Und wahrhaftig sah Mister Kuddelmuddel so melancholisch und verzweifelt
aus, daß man ihn sich unmöglich glücklich und zufrieden vorstellen
konnte.
»Aber warum? Warum nur?« fragte Michael und starrte zu ihm
empor.
Mister Kuddelmuddel schüttelte traurig den Kopf.
»Ach!« sagte er feierlich. »Ich hätte eigentlich ein Mädchen werden
sollen.«
Jane und Michael starrten erst ihn und dann sich gegenseitig an. Wa s
konnte er damit meinen?
»Seht mal«, erklärte Mister Kuddelmuddel, »meine Mutter wünschte
sich ein Mädchen, und als ich ankam, stellte sich's heraus, daß ich ein
Junge war. So ging es von Anfang an mit mir schief — v om Tage meiner
Geburt an. Und das wa r der zweite Montag im Monat.«
Wieder begann Mister Kuddelmuddel zu weinen; er schluchzte leise in
sein Taschentuch.
Jane tätschelte ihm freundlich die Hand.
Das schien ihm zu gefallen, obwohl er nicht lächelte.
»Und natürlich«, fuhr er fort, »ist es sehr hinderlich für meine Arbeit.
Seht mal dorthin!«
Er deutete auf eines der größeren Regale; dort stand eine ganze
Reihe von Herzen, verschieden in Größe und Farbe, jedes einzelne mit
einem Sprung oder angeschlagen oder völlig zerbrochen.
»Gerade die hier«, sagte Mister Kuddelmuddel, »werden möglichst
rasch gebraucht. Ihr ahnt gar nicht, wie böse die Leute werden, wenn ich
ihnen ihre Herzen nicht sofort wieder zurückschicke. Sie schlagen deswegen
mehr Lärm als um alles andere. Und ich wage es einfach nicht, sie
vor sechs Uhr anzurühren. Ich würde sie ruinieren — wie die Sachen
dort!«
Er deutete mi t einem Nicken auf ein anderes Regal. Jane und Michael
blickten hin und sahen, daß es vollgestopft war mi t Gegenständen, die
falsch repariert worden waren. Eine Porzellanschäferin war von ihrem
Porzellanschäfer getrennt worden, und ihre Arme klebten jetzt an einem
Messinglöwen, den sie umhalste; eine Matrosenpuppe, die jemand aus
ihrem Boot herausgebrochen hatte, war jetzt auf einer Porzellanplatte befestigt;
und in dem Boot befand sich, den Rüssel um den Mast geringelt
und mi t Heftpflaster festgeklebt, ein grauer Stoffelefant. Zerbrochene
Saucenschüsseln waren mit anders gemusterten Scherben zusammengekittet,
und das Bein eines Holzpferdchens bildete den Henkel eines silbernen
Taufbechers.
»Seht ihr wohl?« sagte Mister Kuddelmuddel hoffnungslos, mit einer
unbestimmten Handbewegung.
Jane und Michael nickten. Mister Kuddelmuddel tat ihnen leid.
»Aber darum geht's jetzt nicht«, mischte sich Mary Poppins ungeduldig
ein. »Sieh dir diese Schale hier an! Wi r haben sie dir zur Reparatur
mitgebracht.«
Sie nahm Jane die Schale ab, und Mister Kuddelmuddel immer noch
mi t einer Hand festhaltend, knüpfte sie mi t der anderen die Schnur auf.
»Hm«, sagte Mister Kuddelmuddel. »Aus der Königlichen Porzellanfabrik.
Ein böser Sprung. Sieht aus, als hätte jemand was draufgeworfen.
«
Jane fühlte, wie sie bei diesen Worten rot wurde.
»Immerhin«, fuhr er fort, »wenn's an einem anderen Ta g wäre,
könnte ich sie reparieren. Aber heute . . .« Er zögerte.
»Ach, Unfug! Es ist doch ganz einfach. Du brauchst nur hier und hier
und da ein bißchen zu kitten!«
Mary Poppins deutete auf den Sprung und ließ dabei Mister Kuddelmuddels
Hand fallen.
Sofort drehte er sich wie ein Rad durch die Luft.
»Oh!« schrie Mister Kuddelmuddel. »Warum hast du losgelassen? Ich
Armer, jetzt treibt es mich wieder fort!«
»Rasch, die Tür zu!« rief Mary Poppins. Jane und Michael stürzten
davon und schlossen die Tür gerade noch, bevor Mister Kuddelmuddel
sie erreichte. Er stieß heftig dagegen, prallte wieder ab und überschlug
sich mi t äußerst traurigem Blick graziös in der Luft.
Plötzlich erstarrte er in einer höchst seltsamen Stellung. Anstatt auf
die Füße zu kommen, stand er auf dem Kopf.
»Oje, oje!« sagte Mister Kuddelmuddel und strampelte mi t den
Beinen, »oje, oje!«
Aber trotzdem kam er mi t den Füßen nicht auf den Boden. Sie blieben,
wo sie waren, und schwebten sanft in der Luft.
»Na schön«, bemerkte Mister Kuddelmuddel melancholisch. »Vielleicht
sollte ich froh sein, daß es nicht noch schlimmer ist. Das hier ist bestimmt
besser, wenn auch nicht viel besser, als draußen im Regen zu
hängen, ohne einen Stuhl zum Sitzen und ohne Mantel. Nun seht ihr's«,
er blickte Jane und Michael an, »ich möchte so gern aufrecht stehen, und
deshalb — mein Pech! — steh ich auf dem Kopf. Na schön, macht auch
nichts. Ich sollte langsam daran gewöhnt sein. Hatte fünfundvierzig
Jahre Zeit dazu. Gib mir die Schale.«
Michael rannte zu Mary Poppins hin, holte die Schale und setzte sie
neben Mister Kuddelmuddels Kopf auf den Fußboden. Dabei überkam
ihn plötzlich ein seltsames Gefühl. Ihm war, als würden seine Füße vom
Fußboden weggestoßen und in die Luft gekippt.
»Oh!« schrie er. »Mir ist so merkwürdig. Wa s geschieht mi t mir?«
Denn inzwischen drehte auch er sich wie ein Rad in der Luft, flog im
Raum auf und ab und landete schließlich kopfunter neben Mister Kuddelmuddel
auf dem Fußboden.
»Nun brat mir einer 'nen Storch!« sagte Mister Kuddelmuddel überrascht
und warf Michael aus den Augenwinkeln einen Blick zu. »Ich
wußte nicht, daß es ansteckend ist. Du auch? Bei allen . . . halt, halt, sag
ich! Bleib ruhig! Du stößt mir sonst die Sachen von den Regalen, wenn
du nicht vorsichtig bist, und ich muß ersetzen, was kaputtgeht. Wa s
machst du bloß?«
Er wandte sich jetzt an Jane, deren Füße plötzlich v om Teppich weggerissen
wurden und in schwindelerregender Weise über ihrem Kopf herumzuwirbeln
begannen. Um und um drehte es sie — bald den Kopf, bald
die Füße in der Luft —, bis sie schließlich auf der anderen Seite von
Mister Kuddelmuddel wieder herunterkam und auch auf dem Kopf stand.
»Weißt du«, sagte Mister Kuddelmuddel, sie feierlich anstarrend, »das
ist aber sehr seltsam. Meines Wissens ist das noch keinem andern passiert.
Au f mein Wort, niemals! Hoffentlich nimmst du es nicht übel?«
Jane lachte, wandte ihm den Kopf zu und strampelte mi t den Beinen
in der Luft. »I bewahre, besten Dank. Ich hab mir immer schon gewünscht,
auf dem Kopf stehen zu können, und hab es bisher niemals fertiggebracht.
Es ist sehr bequem.«
»Hm«, sagte Mister Kuddelmuddel mit leichtem Zweifel. »Ich bin froh,
daß es wenigstens einem gefällt. Vo n mir kann ich das nicht behaupten.«
»Aber ich«, sagte Michael, »ich wünschte, ich könnte mein ganzes
Leben lang so bleiben. Alles sieht so vergnügt und anders aus.«
Und in der Tat , alles war anders. Von ihrer seltsamen Stellung auf
dem Fußboden aus konnten Jane und Michael sehen, daß die Gegenstände
auf der Hobelbank alle umgekehrt lagen — Porzellanhunde, zerbrochene
Puppen, Holzstühle, alles stand auf dem Kopf.
»Guck!« flüsterte Jane Michael zu. Er drehte, so weit er konnte, den
Kopf. Und da, aus einem Loch in der Bodenleiste, kam eine kleine Maus
herausgekrochen. Sie hüpfte, Purzelbaum schlagend, mitten ins Zimmer,
kippte hoch und balancierte auf der Nasenspitze zierlich vor ihnen herum.
Sie beobachteten sie eine Weile. Dann sagte Michael plötzlich:
»Guck mal aus dem Fenster, Jane!«
Sie wandte vorsichtig den Kopf, was ziemlich schwierig war, und entdeckte
zu ihrer Verblüffung, daß außerhalb des Zimmers alles ebenso
verdreht war wie drin. Draußen auf der Straße standen die Häuser kopf.
Ihre Schornsteine ruhten auf dem Pflaster, und ihre Vortreppen, aus
denen kleine Rauchwölkchen emporkräuselten, ragten in die Luft. Etwas
weiter entfernt wa r eine Kirche gekentert und balancierte, reichlich kopflastig,
auf ihrer Kirchturmspitze. Und der Regen, der bisher stets vom
Himmel herabgeströmt war, drang jetzt in einem gleichmäßigen, alles
durchnässenden Rieseln aus der Erde.
»Ach«, sagte Jane. »Wie wundervoll seltsam ist das alles! Al s wären
wi r in einer andern Welt. Wi e bin ich froh, daß wir gerade heute
kamen.«
»Na«, sagte Mister Kuddelmuddel traurig, »du bist sehr freundlich,
das muß ich sagen. Du verstehst es, Komplimente zu machen. Und nun,
was machen wi r mi t der Schale?«
Er streckte die Hand aus, um sie aufzunehmen, aber im gleichen
Augenblick kippte die Schale um und lag auf der Nase. Das geschah so
schnell und wirkte so komisch, daß Jane und Michael unwillkürlich
lachen mußten.
»Für mich«, erklärte Mister Kuddelmuddel unglücklich, »ist das nicht
zum Lachen. Das versichere ich euch. Ich muß sie von der falschen Seite
kitten — und wenn es zu sehen ist, so ist es halt zu sehen. Ich kann's
nicht ändern.« Er zog sein Werkzeug aus der Tasche und reparierte die
Schale, bei der Arbeit leise vor sich hin weinend.
»Hmpf«, sagte Mary Poppins und bückte sich, um die Schale aufzuheben.
»Das wäre geschehen. Und jetzt wollen wir gehen.«
Da fing Mister Kuddelmuddel erbarmungswürdig an zu schluchzen.
»So ist's recht, geht nur!« sagte er bitter. »Bleibt nur ja nicht hier und
steht mir in meinem Unglück bei. Streckt mir keine freundliche Hand
entgegen. Ich bin es ja nicht wert. Ich hatte gehofft, ihr würdet mir die
Ehre antun und ein paar Erfrischungen zu euch nehmen. Es ist ein Pflaumenkuchen
da. Er liegt in einem Blechkasten oben auf dem Regal. Aber
ich hab wohl kein Recht, so etwas zu erwarten. Ihr müßt euer eigenes
Leben leben, und ich darf euch nicht bitten, bei mir zu bleiben und mir
das meine zu erleichtern. Heute ist nicht mein Glückstag . . . «
» N u n . . . « , begann Mary Poppins und hörte auf, ihre Handschuhe
weiter zuzuknöpfen.
»Ach, bleib doch, Mary Poppins, bleib!« riefen Jane und Michael wie
aus einem Munde und tanzten fröhlich auf ihren Köpfen.
»Du kannst leicht zum Kuchen hinaufgelangen, wenn du dich auf
einen Stuhl stellst!« sagte Jane hilfreich.
Z um erstenmal lachte Mister Kuddelmuddel. Es klag reichlich melancholisch,
aber immerhin lachte er.
»Die braucht keinen Stuhl«, sagte er und kicherte kläglich. »Die bekommt,
was sie will und wie sie es will. — Die bestimmt.«
Da tat, vor den erstaunten Augen der Kinder, Mary Poppins etwas
Seltsames. Sie reckte sich steif auf den Zehenspitzen hoch und hielt sich
einen Augenblick in der Schwebe. Dann, ganz langsam und auf höchst
merkwürdige A r t , schlug sie sieben Saltos durch die Luft. Und so — die
Röcke umspannten dabei ihre Fesseln, der Hut saß kerzengerade auf
ihrem Kopf — wirbelte sie am Regal hoch, ergriff den Kuchen und landete
vor Mister Kuddelmuddel und den Kindern auf dem Kopf.
»Hurra! Hurra! Hurra!« schrie Michael begeistert. Doch vom Fußboden
her warf Ma r y Poppins ihm einen Blick zu, daß er wünschte, er
wäre lieber ruhig gewesen und hätte nichts gesagt.
»Danke, Mary«, murmelte Mister Kuddelmuddel traurig, doch keineswegs
überrascht.
»So!« sagte Mary Poppins. »Das ist das letzte, was ich heute für euch
tue!« Sie stellte die Blechdose vor Mister Kuddelmuddel hin.
Sofort kippte sie mi t leichtem Schwanken um. Jedesmal, wenn Mister
Kuddelmuddel sie wieder mi t dem Deckel nach oben vor sich hinstellte,
drehte sie sich um und fiel wieder auf den Kopf.
»Ach«, sagte er entmutigt, »das hätte ich wissen können! Nichts hat
heute seine Richtigkeit, nicht einmal die Kuchenbüchse. Wi r werden den
Boden aufschneiden müssen. Ich werde ma l . . .«
Und er stolperte auf seinem Kopf zur Tür und rief durch den Spalt
an der Schwelle: »Miß Törtchen! Miß Törtchen! Es tut mir leid, daß ich
Sie stören muß; könnten Sie . . . würden Sie . . . macht es Ihnen was aus,
einen Büchsenöffner zu bringen?«
Von weitem, aus dem unteren Stockwerk, ertönte Mi ß Törtchens
Stimme, die grimmig protestierte.
»Ruhe!« krächzte plötzlich eine Stimme laut durch das Zimmer.
»Ruhe! Und Schluß mi t dem Unfug! Störe die Frau nicht! Laß Polly das
tun! Die hübsche Polly! Die kluge Polly!«
Den Kopf wendend, stellten Jane und Michael zu ihrer Ãœberraschung