Kinder, daß sie beim Sprechen dem Onkel eher Befehle erteilte als um
etwas bat.
Onkel Dodger sprang herbei, so rasch, wie das bei einem Mann ohne
Beine nur möglich war.
»Aber gewiß doch, meine Liebe, gewiß doch!«
Er setzte den Krug auf den Ladentisch.
»Genau vor mich hin, bitte!« befahl Nelly Rubina von oben herab.
Mi t ängstlicher Geschäftigkeit schob Onkel Dodger den Krug weiter.
»Hier, meine Liebe, entschuldige bitte!«
»Sind das die Unterhaltungsstücke?« fragte Jane und deutete auf den
Krug. »Sie sehen eher aus wie Süßigkeiten.«
»Das sind sie ja auch, M i ß ! Es sind Unterhaltungssüßigkeiten«, sagte
Onkel Dodger, der den Krug mit der Schürze abwischte.
»Ißt die einer?« erkundigte sich Michael.
Onkel Dodger beugte sich mi t einem vorsichtigen Blick auf Nelly
Rubina über den Ladentisch.
»Eine schon«, flüsterte er hinter der vorgehaltenen Hand. »Aber ich
nicht, denn ich bin nur ein angeheirateter Onkel. Sie hingegen . . .« — er
deutete mi t einem respektvollen Nicken auf seine Nichte —, »sie ist die
älteste Tochter und ein direkter Nachkomme!«
Jane und Michael hatten keine Ahnung, was er damit meinte, aber sie
nickten höflich.
»Nun?« rief Nelly Rubina fröhlich, während sie den Deckel vom Krug
hob, »wer w i l l zuerst?«
Jane steckte ihre Hand in den Krug und brachte ein flaches, sternförmiges
Bonbon zum Vorschein, das aussah wie ein Pfefferminzplätzchen.
»Da steht ja etwas drauf!« rief sie aus.
Nelly Rubina quietschte vor Lachen. »Natürlich! Es ist doch ein Unterhaltungsbonbon!
Lies vor!«
»Du bist mein Ideal«, las Jane laut.
»Wie reizend!« zwitscherte Nelly Rubina und schob Michael den Krug
hin. Er zog ein rosafarbenes, muschelförmiges Bonbon hervor.
»Ich liebe dich. Liebst du mich auch?« buchstabierte er.
»Hahaha! Das ist was besonders Gutes! Ja, ich dich auch!«
Nelly Rubina lachte laut und gab ihm rasch einen Kuß, der auf seiner
Backe einen klebrigen Farbklecks hinterließ.
Johns gelbes Bonbon lautete: »Dideldideldumpling!«, und auf dem
Barbaras stand in großen Buchstaben: »Unser Sonnenscheinchen!«
»Und das bist du auch!« rief Nelly Rubina und lächelte ihr über den
Ladentisch zu.
»Nun du, Mary Poppins«, und während Nelly Rubina ihr den Krug
zuschob, bemerkten Jane und Michael, wie beide einen seltsam verständnisvollen
Blick wechselten.
Da kam der große wollene Handschuh; Mary Poppins schloß die
Augen und wühlte einen Augenblick in den Bonbons. Dann schlossen
sich ihre Finger um ein weißes, das wie ein Halbmond geformt war,
und sie streckte es vor sich hin.
»Heute abend um zehn«, las Jane laut vor.
Onkel Dodger rieb sich die Hände.
»Das stimmt. Das ist die Stunde, wo wir . . .«
»Onkel Dodger!!« rief Nelly Rubina warnend.
Das Lächeln erlosch auf seinem Gesicht, und er sah noch trauriger aus
als vorher.
»Verzeihung, meine Liebe!« sagte er demütig. »Ich bin ein alter Mann
und sage manchmal etwas Falsches, fürchte ich — entschuldige bitte.« Er
sah sehr beschämt aus, aber Jane und Michael begriffen nicht recht, wa s
er falsch gemacht haben sollte.
»Na denn«, sagte Ma r y Poppins und steckte ihr Unterhaltungsbonbon
sorgfältig in die Tasche. »Entschuldige uns bitte, aber ich glaube, wi r
müssen weg!«
»Was, schon?« Nelly Rubina rollte auf ihrer Scheibe ein wenig näher.
»Es war uns ein Vergnügen! Aber«, sie blickte aus dem Fenster, »es
könnte wieder zu schneien anfangen, dann sitzt ihr hier fest. Und das
möchtet ihr wohl nicht, wie?« wandte sie sich zwitschernd an die Kinder.
»Ich doch«, sagte Michael mi t Nachdruck. »Mir würde es Spaß machen.
Dann fände ich vielleicht auch heraus, wozu diese Dinger hier da sind.«
Er deutete auf die gemalten Zweige, die Schafe, die Vögel und die Blumen.
»Die? Ach, das sind nur Dekorationen«, sagte Nelly Rubina obenhin
und verabschiedete sie mi t einer eckigen Handbewegung.
»Aber was tust du damit?«
Onkel Dodger beugte sich eifrig über den Ladentisch.
»Ja, siehst du, wi r nehmen sie mi t uns . . .«
»Onkel Dodger!!!« Nelly Rubinas dunkle Augen funkelten gefährlich.
»Ach, meine Liebe! Jetzt hab ich mich wieder verplappert. Immer falle
ich aus der Rolle. Ich bin eben zu alt, das ist es«, sagte Onkel Dodger.
Nelly Rubina warf ihm einen ärgerlichen Blick zu. Da n n wandte sie
sich lächelnd den Kindern zu.
»Lebt wohl«, sagte sie und schüttelte ihnen ruckhaft die Hand. »Ich
werde an unsere Unterhaltungsbonbons denken: >Du bist mein Ideal,
Ich liebe dich, Dideldideldumpling und Sonnenscheinchen!<«
»Du hast Mary Poppins' Spruch vergessen. Er hieß: >Heute abend um
zehn<«, erinnerte sie Michael.
»Ach, die denkt schon daran!« sagte Onkel Dodger und lächelte glücklich.
»Onkel Dodger!!«
»Oh, entschuldige bitte, entschuldige!«
»Lebt wohl!« sagte Mary Poppins. Sie klopfte bedeutungsvoll auf ihre
Handtasche, und wieder wechselten sie und Nelly Rubina einen seltsamen
Blick.
»Auf Wiedersehen! Au f Wiedersehen!«
Wenn Jane und Michael später daran dachten, konnten sie sich nicht
erinnern, wie sie aus dem seltsamen Haus herausgekommen waren. In
dem einen Augenblick waren sie noch drinnen gewesen und hatten sich
von Nelly Rubina verabschiedet, und im nächsten standen sie schon wieder
draußen im Schnee und eilten hinter Mary Poppins her.
»Weißt du, Michael«, sagte Jane, »ich glaube, das Bonbon war eine
Botschaft.«
»Welches? Meines?«
»Nein. Das von Ma r y Poppins.«
»Meinst du?«
»Ich glaube, heute nacht um zehn wird sich etwas ereignen; ich
möchte wach bleiben und sehen, wa s passiert.«
»Da mache ich mit«, sagte Michael.
»Kommt weiter, bitte! Macht voran!« sagte Mary Poppins. »Ich kann
hier nicht den ganzen T ag vertrödeln . . .«
Jane lag in tiefem Schlaf. Im Traum rief jemand leise und dringlich
ihren Namen. Mit einem Ruck setzte sie sich auf und sah Michael im
Pyjama neben ihrem Bett stehen.
»Du wolltest doch wach bleiben!« flüsterte er vorwurfsvoll.
»Was? Wie? Wo ? Ach, du bist's, Michael! Na, das wolltest du doch
auch.«
»Horch«, sagte er.
Nebenan schlich jemand auf Zehenspitzen durchs Zimmer.
Jane zog scharf den At em ein. »Schnell! Zurück ins Bett. Tu, als ob du
schläfst. Vorwärts!«
Mi t einem Satz war Michael unter seiner Decke. In der Dunkelheit
hielten er und Jane lauschend den Atem an.
Die Tür zum Nebenzimmer öffnete sich verstohlen. Der schmale Lichtspalt
erweiterte sich. Langsam schob sich ein Kopf um die Ecke und
spähte ins Zimmer. Dann schlüpfte jemand durch die Tür, die sich leise
wieder schloß.
Mary Poppins, in ihren Pelzmantel gehüllt und die Schuhe in der
Hand, schlich auf Zehenspitzen durchs Zimmer.
Die Kinder lagen ganz still und horchten, wie ihre Tritte die Treppe
hinabeilten. Nach einem Weilchen drehte sich unten an der Haustür der
Schlüssel im Schloß. Jemand eilte die Stufen zum Gartenpfad hinunter,
und dann schnappte das Tor zu.
Im gleichen Augenblick schlug die Uhr zehn!
Mi t einem Satz waren beide aus dem Bett und rannten ins Nebenzimmer,
dessen Fenster nach dem Park hinausgingen.
Die Nacht war schwarz und prächtig, von hohen, funkelnden Sternen
erleuchtet. Aber heute blickten sie nicht nach den Sternen. Wenn Mary
Poppins' Bonbon wirklich eine Botschaft enthalten hatte, gab es bestimmt
Interessantes zu sehen.
»Guck!« Jane schluckte aufgeregt und streckte deutend ihre Hand aus.
»Da!«
Drüben im Park, gleich beim Eingangstor, stand das seltsame, archenartige
Haus, lose an einem Baumstamm verankert.
»Aber wie kommt das denn hierher?« sagte Michael verwundert.
»Heute morgen war es doch am anderen Ende des Parks.«
Jane antwortete nicht. Sie war ganz von ihren Beobachtungen in Anspruch
genommen.
Das Dach der Arche war aufgeklappt, und oben auf der Leiter stand,
auf ihrer runden Scheibe balancierend, Nelly Rubina. Von innen reichte
Onkel Dodger ein Bündel angemalter Holzzweige nach dem anderen heraus.
»Bist du soweit, Ma r y Poppins?« zwitscherte Nelly Rubina und ließ
einen Armvoll zu Mary Poppins hinunter, die auf dem Deck stand, um
ihn in Empfang zu nehmen.
Die Luft war so klar und ruhig, daß Jane und Michael, auf der Fensterbank
kniend, jedes Wo r t hören konnten.
Plötzlich gab es im Innern der Arche ein großes Getöse, denn eine der
hölzernen Formen war zu Boden gefallen.
»Onkel Dodger!! Gib bitte acht! Sie sind zerbrechlich!« sagte Nelly
Rubina streng. Und Onkel Dodger erwiderte, während er einen Haufen
gemalter Wolken herausreichte, reuevoll:
»Verzeihung, meine Liebe!«
Al s nächstes kam die Herde hölzerner Schafe zum Vorschein, alle sehr
steif und gediegen. Und zuletzt die Vögel, Schmetterlinge und Blumen.
»Das ist 'ne Masse!« sagte Onkel Dodger und schwang sich selbst
durch die Dachöffnung hinauf. Unter seinem Arm trug er den hölzernen
Kuckuck, der nun ganz mi t grauer Farbe bedeckt war. Und in der Hand
schwang er einen großen, grünen Farbtopf.
»Sehr schön«, sagte Nelly Rubina. »Nun, wenn du bereit bist, Mary
Poppins, dann fangen wir an!«
Und jetzt begann die seltsamste Arbeit, die Jane und Michael je gesehen
hatten. Nie, nie, so dachten sie, würden sie das vergessen, und
sollten sie auch neunzig Jahre alt werden.
Vo n dem Stapel angemalter Hölzer nahmen Nelly Rubina und Mary
Poppins große Blattbüschel und befestigten sie, ein wenig hochhüpfend,
rasch an den nackten, frostigen Ästen der Bäume. Die Büschel schienen
leicht zu haften, denn es beanspruchte nicht mehr als eine Minute, sie
anzubringen. Und als alles an seinem Platz saß, hüpfte Onkel Dodger
hoch und verdeckte mi t einem grünen Farbtupfer die Stelle, wo sich die
Blattbüschel mi t den Ästen verbanden.
»Du meine Güte, du meine Güte!« rief Jane, als Nelly Rubina leicht
zur Spitze einer hohen Pappel hinaufsegelte und dort einen großen
Zweig festmachte. Michael aber wa r viel zu verblüfft, um überhaupt
etwas zu sagen.
Durch den ganzen Park gingen die drei; wie auf Springfedern hüpften
sie zu den höchsten Zweigen hinauf. Und im Handumdrehen war
jeder Baum mi t hölzernen Blattbüscheln umkleidet, während Onkel Dodger
dem Ganzen durch einen Farbtupfer den letzten Pfiff gab.
Ab und zu hörten Jane und Michael Nelly Rubinas schrillen Ruf:
»Onkel Dodger! Gib acht!« und Onkel Dodgers Entschuldigungen.
Und jetzt nahmen Nelly Rubina und Mary Poppins die flachen, wei -
ßen, hölzernen Wolken in die Arme. Damit stiegen sie noch höher empor
als bisher, ja sie schossen geradezu über die Baumwipfel hinaus und
drückten die Wolken behutsam gegen den Himmel.
»Die bleiben kleben, die bleiben ja kleben!« rief Michael und tanzte
vor Aufregung auf der Fensterbank. Und wahrhaftig, dort oben am glitzernden,
funkelnden Himmel saßen die weißen Wolken und klebten fest.
»Wupps«, rief Nelly Rubina, als sie auf die Erde herabrutschte. »Und
jetzt die Schafe!«
Sehr sorgfältig setzten sie die hölzerne Herde auf einen beschneiten
Rasenstreifen, stellten die großen Schafe dicht zusammen und steckten
die steifen, weißen Lämmchen dazwischen.
»Wir kommen gut voran!« hörten Jane und Michael Ma r y Poppins
sagen, als sie das letzte Lamm auf die Beine stellte.
»Ich weiß nicht, wa s wi r ohne dich hätten machen sollen, Ma r y Poppins,
wahrhaftig nicht!« sagte Nelly Rubina vergnügt. Dann, in einem
ganz anderen Ton:
»Blumen, bitte, Onkel Dodger! Und paß auf!«
»Hier, meine Liebe.« Eiligst rollte er zu ihr hin, die Schürze bis zum
Platzten gefüllt mi t Schneeglöckchen, Scyl las und Himmelschlüsselchenpflanzen.
»Guck nur, guck!« rief Jane und kuschelte sich vor Entzücken enger in
die eigenen Arme. Denn Nelly Rubina steckte jetzt die Holzformen rings
um ein leeres Blumenbeet. Immer rundum rollte sie, pflanzte ihren hölzernen
Blumenrand und streckte immer wieder ihre Hand nach einer
neuen Blume aus Onkel Dodgers Schürze aus.