>Was ist das Beste in der Welt?< fragte er ruhig.
>Nichts tun<, entgegnete der König und wedelte mit seinem verbogenen
Zepter.
>Oje, oje!< jammerte die Königin. »DAS IST JA FURCHTBAR!<
>Tz-tz-tz!< machte der Staatskanzler.
Aber der berühmte Professor rannte die Stufen empor und stellte sich
dicht vor den Königsthron.
>Wer hat Euch diese Dinge gelehrt, Majestät?< fragte er.
Der König deutete mi t seinem Zepter auf den Narren.
>Der da<, sagte er und drückte sich damit nicht gerade gewählt aus.
Der große Professor hob die buschigen Brauen. Der Narr blickte zu
ihm auf und lächelte. Er war f ein Würfelknöchlein in die Luft, und der
Professor fing es, sich vorbeugend, mit dem Handrücken auf.
>Ha!< rief er. >Dich kenne ich. Schon an der Schellenkappe erkenne ich
den Hanswurst!<
>Haha!< lachte der Narr.
>Was hat er Euch sonst noch beigebracht, Majestät?< wandte sich der
große Professor wieder an den König.
>Singen!< erwiderte der König.
Und er erhob sich und sang:
>Eine Kuh, schwarz und weiß,
Untern Baum legt sie sich,
Und wäre ich sie,
So wär ich nicht ich!<
>Sehr wahr<, sagte der Professor. >Und wa s noch?<
Und wieder sang der König, mi t einer angenehmen, etwas zittrigen
Stimme:
>Die Erde dreht sich,
Ohne zu kippen.
Darum läuft das Meer
Nicht über die Klippen.<
>Das stimmt<, bemerkte der Professor. >Noch etwas?<
>Du meine Güte, natürlich!< sagte der König, sehr stolz auf seinen Erfolg.
>Da ist noch das hier:
Wollt ich nur immer lernen,
Wär ich bald neunmalklug.
Um dann noch nachzudenken,
Hätt ich nicht Zeit genug.
Aber vielleicht mögen Sie das hier noch lieber, Professor?
Die Fahrt um die Welt,
Sie zahlt sich nicht aus,
Denn der We g führt zuletzt
Doch wieder nach Haus!<
Der berühmte Professor klatschte Beifall.
>Ich weiß noch eins<, sagte der König. >Wenn Sie das hören möchten?<
Der König legte den Kopf zur Seite und bunkerte dem Narren zu. Mit
spitzbübischem Lächeln sang er:
>Die großen Professoren,
Die sollt man allesamt
In dem Trog ersäufen,
Au s dem ihr Wissen stammt.<
Am Schluß des Liedes lachte der Professor hellauf und fiel dem König
zu Füßen.
>O König<, sagte er, >du sollst lange leben! Du hast mich nicht nötig!<
Und ohne ein weiteres Wo r t rannte er die Schloßtreppe hinunter und
riß sich den Mantel, den Rock und die Weste vom Leibe. Dann warf er
sich ins Gras und rief nach einer Schüssel Erdbeeren mi t Schlagsahne und
nach einem großen Glas Bier.
>Tz-tz-tz!< machte der Staatskanzler entsetzt. Denn jetzt rannten alle
Höflinge die Treppe hinunter, rissen sich die Röcke vom Leibe und wälzten
sich im regennassen Gras.
>Erdbeeren und Bier! Erdbeeren und Bier!< riefen sie durstig.
>Gebt dem den Preis!< sagte der große Professor, sein Bier durch einen
Strohhalm saugend, und deutete mi t dem Kopf auf den Narren.
>Puh!< sagte der Narr. >Ich will ihn nicht haben. Wa s soll ich damit?<
Und er krabbelte auf die Füße, steckte seine Würfelknöchlein in die
Tasche und trollte sich davon.
>He! Wohin gehst du?< rief der König ängstlich.
>Ach, irgendwohin, irgendwohin!< sagte der Narr unbestimmt und
entfernte sich hüpfend und springend.
>Wart auf mich, war t auf mich!< rief der König und stolperte über
seine Mantelschleppe, als er die Stufen hinabrannte.
>Adalbert! W a s tust du nur? Du vergißt dich!< schrie die Königin.
>Keineswegs, meine Liebe!< rief der König zurück. >Im Gegenteil, ich
besinne mich zum erstenmal auf mich selbst.<
Er rannte den We g hinunter, holte den Narren ein und umarmte ihn.
>Adalbert!< schrie die Königin wieder.
Der König beachtete es nicht.
Der Regen hatte aufgehört, aber die Luft war immer noch feucht. Und
plötzlich bildete die Sonne einen Regenbogen, der sich in mächtigem
Schwung zum Schloß niedersenkte.
»Ich denke, wir nehmen diesen Weg<, sagte der Narr und deutete mit
dem Finger auf den Bogen.
>Was? Den Regenbogen? Ist der denn fest genug? Wird er uns tragen?<
>Versuch's!<
Der König blickte auf die schimmernden Streifen von Violett, Blau,
Grün, Gelb, Hell- und Dunkelrot. Und dann auf den Narren.
>Na schön<, sagte er. >Mir soll's recht sein! Komm!<
Er betrat die farbenfrohe Brücke.
>Sie hält!< rief er entzückt. Und behende rannte er mi t hochgehobener
Schleppe den Regenbogen hinauf.
>Ich bin der König hier im Schloß!< sang er triumphierend.
>Und ich der Hanswurst, dein Genoss'!< rief der Narr und rannte hinterdrein.
>Aber — das ist doch unmöglich!< sagte der Staatskanzler.
Der große Professor lachte und verdrückte noch eine Erdbeere.
>Wie kann etwas, was wirklich geschieht, unmöglich sein?< fragte er.
>Aber es ist nicht möglich! Es ist nicht! Es verstößt gegen alle Naturgesetze!<
Das Gesicht des Staatskanzlers wurde rot vor Wut .
Die Königin stieß einen Schrei aus.
>Ach, Adalbert, komm doch zurück!< flehte sie. >Es soll mir gleich sein,
wie töricht du bist, wenn du nur wiederkommst!<
Der König blickte über die Schulter zurück und schüttelte den Kopf.
Der Narr lachte laut. Immer höher stiegen sie miteinander, gleichmäßigen
Schrittes kletterten sie den Regenbogen hinauf.
Etwas Schweres und Glitzerndes fiel der Königin vor die Füße. Es war
das verbogene Zepter. Einen Augenblick später folgte die Königskrone.
Flehend streckte sie die Arme aus.
Aber statt aller Antwort stimmte der König mit seiner hohen und trällernden
Stimme nun folgendes Lied an:
>Sag: leb wohl, mein Lieb,
Weine nicht, mein Lieb,
Du bist klug, mein Lieb,
Und ich bin's auch!<
Der Narr warf ihr mit verächtlicher Handbewegung ein Würfelknöchlein
hinunter. Dann gab er dem König einen kleinen Stoß und drängte
ihn vorwärts. Der König hob seine Mantelschleppe auf und rannte davon,
der Narr dicht auf seinen Fersen. Immer weiter entfernten sie sich
über die strahlende, farbenprächtige Brücke, bis sich eine Wolke davor
schob und sie den Augen der Königin entzog.
>Du bist klug, mein Lieb,
Und ich bin's auch!<
Wi e ein Widerhall klang das Lied des Königs noch einmal zurück. Sie
hörte den letzten dünnen Triller, als der König schon verschwunden war.
>Tz-tz-tz!< machte der Staatskanzler. >So etwas gibt es einfach nicht!<
Aber die Königin setzte sich auf den leer gewordenen Thron und
schluchzte bitterlich.
>O weh<, weinte sie leise hinter den vorgehaltenen Händen. >Mein
König ist fort, und ich bin ganz verzweifelt. Niemals wird es wieder, wie
es war!<
Unterdessen hatten der König und der Narr den höchsten Punkt des
Regenbogens erreicht.
>Was für ein Gekletter!< sagte der König, setzte sich nieder und zog
den Mantel enger um die Schultern. >Ich denke, ich bleibe hier ein bißchen
sitzen — vielleicht auch länger. Geh du nur ruhig weiter!<
>Wird es dir nicht zu einsam?< fragte der Narr.
>Ach nein. Warum denn? Es ist hier oben hübsch friedlich und still.
Und ich kann nachdenken — oder besser noch — schlafen.< Und damit
streckte er sich auf dem Regenbogen aus und stopfte den Mantel unter
den Kopf.
Der Narr beugte sich nieder und gab ihm einen Kuß.
>So leb denn wohl, König<, sagte er sanft, >du brauchst mich nicht
länger.<
Er verließ den ruhig Schlafenden und stieg pfeifend den Regenbogen
auf der anderen Seite hinab.
Und dann wanderte er weiter durch die Welt, wie er es vor seiner Begegnung
mi t dem König getan hatte, singend und pfeifend und nicht
weiter denkend als bis zum nächsten Augenblick.
Zuweilen diente er einem anderen König und seinem Volk, zuweilen
aber mischte er sich auch unter die einfachen Leute, die in engen Straßen
oder Seitengäßchen lebten. Manchmal trug er eine prächtige Livree und
manchmal Kleider, so armselig wie kaum ein anderer. Aber ganz gleich,
wohin er sich wandte, stets brachte er Wohlstand und Glück unter das
Dach, das ihn beherbergte . . . «
Mary Poppins verstummte. Eine Weile noch lagen ihre Hände ruhig in
ihrem Schoß, und ihre Augen starrten blicklos ins Weite.
Dann seufzte sie, schüttelte ein wenig die Schultern und stand auf.
»Also denn!« sagte sie munter, »nehmt die Füße in die Hand und ab
nach Hause!«
Al s sie sich umdrehte, entdeckte sie, daß Jane sie unverwandt ansah.
»Hoffentlich erkennst du mich beim nächsten Ma l wieder«, bemerkte
sie spöttisch. »Und du, Michael, mach, daß du von der Bank herunterkommst!
Du willst dir wohl den Hals brechen, damit ich in Ungelegenheiten
gerate und einen Schutzmann holen muß?«
Sie schnallte die Zwillinge im Kinderwagen fest und schob ihn dann
ungeduldig vor sich her. Jane und Michael marschierten hinterdrein.
»Ich möchte wissen, wohin der König geriet, als der Regenbogen verschwand
«, sagte Michael nachdenklich.
»Wahrscheinlich begleitete er ihn, wohin er auch ging«, meinte Jane.
»Aber wa s ich wissen möchte: was geschah mi t dem Narren?«
Mary Poppins hatte den Kinderwagen in die Ulmenallee geschoben.
Als die Kinder um die Ecke bogen, packte Michael Jane an der Hand.
»Da ist er ja!« schrie er aufgeregt und deutete die Ulmenallee hinunter
nach dem Parktor.
Eine hochgewachsene, hagere Gestalt, seltsam rot und gelb gekleidet,
schwankte auf den Ausgang zu. Am Kirschbaumweg blieb sie stehen und
blickte pfeifend nach rechts und links. Dann schlurfte sie über die Straße
und schwang sich auf der anderen Seite lässig über eine Gartenmauer.
»Das ist doch bei uns!« sagte Jane, denn sie erkannte die Mauer an
einem ausgebrochenen Ziegelstein. »Er ist in unsern Garten gesprungen.
Lauf, Michael, wir wollen ihn einholen!«
Sie rannten im Galopp hinter Mary Poppins her.
»Nanu, nanu! Hier wird nicht Pferdchen gespielt!« sagte Ma r y Poppins
und hielt Michael am Arm fest, als er an ihr vorbei wollte.
»Aber wi r möchten . . . « , begann er, sich unter ihrem Griff windend.
»Was hab ich gesagt?« fragte sie mi t einem so strengen Blick, daß er
sich nicht zu widersetzen wagte. »Bleib gefälligst neben mir und benimm
dich. Und du, Jane, du kannst mir den Kinderwagen schieben helfen!«
Unwillkürlich fiel Jane mi t ihr in gleichen Schritt.
Für gewöhnlich erlaubte Mary Poppins keinem anderen, den Kinderwagen
zu schieben. Aber heute schien es Jane, als wollte sie mi t Absicht
verhindern, daß sie beide vorausliefen. Denn Mary Poppins, die sonst
so schnell ging, daß es schwerfiel, mi t ihr Schritt zu halten, kroch so
langsam wie eine Schnecke durch die Ulmenallee, hielt alle Augenblicke
an, um Umschau zu halten, und blieb mindestens eine Minute vor einem
Abfallkorb stehen. Stunden schien es zu dauern, bis sie endlich ans Parktor
gelangten. Auch dann noch ließ sie Jane und Michael nicht von ihrer
Seite, bis endlich Nummer siebzehn erreicht war . Nu n aber waren die
beiden nicht mehr zu halten und stoben durch den Garten davon.
Sie schauten hinter den Fliederbaum. Da war niemand. Sie suchten
zwischen den Rhododendronbüschen und spähten ins Treibhaus, in den
Geräteschuppen und die Wassertonne. Sie guckten sogar in den aufgerollten
Gartenschlauch. Der Schellenmann war nirgends zu entdecken.
Nur ein Mensch war im Garten, und das war Robertson Ay . Mitten
auf dem Rasen, die Wange gegen die Mähmaschine gepreßt, lag er und
schlief.
»Wir haben ihn verfehlt!« sagte Michael. »Er muß den We g abgekürzt
haben und ist zur Hintertür hinaus. Jetzt sehen wir ihn nie wieder.«
Er kehrte zum Rasenmäher zurück. Dor t stand Jane und blickte liebe-
voll auf Robertson Ay nieder. Sein Filzhut wa r tief übers Gesicht gezogen;
der zerbeulte Kopf lief in eine hakenförmig gebogene Spitze aus.
»Ich möchte wissen, ob ihm sein freier Nachmittag Spaß gemacht hat«,
sagte Michael flüsternd, um ihn nicht zu stören.
So leise er gesprochen hatte, Robertson Ay mußte ihn dennoch gehört
haben. Denn plötzlich regte er sich im Schlaf und rückte, eine bequemere
Lage suchend, näher an den Rasenmäher heran. Gleichzeitig ertönte ein
zartes Klimpern, als ob ganz in der Nähe kleine Glöckchen läuteten.