fest, daß die Stimme aus der papageienköpfigen Krücke von Mary Poppins'
Schirm kam, der gerade radschlagend zu dem Kuchen hinrollte. In
zwei Sekunden hatte der Schnabel ein großes Loch hineingehackt.
»So!« kreischte der Papageienkopf selbstgefällig. »Polly hat's fertiggebracht!
Die hübsche Polly!« Und ein glückliches, selbstzufriedenes
Lächeln breitete sich um seinen Schnabel, als er sich kopfunter neben
Mary Poppins auf dem Fußboden niederließ.
»Nun, das wa r sehr freundlich, wirklich sehr freundlich«, sagte Mister
Kuddelmuddel mi t seiner düsteren Stimme, als die dunkle Kruste des
Kuchens zum Vorschein kam.
Er zog ein Messer heraus und schnitt ein Stück ab. Plötzlich stutzte er
und untersuchte den Kuchen genauer. Dann blickte er Mary Poppins vorwurfsvoll
an.
»Das ist dein Werk, Mary! Leugne es nicht. Dieser Kuchen war beim
letzten Öffnen ein Pflaumenkuchen, und nun . . .«
»Biskuit ist sehr viel bekömmlicher«, sagte Ma r y Poppins spitz. »Eßt
gefälligst langsam. Ihr seid keine halbverhungerten Wilden!« fuhr sie
Jane und Michael an, jedem ein kleines Stück reichend.
»Alles schön und gut«, murrte Mister Kuddelmuddel verbittert, während
er sein Stück mi t zwei Bissen verschlang. »Aber ich äße gern ein
Stückchen Pflaumenkuchen oder zwei, das muß ich gestehen. Na schön,
es ist halt nicht mein Glückstag heute!« Er brach ab, denn es pochte laut
an der Tür. »Herein!« rief er mürrisch.
Miß Törtchen, die wenn möglich noch runder aussah und vom Treppensteigen
keuchte, stürzte ins Zimmer.
»Der Büchsenöffner, Mister K u d d e l m u d d e l . . . « , begann sie barsch.
Dann hielt sie inne und staunte.
»Aijai«, sagte sie, den Mund sperrangelweit offen, während ihr der
Büchsenöffner aus den Fingern glitt. »So wa s hab ich mein Lebtag nicht
gesehen. Und auch nicht erwartet!«
Sie trat einen Schritt vor und starrte mi t tiefster Verachtung auf die
vier Paar in der Luft zappelnden Füße.
»Kopfunter — alle miteinander — wie Fliegen an der Decke! Und Sie
bilden sich ein, anständige Menschen zu sein? Für eine Dame von meinem
Stand ist hier kein Platz. Ich werde das Haus augenblicklich verlassen,
Mister Kuddelmuddel. Nehmen Sie das zur Kenntnis, bitte!«
Sie rauschte ärgerlich zur Tür.
Doch bei ihren ersten Schritten hoben ihre weiten wogenden Röcke sie
plötzlich in einen Wirbel vom Fußboden auf.
Ein tödliches Erschrecken malte sich auf ihrem Gesicht.
»Mister Kuddelmuddel! Mister Kuddelmuddel! Fangen Sie mich! Halten
Sie mich fest! Hilfe! Hilfe!« schrie Mi ß Törtchen, als auch sie radzuschlagen
begann.
»Oh, oh, die Welt ist zu einer Spindel geworden! Wa s mach ich nur?
Hilfe! Hilfe!« kreischte sie, als es sie wieder herumzudrehen begann.
Bei diesem Herumwirbeln verwandelte sie sich auf seltsame Weise. Ihr
rundes Gesicht verlor den mürrischen Ausdruck und begann lächelnd zu
strahlen. Und Jane und Michael sahen zu ihrer höchsten Überraschung,
wi e sich ihr straffes Haar in zahllosen kleinen Löckchen kräuselte, während
sie so durchs Zimmer drehte und wehte. Al s sie wieder zu sprechen
begann, klang ihre mürrische Stimme süß wie ein Honigbonbon.
»Was ist denn los mi t mir?« rief Mi ß Törtchens neue Stimme. »Ich
fühle mich wie ein Ball! Oder vielleicht wie ein Ballon oder wie ein
Kirschtörtchen!« Sie brach in ein glückliches Gelächter aus.
»Du meine Güte, wie glücklich ich bin!« trillerte sie, durch die Luft
trudelnd. »Noch nie hab ich mein Leben so genossen wie jetzt; wenn es
nach mir ginge, ich hörte gar nicht mehr auf. Wa s für ein angenehmes
Gefühl! Ich werde das nach Hause schreiben, meiner Schwester, meinen
Kusinen und Onkeln und Tanten. Ich werde ihnen erklären, daß es die
einzig vernünftige Ar t ist, so zu leben: kopfüber, kopfunter, kopfüber,
kopfunter, kopfüber, kopfunter . . .«
Und fröhlich vor sich hin summend trudelte Mi ß Törtchen immer
rundum. Jane und Michael beobachteten sie entzückt und Mister Kuddelmuddel
erstaunt, denn er hatte Miß Törtchen nie anders als mürrisch und
unfreundlich kennengelernt.
»Höchst seltsam! Höchst seltsam!« bemerkte Mister Kuddelmuddel zu
sich selbst und schüttelte, obwohl er darauf stand, den Kopf.
Wieder klopfte es an der Tür.
»Wohnt hier jemand namens Kuddelmuddel?« erkundigte sich eine
Stimme. Auf der Schwelle stand der Postbote mi t einem Brief in der
Hand und blickte verdutzt auf das Bild, das sich ihm bot.
»Heiliger Strohsack!« bemerkte er und rückte seine Mütze ins Genick.
»Ich muß verkehr t gegangen sein. Ich suche einen vornehmen, ruhigen
Herrn namens Kuddelmuddel. Ich habe einen Brief für ihn. Außerdem
hab ich meiner Frau versprochen, früh zu Hause zu sein, und ich habe
mein Wort gebrochen und dachte . . .«
»Ha!« sagte Mister Kuddelmuddel vom Fußboden. »Ein gebrochenes
Versprechen ist etwas, was ich nicht reparieren kann. Tut mir leid!«
Der Briefträger blickte starr zu ihm hinunter.
»Träum ich oder nicht?« murmelte er. »Mir scheint, ich bin in eine
Gesellschaft von wirbelnden Verrückten geraten!«
»Geben Sie mir den Brief, lieber Herr Briefträger! Geben Sie Topsy
Törtchen den Brief und schlagen Sie Rad mi t mir. Mister Kuddelmuddel
ist beschäftigt, wie Sie sehen!«
Miß Törtchen trudelte auf den Briefträger zu und ergriff ihn bei den
Händen. Sowie sie ihn berührte, schlitterten seine Füße vom Fußboden
in die Luft. Und fort g i n g ' s ; der Briefträger und Miß Törtchen, Hand in
Hand, rollten herum wie zwei Fußbälle. »Wie herrlich ist das!« rief Miß
Törtchen glücklich. »Ach, lieber Herr Briefträger, wi r genießen unser
Leben zum erstenmal und auf die angenehmste Weise! Achtung, wir
kippen wieder! Ist das nicht wundervoll?«
»Jawohl!« jauchzten Jane und Michael und beteiligten sich an dem
wirbelnden Tanz des Briefträgers mi t Mi ß Törtchen.
Bald darauf schloß sich auch Mister Kuddelmuddel an, der sich seltsam
hüpfend und springend durch die Luft bewegte. Mary Poppins und ihr
Schirm folgten; höchst würdevoll drehten sie sich gleichmäßig und genau
um und um. Da waren sie nun alle dabei, sich drehend und radschlagend,
während die We l t um sie her Karussell fuhr und Mi ß Törtchens glückliche
Juchzer durchs Zimmer schallten.
»Vom Fuß bis zum Schopf,
Die Stadt steht kopf!«
sang sie hüpfend und springend.
Und oben auf den Regalen wirbelten die angeknacksten und zersprungenen
Herzen und drehten sich wie die Brummkreisel; die Schäferin
tanzte graziös mit ihrem Löwen, der graue Tuchelefant stand auf den
Vorderbeinen im Boot und schlug mi t den Hinterfüßen in die Luft, und
die Matrosenpuppe tanzte ihren Schottischen, nicht auf den Füßen, sondern
auf dem Kopf, der auf der Porzellanplatte immer wieder zierlich
aufschlug.
»Wie bin ich heute glücklich!« sang Jane, während sie durchs Zimmer
sauste.
»Und ich erst!« schrie Michael, der Saltos durch die Luft drehte.
Mister Kuddelmuddel wischte sich die Au g e n mi t dem Taschentuch,
als er vom Fenstersims abprallte.
Mary Poppins und ihr Schirm sagten gar nichts; sie segelten nur,
Kopf nach unten, ruhig rundum.
»Wie sind wi r alle glücklich!« sang Miß Törtchen.
Aber der Briefträger hatte inzwischen die Sprache wiedergefunden und
war nicht ihrer Meinung.
»Halt!« brüllte er, als er gerade wieder hintenüber kippte. »Hilfe!
Hilfe! Wo bin ich? We r bin ich? Wa s bin ich? Ich habe keine Ahnung!
Ich bin verloren! Hilfe!«
Aber keiner half ihm, und von Mi ß Törtchen festgehalten, wirbelte er
weiter.
»Immer ein ruhiges Leben geführt, das hab ich!« seufzte er. »Mich
wie ein anständiger Bürger benommen, das auch. Ach, was wird meine
Frau dazu sagen! Und wie komm ich nach Hause? Hilfe! Feuer! Diebe!«
Und mi t einer gewaltigen Anstrengung riß er seine Hand aus der von
Mi ß Törtchen. Er ließ den Brief fallen, rollte aus der Tür und die Treppe
hinunter, immer noch Hals über Kopf und laut schreiend:
»Ich werde Sie verklagen! Ich rufe die Pol izei ! Ich spreche mi t dem
Oberpostdirektor!«
Seine Stimme erstarb, je weiter er die Treppe hinabbumste.
»Ping ping ping ping ping ping!«
Die Uhr draußen auf dem Platz schlug sechs.
Im gleichen Augenblick stießen Janes und Michaels Füße mi t einem
Plumps auf den Fußboden; plötzlich standen sie wieder aufrecht, fühlten
sich aber noch etwas schwindlig.
Graziös landete Mary Poppins rechts von ihnen, so elegant und untadelig
anzusehen wie eine Schaufensterpuppe.
Der Schirm machte noch eine Umdrehung und blieb auf der Spitze
stehen. Mister Kuddelmuddel krabbelte, heftig strampelnd, auf die Füße.
Die Herzen oben auf den Regalen standen wieder still und stumm, und
auch die Schäferin und ihr Löwe bewegten sich nicht, sowenig wie der
graue Tuchelefant oder die Matrosenpuppe. Wenn man sie ansah, hätte
man niemals vermuten können, daß sie noch vor kurzem alle miteinander
auf dem Kopf herumgetanzt waren.
Nur Miß Törtchen kreiselte noch durchs Zimmer, kopfüber, kopfunter,
glücklich lachend und ihr Lied vor sich hin summend:
»Vom Fuß bis zum Schopf,
Die Stadt steht kopf!
Wa s soll das nur heute,
Ihr ulkigen Leute!«
»Miß Törtchen! Mi ß Törtchen!« rief Mister Kuddelmuddel und rannte,
ein seltsames Licht in den Augen, auf sie zu. Er hielt sie am A rm fest,
als sie vorbeiwirbelte, und ließ nicht eher los, als bis sie auf beiden
Füßen neben ihm stand.
»Wie sagten Sie, daß Sie heißen?« fragte Mister Kuddelmuddel, keuchend
vor Anstrengung.
Miß Törtchen wurde plötzlich rot. Scheu blickte sie ihn an.
»Ach, Törtchen, Topsy Törtchen!«
Mister Kuddelmuddel ergriff ihre Hand.
»Wollen Sie mich heiraten, Mi ß Törtchen, und Topsy Kuddelmuddel
werden? Es würde für mich so sehr viel bedeuten. Und mir scheint, Sie
sind so glücklich geworden, daß Sie vielleicht auch nachsichtig genug
sein werden, sich über meine zweiten Montage hinwegzusetzen.«
»Hinwegsetzen, Mister Kuddelmuddel? Ei, sie werden künftig mein
größtes Vergnügen sein!« sagte Miß Törtchen. »Ich habe heut die ganze
Welt kopfstehen sehen und dadurch einen neuen Blickpunkt gewonnen.
Ich versichere Ihnen, ich werde mich jeden Monat auf den zweiten Montag
freuen!«
Sie lachte schüchtern und reichte Mister Kuddelmuddel auch ihre andere
Hand. Und auch Mister Kuddelmuddel lachte, wie Jane und Michael
freudig feststellten.
»Es ist sechs Uhr vorbei, ich glaube, jetzt kann er wieder er selbst
sein«, wisperte Michael Jane zu.
Jane antwortete nicht. Sie beobachtete gerade die Maus. Die stand
nicht länger auf der Nase, sondern eilte, mi t einem großen Kuchenkrümel
in der Schnauze, zu ihrem Loch zurück.
Ma r y Poppins hob die große Porzellanschale auf und begann sie einzuwickeln.
»Hebt eure Taschentücher auf, bitte — und setzt euch den Hut gerade«,
sagte sie barsch.
»Und nun . . .«, sie ergriff ihren Schirm und schob die neue Handtasche
unter den Arm.
»Aber wi r gehen doch noch nicht, Mary Poppins?« fragte Michael.
»Wenn du gewöhnt bist, die ganze Nacht aufzubleiben, ich bin's
nicht«, bemerkte sie und drängte ihn zur Tür.
»Müßt ihr wirklich gehen?« sagte Mister Kuddelmuddel, doch wie es
schien, mehr aus Höflichkeit. Er hatte nur noch Augen für Miß Törtchen.
Aber Mi ß Törtchen kam auf sie zu, lächelnd und ihre Locken schüttelnd.
»Kommt wieder«, sagte sie und reichte jedem die Hand. »Tut es auch
wirklich! Mister Kuddelmuddel und i c h . . . « , sie schlug errötend die
Augen nieder, »wir werden an jedem zweiten Montag um die Teezeit
zu Hause sein, nicht wahr, Artur?«
»Nun«, sagte Mister Kuddelmuddel, »wir werden zu Hause sein, wenn
wi r nicht draußen sind — das ist mal sicher!« Und er lachte, und Jane
und Michael lachten auch.
Er und Mi ß Törtchen blieben oben auf der Treppe stehen und winkten
Mary Poppins und den Kindern ein Lebewohl nach. Miß Törtchen errötete