war ein großes Monogramm eingestickt; es trug die Initialen M. P.
»Da hat sie ihn also verloren!« sagte Michael und nickte weise mit
dem Kopf. »Sollen wi r ihr sagen, daß wi r ihn gefunden haben?«
Jane blickte um sich. Ma r y Poppins knöpfte ihre Schürze zu, mi t einem
Ausdruck, als wäre sie von der ganzen Welt beleidigt worden.
»Lieber nicht«, sagte Jane leise. »Ich nehme an, sie weiß es.«
Eine kleine Weile blieb sie vor dem Kamin stehen und betrachtete die
zersprungene Schale, das geknotete Taschentuch und den Schal.
Dann rannte sie mi t jähem Entschluß durchs Zimmer und stürzte sich
auf die Gestalt mi t der weißgestärkten Schürze.
»Ach«, rief sie, »ach, Ma r y Poppins, ich will nie wieder unartig sein.«
Ein leises Lächeln kräuselte Mary Poppins' Mundwinkel, während sie
die Falten ihrer Schürze glattstrich.
»Hmpf«, war alles, wa s sie sagte.
4. Kapitel
Kopfüber — kopfunter
»Bleibt, bitte, dicht hinter mir«, sagte Ma r y Poppins; sie stieg aus
dem Autobus und spannte ihren Schirm auf, denn es regnete furchtbar.
Jane und Michael kletterten hinter ihr her.
»Wenn ich dicht bei dir bleibe, rinnen mir die Tropfen von deinem
Regenschirm in den Nacken«, beschwerte sich Michael.
»Dann mach mir keinen Vorwurf, wenn du mich verlierst und einen
Schutzmann fragen mußt«, fuhr Mary Poppins ihn an, während sie sorgfältig
eine Pfütze vermied.
Sie blieb vor der Drogerie an der Ecke stehen, so daß sie in den drei
riesigen Flaschen im Schaufenster ihr Spiegelbild sehen konnte. Sie sah
eine grüne Mary Poppins, eine blaue Ma r y Poppins und eine rote Mary
Poppins, alle auf einmal. Und eine jede trug eine funkelnagelneue, mit
Messingknöpfen verzierte Lederhandtasche.
Mary Poppins spiegelte sich in den drei Flaschen und lächelte wohlgefällig
und zufrieden. Ein paar Minuten verbrachte sie damit, die Handtasche
bald in die rechte, bald in die linke Hand zu nehmen, um auf
jede nur denkbare Weise festzustellen, wa s am vorteilhaftesten aussah.
Schließlich entschied sie, daß die Tasche, unter den Arm geklemmt, den
größten Eindruck machte. Deshalb ließ sie sie dort.
Jane und Michael standen neben ihr und wagten nicht, etwas zu
sagen, doch warfen sie sich heimliche Blicke zu und seufzten innerlich.
Von zwei Zacken des Regenschirms mi t der Papageienkrücke tröpfelte
ihnen der Regen unbehaglich in den Nacken.
»Vorwärts, laßt mich nicht warten!« sagte Mary Poppins ärgerlich und
wandte sich von ihrem grünen, blauen und roten Spiegelbild ab. Jane
und Michael wechselten einen vielsagenden Blick. Jane gab Michael einen
Wink, ruhig zu sein. Sie schüttelte den Kopf und runzelte die Brauen.
Doch da war es ihm schon entfahren:
»Wir nicht. Du hast uns warten lassen . . . ! «
»Halte den Mund!«
Michael wagte nichts mehr zu sagen. Er trottete mi t Jane weiter, einer
rechts, einer links von Mary Poppins. Manchmal mußten sie laufen, um
mi t ihren langen, raschen Schritten mitzukommen. Und manchmal mußten
sie warten und traten dann von einem Fuß auf den andern, während
Mary Poppins in ein Schaufenster spähte, um sich davon zu überzeugen,
daß die Handtasche wirklich so hübsch aussah, wie sie sich's einbildete.
Es goß in Strömen, und der Regen spritzte vom Schirmdach auf Janes
und Michaels Hüte. Unterm Arm trug Jane die sorgfältig in Papier eingeschlagene
Porzellanschale. Sie brachten sie zu Ma r y Poppins' Vetter,
Mister Kuddelmuddel, dessen Beruf es war , alles mögliche zu reparieren,
wie Mary Poppins Mistreß Banks versichert hatte.
»Na«, hatte Mistreß Banks etwas zweifelnd erklärt, »ich hoffe nur, er
macht es ordentlich, denn solange sie nicht repariert ist, kann ich meiner
Großtante Karoline nicht in die Augen sehen.«
Großtante Karoline hatte Mistreß Banks die Schale geschenkt, als diese
kaum drei Jahre alt war , und alle wußten genau, daß Großtante Karoline
eine ihrer berühmten Szenen machen würde, wenn es sich herausstellte,
daß die Schale zerbrochen war.
»Die Leute in meiner Familie, Madam«, hatte Ma r y Poppins naserümpfend
erwidert, »arbeiten immer zur Zufriedenheit.« Und sie hatte so
grimmig ausgesehen, daß sich Mistreß Banks höchst unbehaglich fühlte;
sie hatte sich hinsetzen und nach einer Tasse Tee läuten müssen.
Platsch! Da stand Jane mitten in einer Pfütze.
»Paß gefälligst auf, wo du hintrittst!« fuhr Ma r y Poppins sie an; dabei
schüttelte sie ihren Schirm und sprühte die Tropfen über Jane und
Michael. »Dieser Regen kann einem ja das Herz brechen.«
»Wenn er das täte, könnte Mister Kuddelmuddel es reparieren?« erkundigte
sich Michael. Er wollte brennend gern wissen, ob Mister Kuddelmuddel
alle zerbrochenen Gegenstände reparieren könnte oder nur bestimmte.
»Könnte er das, Ma r y Poppins?«
»Noch ein Wort«, sagte Ma r y Poppins, »und es geht zurück nach
Hause!«
»Ich frag ja bloß . . . « , sagte Michael düster.
Mary Poppins stieß einen ärgerlichen Laut aus, bog elegant um die
Ecke und klopfte, nachdem sie ein altes Eisengitter geöffnet hatte, an die
Tür eines kleinen, wackligen Hauses.
»Tapp — tapp — tappity — tapp!« Der Ton des Klopfers schallte hohl
durch das Haus.
»Oje«, flüsterte Jane Michael zu, »wie schrecklich, wenn er nicht zu
Hause wäre!«
Doch im gleichen Augenblick ertönten schwere Fußtritte, die ihnen
entgegenstapften, und mi t lautem Knarren öffnete sich die Tür.
Eine rundliche, rotgesichtige Frau, die eher aussah wie zwei aufeinandergesetzte
Äpfel als wie ein menschliches Wesen, stand auf der
Schwelle. Ihr glattes Haar war oben auf dem Kopf zu einem Knoten zusammengedreht,
und ihr dünner Mund hatte einen eigensinnigen und
mürrischen Ausdruck.
»Na!« sagte sie und glotzte. »Da sind Sie ja wieder!«
Sie schien nicht besonders erfreut zu sein, Mary Poppins zu sehen.
Ebensowenig schien Mary Poppins erfreut, sie zu sehen.
»Ist Mister Kuddelmuddel da?« fragte sie, ohne auf die Bemerkung der
rundlichen Frau einzugehen.
»Hm«, sagte die Frau mi t unfreundlicher Stimme, »das ist nicht ganz
heraus. Vielleicht, oder vielleicht auch nicht. Wi e man's nimmt!«
Mary Poppins trat durch die Tür und spähte umher.
»Das ist doch sein Hut , oder nicht?« fragte sie und deutete auf einen
alten Filzhut, der an einem Haken in der Diele hing.
»Natürlich ist er's — sozusagen.« Unwillig gab die rundliche Frau die
Tatsache zu.
»Dann ist er da«, sagte Mary Poppins. »Keiner von meiner Familie
geht je ohne Hut aus. Wi r wissen zu genau, was sich gehört.«
»Alles, was ich Ihnen verraten kann, ist das, wa s er heute morgen zu
mir sagte«, erklärte die rundliche Frau. »>Miß Törtchen<, sagte er, v i e l -
leicht bin ich heute nachmittag zu Hause, vielleicht auch nicht. Ich kann's
wirklich nicht sagen.< Das hat er gesagt. Aber gehen Sie lieber hinauf
und sehen Sie selbst nach. Ich bin kein Bergsteiger.«
Die rundliche Frau blickte auf ihren rundlichen Leib nieder und schüttelte
den Kopf. Jane und Michael begriffen recht gut , daß eine Person von
ihrer Größe und ihrem Umfang nicht dauernd Mister Kuddelmuddels
enge und wacklige Treppen auf und ab klettern wollte.
Mary Poppins schnüffelte verächtlich.
»Folgt mir, bitte!« befahl sie Jane und Michael , und sie rannten hinter
ihr her die knarrenden Treppen hinauf. Miß Törtchen blieb in der Diele
stehen und verfolgte sie mit überlegenem Lächeln.
Oben auf dem Treppenabsatz klopfte Mary Poppins mit der Schirmkrücke
an die Tür. Es kam keine Antwort. Abermals klopfte sie, lauter
diesmal. Immer noch keine Antwort.
»Vetter Artur!« rief sie durchs Schlüsselloch, »Vetter Ar tur , bist du
da drin?«
»Nein, ich bin draußen!« kam von innen eine Stimme wie aus weiter
Ferne.
»Wie kann er draußen sein? Ich höre ihn doch!« flüsterte Michael
Jane zu.
»Vetter Artur!« Mary Poppins rüttelte an der Türklinke. »Ich weiß,
du bist da drin.«
»Nein, nein«, kam die weit entfernte Stimme. »Ich bin draußen, sag
ich dir. Es ist der zweite Montag!«
»Oje! — das hab ich vergessen!« sagte Mary Poppins und drückte
ärgerlich auf die Türklinke; die Tür flog auf.
Zunächst sahen Jane und Michael nur ein großes Zimmer, das, abgesehen
von einer Hobelbank am anderen Ende, völlig leer zu sein schien.
Au f dieser Bank lag ein Haufen seltsamer Dinge: Porzellanhunde ohne
Nasen, Holzpferde, denen der Schwanz fehlte, angeschlagene Teller, zerbrochene
Puppen, Messer ohne Knauf, Stühle mi t nur zwei Beinen —
kurz gesagt, ungefähr alles, was man überhaupt noch zu reparieren ver-
suchen konnte. An den Wänden entlang standen Regale, die vom Fußboden
bis zur Decke reichten, und auch sie waren vollgestopft mit zerbrochenem
Porzellan, zersprungenem Glas und kaputtem Spielzeug.
Aber nirgends war eine Menschenseele zu sehen.
»Oh«, sagte Jane enttäuscht. »Er ist also doch ausgegangen!«
Aber Mary Poppins war an das Fenster gestürzt.
»Komm sofort herein, Artur! Bei diesem Regen draußen sein, und das
mit deiner Bronchitis vom vorvorigen Winter!«
Und zu ihrer Verwunderung sahen Jane und Michael, wie sie nach
einem langen Bein griff, das über dem Fenstersims hing, und wie sie von
draußen einen langen, dünnen, traurig aussehenden Mann mi t lang herabhängendem
Schnurrbart hereinholte.
»Du solltest dich schämen«, sagte Mary Poppins barsch; während sie
mit einer Hand Mister Kuddelmuddel festhielt, schloß sie mi t der anderen
das Fenster. »Wir haben dir eine wichtige Arbeit mitgebracht, und
dabei benimmst du dich so.«
»Aber ich kann doch nichts dafür«, entschuldigte sich Mister Kuddelmuddel
und wischte seine Augen mit einem großen Taschentuch. »Ich
sagte doch gleich, daß heute der zweite Montag ist.«
»Was soll das heißen?« fragte Michael, der Mister Kuddelmuddel interessiert
anstarrte.
»Ach«, sagte Mister Kuddelmuddel und wandte sich ihm zu, um ihm
schlaff die Hand zu schütteln. »Es ist freundlich von dir, danach zu fragen.
Sehr freundlich. Ich weiß es zu schätzen, wahrhaftig.« Er hielt inne,
um sich erneut die Augen zu wischen. »Sieh mal«, fuhr er fort, »es ist
so: an jedem zweiten Montag im Monat geht bei mir alles schief.«
»Was alles?« fragte Jane vol l Mitgefühl für Mister Kuddelmuddel,
aber auch sehr neugierig.
»Na, zum Beispiel heute!« sagte Mister Kuddelmuddel. »Heute ist zufällig
der zweite Montag im Monat. Und wenn ich daheim bleiben
möchte, weil ich so viel zu tun habe, bin ich unwillkürlich draußen. Und
wenn ich gern draußen wäre, dann wäre ich drin. Das ist mal sicher.«
»Ich verstehe«, sagte Jane, obwohl sie es in Wirklichkeit nicht recht
begriff. »Deshalb also . . .?«
»Jawohl«, nickte Mister Kuddelmuddel. »Ich hörte euch die Treppe
heraufkommen und wollte so gern hierbleiben. Aber natürlich, sobald ich
mir das wünschte, da war ich auch schon draußen! Und wäre noch draußen,
wenn Mary Poppins mich nicht beim Schlafittchen gefaßt hätte.« Er
seufzte schwer.
»Natürlich ist es nicht immer so. Nur in den Stunden zwischen drei
und sechs, aber selbst das kann sehr unangenehm sein.«
»Bestimmt«, sagte Jane mitfühlend.
»Und es handelt sich nicht nur um drinnen und draußen . . . « , fuhr
Mister Kuddelmuddel unglücklich fort. »Mi t anderen Dingen ist es genauso.
Wenn ich eine Treppe hinaufsteigen möchte, laufe ich sie statt dessen
hinunter. Ich muß bloß nach rechts gehen wollen, und schon geh ich nach
links. Und ich mache mich nie auf den We g nach dem Westen, ohne daß
ich mich plötzlich im Osten wiederfände.«
Mister Kuddelmuddel schneuzte sich die Nase.
»Und das Allerschlimmste ist«, erzählte er weiter, während seine
Augen sich abermals mi t Tränen füllten, »meine ganze Natur verändert
sich. Seht mich jetzt an — ihr würdet kaum glauben, daß ich in Wirklichkeit
ein glücklicher und zufriedener Mensch bin, wie?«