst du, wir haben es uns bloß eingebildet, Jane?« fuhr er voller
Zweifel fort. Plötzlich bückte sie sich und las etwas aus dem Schnee auf.
»Nein«, meinte sie bedächtig, »bestimmt nicht.« Sie streckte die Hand
aus. In ihrer Handfläche lag ein rundes, rosafarbenes Bonbon. Laut las
sie vor, was darauf stand:
»Auf Wiedersehen im nächsten Jahr, Nelly Rubina Noah.«
Michael holte einmal tief Luft.
»Die also war's! Onkel Dodger sagte zwar, sie wäre die älteste Tochter.
Aber darauf wär ich nicht gekommen.«
»Sie hat den Frühling mitgebracht!« sagte Jane verträumt und blickte
auf das Bonbon.
»Ich wäre euch dankbar«, sagte hinter ihnen eine Stimme, »wenn ihr
sofort nach Hause frühstücken kommen wolltet!« Es war Mary Poppins.
Schuldbewußt drehten sie sich um.
»Wir wollten gerade . . .«, versuchte Michael zu erklären.
»Wollt lieber nicht«, sagte Ma r y Poppins scharf. Sie griff Jane über
die Schulter und nahm ihr das Bonbon weg.
»Das gehört, glaube ich, mir!« bemerkte sie, steckte es in die Schürzentasche
und führte sie durch den Park nach Hause.
Michael brach sich ein grünes Knospenzweiglein ab, bevor er ging.
Gründlich untersuchte er es.
»Jetzt scheinen sie ganz wirklich zu sein«, meinte er.
»Vielleicht waren sie's immer«, sagte Jane.
Vom Eschenbaum herüber flötete eine spöttische Stimme:
»Kuckuck! Kuckuck! Kuckuck!«
1o. Kapitel
Das Karussell
Der Morgen war ruhig gewesen.
Mehr als einer von den Passanten im Kirschbaumweg hatte über die
Hecke von Nummer siebzehn geblickt und gesagt: »Wie sonderbar! Es
ist hier ja so still!«
Selbst das Haus, das sich sonst um nichts kümmerte, begann sich ungemütlich
zu fühlen.
»Du meine Güte!« sagte es, auf die Stille lauschend, zu sich selbst.
»Hoffentlich ist nichts passiert!«
Unten in der Küche war Mistreß Brill mi t ihrer Brille auf der Nasenspitze
über der Zeitung eingenickt.
Im Erdgeschoß räumten Mistreß Banks und Ellen den Wäscheschrank
um und zählten die Leintücher.
Oben im Kinderzimmer deckte Ma r y Poppins gelassen den Frühstückstisch
ab.
»Ich fühle mich heute sehr gut und lieb«, sagte Jane verträumt, während
sie, auf dem Fußboden ausgestreckt, in der Sonne lag.
»Das nenne ich eine Abwechslung«, bemerkte Mary Poppins und zog
die Luft hoch.
Michael nahm das letzte Stückchen Schokolade aus der Schachtel, die
ihm Tante Flossie vorige Woche zu seinem sechsten Geburtstag geschenkt
hatte.
Sollte er es Jane anbieten? Er überlegte! Oder den Zwillingen? Oder
Mary Poppins?
Nein. Schließlich wa r es sein Geburtstag gewesen.
»Das letzte ist das Beste!« sagte er rasch und stopfte es in den eigenen
Mund. »Ich wünschte, es wär noch mehr da!« fügte er bedauernd
hinzu und blickte in die leere Schachtel.
»Alles Gute nimmt einmal ein Ende«, sagte Mary Poppins steif.
Er legte den Kopf auf die Seite und blickte zu ihr auf.
»Du nicht!« sagte er keck. »Und du bist auch was Gutes.«
Der Anflug eines geschmeichelten Lächelns spielte um ihre Mundwinkel,
doch es verschwand, so rasch, wie es gekommen.
»Mag sein«, erwiderte sie. »Aber nichts dauert ewig.«
Jane fuhr hoch und blickte sich um.
Wenn nichts ewi g dauerte, so hieß das, daß Mary Poppins . . .
»Nichts?« fragte sie bedrückt.
»Ganz und gar nichts«, erwiderte Mary Poppins kurz.
Und als ob sie ahnte, was in Jane vorging, wandte sie sich zum Kaminsims
und nahm von dort ihr großes Thermometer herunter. Dann
zog sie ihren Reisesack unter dem Feldbett hervor und steckte das
Thermometer hinein.
Schnell setzte Jane sich hoch.
»Mary Poppins, warum tust du das?«
Mary Poppins warf ihr einen seltsamen Blick zu.
»Weil ich gelernt habe, ordentlich zu sein«, sagte sie pedantisch und
schob den Reisesack wieder unter das Bett.
Jane seufzte. Sie fühlte sich bedrückt, und das Herz wurde ihr schwer.
»Mir wird so traurig und ängstlich zumute«, flüsterte sie Michael zu.
»Wahrscheinlich hast du zuviel Pudding gegessen!« gab er zurück.
»Nein, das ist es nicht. . . « , begann sie, brach aber plötzlich ab, denn
es hatte an die Tür geklopft.
»Herein!« rief Ma r y Poppins.
Draußen stand Robertson Ay und gähnte.
»Wissen Sie's schon?« fragte er schläfrig.
»Nein, wa s denn?«
»Im Park ist ein Karussell!«
»Das ist mir nichts Neues!« sagte Mary Poppins kurz.
»Ein Rummel?« schrie Michael aufgeregt. »Mi t Luftschaukel und Achterbahn?
«
»Nein«, sagte Robertson Ay und schüttelte feierlich den Kopf. »Nur
ein Karussell, sonst nichts. Letzte Nacht angekommen. Nahm an, es
würde euch interessieren.«
Gemächlich schlurfte er zur Tür hinaus und schloß sie hinter sich.
Jane sprang auf die Füße; ihre Ängste waren vergessen.
»Oh, Mary Poppins, dürfen wi r hin?«
»Sag ja, Mary Poppins, sag ja!« schrie Michael und tanzte um sie herum.
Sie wandte sich ihnen zu; auf ihrem A rm balancierte sie ein Tablett
mi t Tellern und Tassen.
»Ich gehe«, sagte sie ruhig. »Denn ich habe das Geld dazu. Wi e es
bei euch damit steht, weiß ich nicht.«
»Ich habe sechs Pence in der Sparbüchse!« erklärte Jane eifrig.
»Ach, Jane, leih mir zwei Pence!« bat Michael. Er hatte gestern sein
ganzes Geld für eine Lakritzenstange ausgegeben.
Gespannt blickten sie auf Mary Poppins, wie sie sich wohl entscheiden
würde.
»Hier in diesem Kinderzimmer wird weder geborgt noch verliehen,
das bitt ich mir aus«, sagte sie scharf. »Ich zahle jedem v on euch eine
Fahrt. Und mehr als eine gibt es nicht.« Damit rauschte sie, das Tablett
auf dem Arm, aus dem Zimmer.
Verdutzt blickten die Kinder sich an.
»Was ist denn nun los?« sagte Michael. Jetzt fühlte er sich beunruhigt.
»Sie hat doch noch nie für jemanden bezahlt!«
»Ist dir nicht gut, Mary Poppins?« erkundigte er sich verlegen, als sie
eilig zurückkam.
»Hab mich nie besser gefühlt!« erwiderte sie und war f den Kopf in
den Nacken. »Ich wäre dir dankbar, wenn du nicht an mir herumschnüffeln
würdest wie an einer Wachsfigur! Geh lieber und mach dich fertig!«
Dabei sah sie so streng aus wie immer, ihre Augen leuchteten so
strahlend blau wie stets, und die Ar t , wie sie sprach, wa r ihnen so wohlvertraut,
daß all ihre Ängste verflogen und sie mi t lautem Geschrei
davonliefen, um ihre Hüte zu holen.
Kurz darauf wurde die Ruhe des Hauses gestört; Türen schlugen zu,
rufende Stimmen wurden laut, trappelnde Füße jagten die Treppe hinab.
»Du meine Güte! Du meine Güte! Wa s für eine Erleichterung! Ich war
schon ganz unruhig«, sagte das Haus zu sich selbst und lauschte.
Vor dem Spiegel in der Halle blieb Mary Poppins einen Augenblick
stehen, um sich einen wohlgefälligen Blick zuzuwerfen.
»Ach, komm schon, Mary Poppins! Du siehst ganz ordentlich aus!«
mahnte Michael ungeduldig.
Sie fuhr auf dem Absatz herum. Ihr Gesicht drückte gleichzeitig Ärger,
Gekränktsein und Erstaunen aus.
>Ganz ordentlich<, so etwas! Das dürfte wohl kaum das richtige Wor t
sein. >Ganz ordentlich<, in ihrem grünen Jackett mi t den Silberknöpfen!
>Ganz ordentlich< mi t der goldenen Medaillonkette um den Hals! >Ganz
ordentlich< mi t dem papageienköpfigen Schirm unterm Arm!
Mary Poppins schnaubte. »Das reicht!« sagte sie kurz. In Wirklichkeit
aber war sie der Meinung, daß es keineswegs reichte.
Michael war viel zu aufgeregt, um so etwas zu bemerken.
»Vorwärts, Jane!« rief er und hüpfte ungeduldig von einem Fuß auf
den anderen. »Ich kann einfach nicht mehr warten! Mach schon!«
Während Mary Poppins noch die Zwillinge im Kinderwagen verstaute,
rannten sie schon voraus. Gleich darauf flog das Gartentor hinter
ihnen zu, und sie waren auf dem We g zum Karussell.
Verlorene Töne einer Drehorgelmusik drangen durch den Park bis zu
ihnen, ein Brummen und Summen wie von einem Brummkreisel.
»Guten Tag, wie geht es uns heute?« Mi ß Lark, die mit ihren beiden
Hunden die Straße entlangeilte, begrüßte sie mit ihrer hohen Stimme.
Aber bevor die Kinder noch Zei t zu einer Antwort fanden, fuhr sie
schon fort: »Wahrscheinlich auch zum Karussell, wie? An d y und Willibald
und ich waren gerade dort. Ein sehr vornehmes Unternehmen. So
hübsch und sauber. Und so ein höfliches Personal!«
Sie flatterte vorbei mi t den beiden Hunden, die neben ihr herstolzierten.
»Auf Wiedersehen! Auf Wiedersehen!« warf sie über die Schulter
zurück, während sie um die Ecke verschwand.
»Al le Mann an die Pumpen! Ahoi, meine Lieben!«
Eine wohlbekannte Stimme erklang dröhnend aus der Richtung des
Parks. Und aus dem Tor trat Admiral Boom, sehr rot im Gesicht und
einen Matrosentanz hopsend.
»Johoho! Und 'ne Buddel mi t Rum! Der Admiral war auf dem Karussell!
Alles leerpumpen! Muscheln und Krabben! Das tut so gut wie eine
lange Seereise!« brüllte er, als er die Kinder begrüßte.
»Wir wollen auch hin!« erklärte Michael aufgeregt.
»Was? Ihr auch?« Der Admiral schien ziemlich erstaunt.
»Ja, natürlich!« sagte Jane.
»Doch wohl nicht die ganze Tour?« Der Admiral warf Ma r y Poppins
einen merkwürdigen Blick zu.
»Sie dürfen jeder einmal fahren, Sir!« erklärte sie steif.
»Ach so. Lebt wohl denn!« sagte er mi t einer Stimme, die fast liebenswürdig
klang. Dann warf er sich zum Erstaunen der Kinder mi t einem
Ruck in die Brust, legte die Hand an den Hutrand und salutierte elegant
vor Mary Poppins.
»Ur-rrrrrrumph!« trompetete er in sein Taschentuch. »Hißt das Segel!
Anker auf! Und fort geht's, meine Liebe!«
Er winkte mit der Hand und entfernte sich auf dem Bürgersteig, rollend,
stampfend und singend:
»Jedes hübsche Mädchen
Hat für den Seemann ein Herz!«
Er sang es laut und aus heiserer Kehle.
»Warum hat er >Leb wohl< gesagt und dich >meine Liebe< genannt?«
fragte Michael und drehte, während er neben Mary Poppins her lief, den
Kopf nach dem Admiral zurück.
»Weil er mich für eine höchst ehrenwerte Person hält!« fuhr sie ihn
an. Aber in ihren Augen zeigte sich ein sanfter und verträumter A u s -
druck.
Wieder hatte Jane dieses seltsam traurige Gefühl, und das Herz zog
sich ihr in der Brust zusammen.
Wa s könnte denn eigentlich im Gange sein? fragte sie sich insgeheim
voller Unruhe. Sie legte ihre Hand auf Mary Poppins' Hand, die den
Kinderwagen schob. Sie fühlte sich wa rm an, tröstlich und voller Zuversicht.
Wi e albern ich doch bin! sagte sie beruhigt zu sich selbst. Es kann
doch gar nichts geschehen.
Und sie eilte neben dem Kinderwagen her, der auf den Park zurollte.
»Halt einen Augenblick! Halt einen Augenblick!« keuchte eine Stimme
hinter ihnen her.
»Ei«, sagte Michael und drehte sich um, »das ist doch Miß Törtchen!«
»Eigentlich ist sie's nicht«, sagte Mi ß Törtchen außer Atem. »Es ist
Mistreß Kuddelmuddel!«
Errötend wandte sie sich nach Mister Kuddelmuddel um. Er stand
neben ihr und lächelte ein wenig verlegen.
»Ist heut einer eurer >Zweiten MontageBon voyageleb wohl< und sieht dich dabei so sonderbar
an.«
»Reden kostet ja nichts!« wies Mary Poppins sie zurecht. »Und guckt
nicht auch die Katze den Kaiser an?«
Jane schwieg. Sie wußte, es hatte keinen Zweck, Mary Poppins weiter
zu fragen, denn Mary Poppins erklärte nie etwas.
Sie seufzte. Und weil sie nicht genau wußte, warum eigentlich, so lief
sie davon, an Michael, Mary Poppins und dem Kinderwagen vorüber,
der dröhnenden Musik entgegen.
»Wart auf mich! So war t doch auf mich!« schrie Michael und rannte
hinterher. Und hinter ihnen ertönte das Gerumpel und Geratter des
Kinderwagens, mit dem Mary Poppins ihnen schleunigst folgte.
Da stand es, das Karussell, auf einer kleinen Lichtung zwischen den
Lindenbäumen. Es war noch ganz neu, alles an ihm glänzte und gleißte,
stolze Rosse wippten auf ihren messingnen Sockeln. Ein Streifenbanner
flatterte von seiner Spitze, und überal l war es mi t goldenen Schnörkeln,
silbernen Blättern und bunten Vögeln und glitzernden Sternen üppig
verziert. Es war tatsächlich so prächtig, wie Mi ß Lark gesagt hatte, ja
sogar noch prächtiger.
Das Karussell lief langsamer und stand gerade still, als sie anlangten.
Der Parkaufseher rannte diensteifrig herbei und hängte sich an eine
der Messingstangen.
»Heranspaziert! Heranspaziert! Drei Pence die Fahrt«, rief er und kam
sich ungeheuer wichtig vor.
»Ich weiß, auf welches Pferd ich will!« sagte Michael und rannte auf
einen rot- und blaugemalten Hengst zu, auf dessen goldener Schabracke
der Name >Glücksbein< stand. Er kletterte auf seinen Rücken und hielt
sich an der Stange fest.
»Abfälle wegwerfen verboten! Beachtet die Vorschriften!« rief der
Aufseher zerstreut, als Jane an ihm vorbeisauste.
»Ich nehme >FunkelaugeGlücksbein< und >Funkelauge< zurück; die Kinder auf
ihrem Rücken klammerten sich fest, und der Park wippte und schaukelte,
quirlte und wirbelte um sie herum.
Ihnen war, als könnte es niemals ein Ende nehmen, als gäbe es keine
Zeit mehr und als wäre die We l t nichts anderes als ein kreiselndes Licht
und ein Häuflein bunter Holzpferde.
Die Sonne verglomm im Westen, und Dämmerung sank herab. Aber
immer noch rasten sie schneller und schneller, bis sie zuletzt Bäume und
Himmel nicht mehr voneinander unterscheiden konnten. Die ganze
weite Welt drehte sich um sie, dumpf summend wie ein Brummkreisel.
Nie wieder würden Jane und Michael, John und Barbara dem Mittelpunkt
der Welt so nahe sein wie auf diesem wirbelnden Ritt. Und
irgendwie hatten sie eine Ahnung davon. Denn: >nie wieder, nie wieder!
« fühlten sie tief im Herzen, während sie durch die herabsinkende
Dämmerung jagten und die Erde um sie herumsauste.
Nach einer Weile hörten die Bäume auf, wie ein verschwommener
grüner Kreis auszusehen, und ihre Stämme l ießen sich wieder unterscheiden.
Der Himmel trennte sich von der Erde, und der Park hörte auf, sich
zu drehen. Langsam, immer langsamer bewegten sich die Pferde. Und
schließlich stand das Karussell still.
»Herantreten, immer herangetreten, meine Herrschaften! Drei Pence
die Fahrt!« rief der Parkaufseher in einiger Entfernung.
Ganz steif von dem langen Ritt kletterten die vier Kinder von den
Pferden. Aber ihre Augen leuchteten, und ihre Stimmen bebten vor Begeisterung.
»Ach, wunderbar! Wunderbar! Wunderbar!« rief Jane und blickte
Mary Poppins mi t funkelnden Augen an, während sie John in den Kinderwagen
setzte.
»Wenn es nur immer weiter gegangen wäre!« rief Michael und setzte
Barbara daneben.
Mary Poppins sah zu ihnen hinab. Ihre Augen waren merkwürdig
sanft und zärtlich in der zunehmenden Dämmerung.
»Alles Gute nimmt einmal ein Ende«, sagte sie heute schon zum zweitenmal.
Dann warf sie den Kopf zurück und schaute sich nach dem Karussell
um.
»Jetzt bin ich an der Reihe!« rief sie fröhlich. Gleichzeitig bückte sie
sich und nahm etwas aus dem Kinderwagen.
Dann richtete sie sich wieder auf und ließ eine Weile die Augen auf
den Kindern ruhen — mi t diesem seltsamen Blick, der ihnen geradewegs
ins Herz zu dringen schien, um zu sehen, wa s sie dachten.
»Michael!« sagte sie und berührte seine Wange leicht mi t der Hand.
»Sei lieb!«
Voller Unbehagen blickte er zu ihr empor. Warum hatte sie das gesagt?
Wa s war denn los?
»Jane! Paß auf Michael und die Zwillinge auf!« sagte Ma r y Poppins.
Und sie nahm Janes Hand und legte sie liebevoll auf den Griff des Kinderwagens.
»Alles einsteigen! Alles einsteigen!« rief der Karussellmann.
Die Lichter am Karussell leuchteten auf.
Mary Poppins wandte sich um.
»Ich komme!« rief sie und winkte mit dem papageienförmigen Regenschirm.
Sie stürzte sich in den finsteren Zwischenraum, der die Kinder
von dem Karussell trennte.
»Mary Poppins!« rief Jane mi t zitternder Stimme. Denn plötzlich —
sie wußte selbst nicht, warum — hatte sie Angst.
»Mary Poppins!« schrie Michael, von Janes Furcht angesteckt.
Aber Mary Poppins achtete nicht darauf. Sie sprang graziös auf die


Plattform, kletterte auf den Rücken eines Schecken namens >Caramel<
und ließ sich sittsam und steif im Sattel nieder.
»Einfach oder hin und zurück?« fragte der Karussellmann.
Einen Augenblick schien sie zu schwanken. Sie blickte zu den Kindern
hinüber und dann wieder auf den Karussellmann.
»Man kann nicht wissen«, sagte sie nachdenklich. »Es könnte nützlich
sein. Ich nehme hin und zurück.«
Der Karussellmann zwickte ein Loch in eine grüne Fahrkarte und
reichte sie Mary Poppins. Jane und Michael fiel es auf, daß sie nichts dafür
bezahlte.
Wieder erklang die Musik, erst leise, dann lauter, schließlich wi ld und
triumphierend. Langsam setzten sich die Pferde in Bewegung.
Mary Poppins, die Augen geradeaus, wurde an den Kindern vorbeigetragen.
Der Papageienkopf an ihrem Schirm steckte unter ihrem Arm.
Ihre vornehm behandschuhten Hände umschlossen die Messingstange.
Und vor ihr, auf der Mähne des Pferdes .. .
»Michael!« schrie Jane und umklammerte seinen Arm. »Siehst du's?
Sie muß ihn unter der Decke verborgen haben! Ihr Reisesack!«
Michael erstarrte.
»Glaubst du etwa . . .«, begann er flüsternd.
Jane nickte.
»Aber — sie trägt noch ihr Medaillon! Die Kette ist nicht gerissen! Ich
sah es ganz deutlich!«
Hinter ihnen begannen die Zwillinge zu wimmern, aber Jane und
Michael achteten nicht darauf. Voller Angst verfolgten sie mi t ihren
Blicken das glitzernde Kreisen der Pferde.
Das Karussell lief jetzt sehr schnell, und bald konnten die Kinder die
Pferde nicht mehr unterscheiden; sie hätten nicht sagen können, welches
>Glücksbein< und welches >Funkelauge< war. Vor ihnen war alles ein
einziger Lichtwirbel, nur die dunkle Gestalt, sittsam und steif, kam
immer wieder auf sie zu, glitt vorüber und verschwand. Wilder und
immer wilder dröhnte die Musik. Schneller und immer schneller drehte
sich das Karussell. Wieder einmal ritt die dunkle Gestalt auf dem Schekken
auf sie zu. Und als sie diesmal vorüberglitt, löste sich etwas Leuchtendes
und Schimmerndes von ihrem Hals, flog durch die Luf t und landete
vor ihren Füßen.
Jane bückte sich und hob es auf. Es war das goldene Medaillon, das
lose an seiner gesprungenen Goldkette hing.
»Es ist also doch wahr!« ertönte Michaels durchdringender Schrei.
»Oh, mach es auf, Jane!«
Mi t zitternden Fingern drückte sie auf die Feder, und das Medaillon
flog auf. Da s flackernde Licht fiel auf das Glas, und vor sich sahen sie
ein Bi ld v on sich selbst, wie sie sich an eine Gestalt drängten — eine Ge-
stalt mi t straffem schwarzem Haar, blitzblauen Augen, leuchtendroten
Wangen und einer Stupsnase wie bei einer Holländerpuppe.
»Jane, Michael, John, Barbara und Annabel Banks und Mary Poppins
«, las Jane v on einem kleinen Streifchen unter dem Bild ab.
»Das also war drin!« sagte Michael unglücklich, während Jane das
Medaillon zuklappte und in ihre Tasche steckte. Er wußte, es blieb keine
Hoffnung mehr.
Sie wandten sich wieder dem Karussell zu. Das kreisende Licht blendete
sie und machte sie schwindlig. Denn jetzt flogen die Pferde noch
schneller durch die Luft, und die Musik dröhnte noch lauter als bisher.
Und dann ereignete sich etwas Seltsames. Mi t einer Trompetenfanfare
löste sich das Karussell wirbelnd vom Erdboden. Wi e eine Spindel
schraubte es sich glitzernd in die Höhe, die hölzernen Pferde jagten dahin,
an ihrer Spitze >Caramel< mi t Ma r y Poppins auf dem Rücken. Der
schimmernde Lichtkreis hob sich über die Bäume, und wo seine Strahlen
vorüberstrichen, verwandelten sich die Blätter in Gold.
»Da fliegt sie davon!« sagte Michael.
»Ach, Mary Poppins! Mary Poppins! Komm zurück, komm zurück!«
riefen sie und streckten die A rme nach ihr aus.
Aber deren Gesicht blieb abgewandt, sie blickte geradeaus, über den
Kopf ihres Pferdes hinweg, und verriet durch kein Zeichen, daß sie das
Rufen gehört hatte.
»Mary Poppins!« Es war ein letzter, verzweifelter Schrei.
Keine Antwort kam aus der Luft.
Inzwischen hatte das Karussell die Bäume hinter sich gelassen und
wirbelte zu den Sternen empor. Immer weiter entfernte es sich, immer
weiter, es wurde kleiner und kleiner, bis die Gestalt Mary Poppins' nur
noch ein dunkler Fleck in einem Lichtkranz war. Immer höher schraubte
sich das Karussell in den Himmel, das Ma r y Poppins entführte. Und
schließlich wa r es nur noch ein winziger, funkelnder Punkt, ein wenig
größer als ein Stern, aber sonst kaum noch von einem solchen zu unterscheiden.
Michael schluchzte und tastete nach seinem Taschentuch.
»Ich hab einen ganz steifen Hals«, sagte er, um das Schluchzen zu erklären.
Aber als Jane nicht hinsah, wischte er sich eilig die Augen.
Jane, die immer noch den leuchtenden, kreiselnden Punkt verfolgte,
stieß einen Seufzer aus. Dann wandte sie sich ab.
»Wir müssen nach Hause«, sagte sie matt, denn sie erinnerte sich, daß
Mary Poppins ihr aufgetragen hatte, sich um Michael und die Zwillinge
zu kümmern.
»Tretet näher, meine Herrschaften, drei Pence die Fahrt!« Der Parkaufseher,
der inzwischen Papier aufgelesen und in die Körbe getan hatte,
erschien wieder auf dem Schauplatz. Er blickte da hin, wo das Karussell

gestanden hatte, und fuhr heftig zurück. Er sah sich um und sperrte
Mund und Nase auf. Er blickte hoch, und die Augen fielen ihm fast aus
dem Kopf.
»Na so was!« rief er. »Das geht doch nicht! Die eine Minute hier und
in der nächsten auf und davon! Das ist gegen alle Vorschriften! Ich
werde euch verklagen.« Er drohte mi t den Fäusten wi ld in die leere Luft.
»So etwas hab ich noch nicht gesehen! Nicht mal, als ich ein kleiner
Junge war! Ich muß einen Bericht machen! Ich werde es dem Oberbürgermeister
melden!«
Schweigend machten die Kinder kehrt. Das Karussell hatte im Gras
keine Spur hinterlassen, nicht einmal eine Kerbe im Klee. Mi t Ausnahme
des Parkaufsehers, der rufend und armeschwenkend dastand, lag der
grüne Rasen leer und verlassen.
»Sie hat eine Rückfahrkarte genommen«, sagte Michael, der langsam
neben dem Kinderwagen einherschlich. »Glaubst du, das bedeutet, daß
sie zurückkommen will?«
Jane dachte einen Augenblick nach. »Vielleicht. Wenn wir sie dringend
genug brauchen«, sagte sie zögernd.
»Ja, vielleicht. . .«, wiederholte er mi t einem Seufzer. Und dann
schwieg er, bis sie wieder daheim im Kinderzimmer waren . . .
»Hört mal! Hört mal ! Hör t mal!«
Mister Banks kam über den Gartenweg gerannt und stürzte zur Haustür
herein.
»He! Wo steckt ihr denn alle?« rief er und rannte die Treppe hinauf,
immer drei Stufen auf einmal.
»Was ist denn nur los?« sagte Mistreß Banks, die ihm entgegeneilte.
»Etwas ganz Wunderbares!« rief er und riß die Tür zum Kinderzimmer
auf. »Ein neuer Stern ist aufgetaucht. Ich hörte es auf dem Nachhauseweg.
Der größte, der je gesehen wurde. Ich hab mir von Admiral
Boom das Fernrohr ausgeliehen, um ihn zu betrachten. Kommt und
seht!« Er rannte an das Fenster und hielt das Fernrohr vors Auge.
»Ja, ja!« sagte er und trat vor Aufregung von einem Fuß auf den
anderen.
»Da ist er! Ein Wunder! Eine Schönheit! Eine Sensation! Ein Juwel!
Da, guck einmal selbst!«
Er reichte Mistreß Banks das Fernrohr.
»Kinder!« rief sie, »da ist ein neuer Stern!«
»Weiß ich . . . « , begann Michael. »Aber es ist kein richtiger Stern. Es
i s t . . .«
»Du weißt es? Und es ist kein Stern? Wa s in aller Welt meinst du
denn?«
»Laß ihn. Er ist bloß albern!« sagte Mistreß Banks. »Nun, wo ist denn
der Stern? Ach, ich seh schon. Sehr hübsch! Wirklich der hellste am ganzen
Himmel! Möchte wissen, wo er herkommt!? Na, Kinder?«
Sie überließ das Fernrohr Jane und Michael, und als diese nun durch
das Glas blickten, konnten sie alles deutlich erkennen: den Kreis mi t den
Holzpferden, die Messingstangen und den dunklen, nebelhaften Fleck,
der immer wieder durch ihr Blickfeld huschte und verschwand.
Sie wandten sich einander zu und nickten. Sie wußten, was hinter dem
dunklen, nebelhaften Fleck steckte: eine sittsame, steife Gestalt in einer
grünen Jacke mi t Silberknöpfen, mi t einem geraden Strohhut auf dem
Kopf und einem papageienköpfigen Schirm unterm Arm. Vom Himmel
herab war sie gekommen, und dahin war sie zurückgekehrt. Aber das
wollten Jane und Michael niemandem verraten, denn sie wußten, um
Mary Poppins herum gab es Dinge, die sich nicht erklären ließen.
Es klopfte an die Tür.
»Verzeihen Sie, Madam«, sagte Mistreß Brill, die mi t hochrotem Ge -
sicht hereingestürzt kam. »Aber ich glaube, Sie müssen erfahren, daß
diese Mary Poppins wieder auf und davon ist!«
»Auf und davon?« fragte Mistreß Banks ungläubig.
»Mit Sack und Pack auf und davon!« sagte Mistreß Brill triumphierend.
»Ohne ein Wor t und ohne Ihre Erlaubnis. Genau wie das letzte
Mal! Selbst ihr Feldbett und ihr Reisesack sind verschwunden! Nicht mal
ihr Postkartenalbum hat sie dagelassen zur Erinnerung. So sieht's aus!«
»Aber, aber«, sagte Mistreß Banks. »Wie unangenehm! Wie gedankenlos
von ihr und wie . . . George!« Sie wandte sich an Mister Banks.
»George, Mary Poppins ist wieder weg!«
»Wer? Was? Mary Poppins? Na, das macht nichts! Wi r haben ja
einen neuen Stern!«
»Dein neuer Stern wird unsere Kinder nicht waschen und anziehen!«
sagte Mistreß Banks ärgerlich.
»Er wird die ganze Nacht durch in ihr Fenster scheinen!« rief Mister
Banks glücklich. »Das ist mehr wert als Waschen und Anziehen.«
Er wandte sich wieder seinem Fernrohr zu.
»Nicht wahr, mein Wunder, meine Schönheit, meine Augenweide?«
sagte er und blickte zu dem Stern empor.
Jane und Michael drängten sich eng an ihn und schauten über das
Fenstersims hinweg in den Abendhimmel.
Hoch über ihnen drehte sich die riesige Spindel; leuchtend wirbelte
sie durch das immer dunkler werdende Firmament; ihr Geheimnis aber
behielt sie für sich, bis in alle E w i g k e i t . . .
Âàøà îöåíêà:
Êîììåíòàðèé:
  Ïîäïèñü:
(×òîáû êîììåíòàðèè âñåãäà ïîäïèñûâàëèñü Âàøèì èìåíåì, ìîæåòå çàðåãèñòðèðîâàòüñÿ â Êëóáå ÷èòàòåëåé)
  Ñàéò:
 
Êîììåíòàðèè (1)

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