Aber als er aus der Haustür trat, drückte er die Schultern zurück, reckte
die Brust und steckte sich eine dicke Zigarre in den Mund. Und bald darauf
hörte man, wie er die Neuigkeit Admiral Boom erzählte; seine
Stimme klang dabei sehr laut und selbstgefällig, ja direkt prahlerisch.
Mary Poppins beugte sich über die neue Wiege zwischen Johns und
Barbaras Gitterbettchen und legte das Bündel achtsam hinein. »Da bist
du ja endlich! Bei allem, was einen Schnabel und Schwanzfedern hat,
. . . ich dachte schon, du kämst überhaupt nicht. Wa s ist es denn?« schrie
eine krächzende Stimme vom Fenster.
Mary Poppins blickte hoch.
Der Star, der oben auf dem Schornstein wohnte, hüpfte begeistert auf
dem Fenstersims.
»Ein Mädchen. Annabel«, sagte Mary Poppins kurz. »Und ich wäre
dir dankbar, wenn du etwas leiser sein wolltest. Quiekst und krächzt
hier herum wie 'ne getroffene Schießbudenfigur!«
Aber der Star hörte nicht zu. Er wirbelte auf dem Fenstersims herum
und klatschte jedesmal, wenn er mit dem Kopf wieder hochkam, wild
mit den Flügeln Beifall.
»Was für ein Spaß!« keuchte er, als er schließlich wieder aufrecht
stand. »Was für ein SPASS! Ach, ich könnte singen vor Vergnügen!«
»Das könntest du nicht. In alle Ewigkeit nicht«, höhnte Mary Poppins.
Aber der Star war viel zu glücklich, um sich zu ärgern.
»Ein Mädchen!« kreischte er und tanzte auf den Fußspitzen. »Ich habe
dreimal gebrütet in diesem Sommer, und — ob du's glaubst oder nicht —
jedesmal waren es nur Jungen. Aber Annabel wird mich dafür entschädigen.
«
Er hüpfte ein Stückchen den Sims entlang. »Annabel!« schmetterte er
wieder. »Das ist ein hübscher Name. Ich hatte eine Tante, die hieß
Annabel. Sie lebte auf Admiral Booms Schornstein, und das arme Ding
starb daran, daß sie grüne Äpfel und Birnen aß. Ich hatte sie gewarnt,
ich hatte sie gewarnt! Aber sie glaubte mir nicht. Und natürlich . . .«
»Willst du wohl still sein!« befahl Mary Poppins und schlug mi t der
Schürze nach ihm.
»Das w i l l ich nicht!« schrie er, geschickt ausweichend. »Es ist jetzt
keine Zeit zum Schweigen. Ich mach mich auf, um die Nachricht zu verkünden.
« Er witschte zum Fenster hinaus.
»Bin gleich wieder da!« rief er beim Davonfliegen über die Schulter
zurück.
Mary Poppins ging leise durchs Kinderzimmer und stapelte Annabels
neue Wäsche zu sauberen Bündeln auf.
Ein Sonnenstrahl schlüpfte durchs Fenster und kroch durchs Zimmer
bis zur Wiege hin.
»Mach die Augen auf!« sagte er sanft, »und ich streue einen Schimmer
hinein!«
Das Deckchen in der Wiege bewegte sich. Annabel schlug die Augen
auf.
»Braves Kind!« sagte der Sonnenstrahl. »Sie sind blau, wie ich sehe.
Meine Lieblingsfarbe! Da ! Du wirst nirgends ein Paar leuchtendere
Augen finden!«
Er glitt leicht von Annabels Augen weg und seitlich an der Wiege
herab.
»Schönen Dank!« sagte Annabel höflich.
Ein warmes Lüftchen ließ die Musselinvorhänge über ihrem Kopf flattern.
»Locken oder glattes Haar?« flüsterte es und ließ sich neben ihr in der
Wiege nieder.
»Ach, Locken, bitte!« sagte Annabel sanft.
»Macht weniger Umstände, was?« stimmte das Lüftchen zu. Und es
wehte über ihrem Kopf hin und her und drehte sorgfältig die flaumigen
Enden ihres Haars hoch, bevor es aus dem Zimmer flatterte.
»Da sind wir! Da sind wir!«
Eine schrille Stimme ertönte vom Fenster. Der Star war aufs Fenstersims
zurückgekehrt. Und hinter ihm landete mit unsicherem Flügelschlag
ein ganz junger Vogel.
Mary Poppins trat drohend auf sie zu.
»Macht, daß ihr fortkommt!« sagte sie böse. »Ich wi l l keine Spatzen
hier im Kinderzimmer herumlungern sehen . . .«
Aber der Star, mi t dem Jungen an der Seite, fegte hochnäsig an ihr
vorbei.
»Bedenke gefälligst, Mary Poppins«, sagte er eisig, »daß meine ganze
Familie sehr gut erzogen ist. >Herumlungern<, wa s für ein Ausdruck!«
Er landete elegant auf dem Wiegenrand und half dem Vogeljungen
neben ihm, das Gleichgewicht wiederzufinden. Der junge Vogel blickte
mit runden, forschenden Augen um sich. Der alte Star hüpfte zum Kissen
hin.
»Annabel, liebe«, begann er mit einer heiseren, schmeichlerischen
Stimme, »ich habe viel übrig für ein hübsches, knuspriges, krachendes
Stückchen Zwieback.« Seine Augen funkelten gierig. »Du hast wohl
nicht zufällig einen bei dir?«
Das lockige Köpfchen bewegte sich unruhig auf dem Kissen.
»Nein? Na, du bist vielleicht noch 'n bißchen jung für Zwieback.
Deine Schwester Barbara, das war ein nettes Mädchen, freigebig und
freundlich — dachte immer an mich. Wenn du dir also in Zukunft für
einen alten Knaben wie mich ein Krümchen oder zwei vom Munde absparen
. . .«
»Natürlich werde ich das«, sagte Annabel aus ihrer Decke heraus.
»Gutes Kind!« krächzte der Star beifällig. Er legte den Kopf auf eine
Seite und blickte sie mi t seinen runden, blanken Augen an. »Ich hoffe«,
bemerkte er höflich, »die Reise hat dich nicht allzusehr ermüdet.«
Annabel schüttelte den Kopf.
»Wo ist sie hergekommen — aus einem Ei?« piepste das Vogeljunge
plötzlich.
»Haha!« höhnte Mary Poppins. »Denkst du vielleicht, das ist ein
Star?«
Der Star warf ihr einen ebenso hochmütigen wie verletzten Blick zu.
»Na, was ist sie denn dann? Und wo kommt sie her?« schrillte das
Vogeljunge, flatterte mi t seinen kurzen Flügeln und starrte hinunter in
die Wiege.
»Erzähl du es ihm, Annabel!« krächzte der Star.
Annabel bewegte unter der Decke die Hände.
»Ich bin Erde und Luft und Feuer und Wasser!« sagte sie sanft. »Ich
komme aus dem Dunkel, worin alle Dinge ihren Anfang nehmen.«
»Ach, solch ein Dunkel!« sagte der Star milde und ließ den Kopf auf
die Brust sinken.
»Auch im Ei war es dunkel«, piepste das Vogeljunge.
»Ich komme von der See und ihren Gezeiten«, fuhr Annabel fort. »Ich
komme vom Himmel und seinen Sternen, ich komme von der Sonne und
ihrer H e l l i g k e i t . . .«
»Ach, und wie hell!« sagte der Star und nickte.
»Ich komme von den Wäldern der Erde.«
Wi e im Traum schaukelte Mary Poppins die Wiege — hin und her,
h i n und her — gleichmäßig und schwingend.
»Ja?« flüsterte das Vogeljunge.
»Zuerst bewegte ich mich langsam«, sagte Annabel, »immerfort schlafend
und träumend. Ich erinnerte mich an alles, was gewesen war, und
dachte an alles, was kommen sollte. Und als ich meinen Traum ausgeträumt
hatte, wachte ich auf.«
Sie hielt einen Augenblick inne, die blauen Augen voller Erinnerungen.
»Und dann?« wollte das Vogeljunge wissen.
»Ich hörte die Sterne singen und fühlte mich von warmen Schwingen
umhegt. Ich begegnete den Tieren der Wildnis und schritt durch tiefe
und dunkle Wasser. Es war eine lange Reise.«
Annabel schwieg.
Das Vogeljunge betrachtete sie mi t hellen, forschenden Augen.
Mary Poppins' Hand lag ruhig auf dem Rand der Wiege. Sie hatte mit
dem Schaukeln aufgehört.
»Eine lange Reise, wahrhaftig!« sagte der Star milde und hob den
Kopf von der Brust. »Und ach, wie bald vergessen!«
Annabel bewegte sich unruhig unter der Decke.
»Nein!« sagte sie zuversichtlich. »Ich werde es niemals vergessen.«
»Papperlapapp, bei allen Schnäbeln und Klauen! Natürlich wirst du
vergessen! Nach Ablauf einer Woche wirst du dich an nichts mehr erinnern
— weder an das, was du bist, noch woher du kamst!«
Unter ihrem Flanelltuch trat Annabel wütend um sich.
»Doch, doch! Wi e könnt ich je vergessen?«
»Weil es alle tun«, höhnte der Star gellend. »Jeder törichte Mensch,
nur sie nicht« — er deutete mi t einem Kopfnicken auf Mary Poppins —,
»sie ist anders, sie ist die Abweichung, die Ausnahme . . .«
»Du unverschämter Star!« schrie Mary Poppins und stürzte sich auf
ihn.
Doch mi t sprödem Gelächter scheuchte er sein Vogeljunges vom Wiegenrand
und hüpfte mi t ihm zum Fenstersims.
»Hasch mich, wenn du kannst!« sagte er unverschämt, als er an ihr
vorbeiwitschte. »Nanu, was ist denn das?«
Draußen auf dem Treppenabsatz waren Stimmen zu hören und auf
den Stufen ein Getrappel von Füßen.
»Ich glaube dir nicht! Ich will dir nicht glauben!« schrie Annabel wild.
Im gleichen Augenblick stürzten Jane und Michael und die Zwillinge
ins Zimmer.
»Mistreß Brill behauptet, du hättest uns etwas zu zeigen!« sagte Jane
und riß sich den Hut ab.
»Was ist es?« erkundigte sich Michael, im Zimmer umherblickend.
»Zeig's mir!« — »Mir auch!« quiekten die Zwillinge.
Mary Poppins blickte sie ärgerlich an. »Sind wir hier in einem anständigen
Kinderzimmer oder im Zoo?« fragte sie streng. »Antwortet, bitte!«
»Im Zoo — iii — ich meine —« Eilig brach Michael ab, denn er hatte
Mary Poppins' Blick aufgefangen. »Ich meine, im Kinderzimmer«, schloß
er lahm.
»Ach guck, Michael, guck!« schrie Jane aufgeregt. »Ich sagte euch ja,
daß etwas Wichtiges geschehen würde! Es ist ein neues Baby! Ach, Mary
Poppins, darf ich es einmal halten?«
Mary Poppins, mi t einem furchtbaren Blick auf sie alle, bückte sich,
hob Annabel aus der Wiege und setzte sich mi t ihr in den alten Armsessel.
»Vorsichtig, bitte, vorsichtig!« sagte sie warnend, als sie sich von allen
Seiten umdrängt sah. »Das ist ein Baby und kein Schlachtschiff!«
»Ein männliches?« fragte Michael.
»Nein, ein Mädchen — Annabel.«
Michael und Annabel starrten einander an. Er steckte seinen Finger in
ihre Hand, und sie umklammerte ihn fest.
»Meine Puppe!« sagte John und stieß gegen Mary Poppins' Knie.
»Mein Kaninchen!« sagte Barbara und zog an Annabels Wickeltuch.
»Ach!« seufzte Jane und berührte zaghaft das Haar, das der Wind gekräuselt
hatte. »Wie winzig und süß. Wi e ein Sternchen. Wo kommst du
denn her, Annabel?«
Sehr angenehm berührt von dieser Frage, begann Annabel, ihre Geschichte
v on vorn zu erzählen.
»Ich kam aus dem Dunkeln . . . « , wiederholte sie sanft.
Jane lachte. »Wa s für komische kleine Töne!« rief sie. »Ich wünschte,
sie könnte sprechen und uns erzählen.«
Annabel staunte.
»Aber ich erzähle euch ja«, protestierte sie, um sich schlagend.
»Haha!« kreischte der Star unverschämt vom Fenster her. »Was hab
ich gesagt? Verzeiht, daß ich lache!«
Das Vogeljunge kicherte hinter seinem Flügel.
»Vielleicht kommt sie aus einem Spielzeugladen«, meinte Michael.
Wütend stieß Annabel seinen Finger weg.
»Sei nicht töricht!« sagte Jane. »Doktor Simpson muß sie in seiner
kleinen braunen Tasche mitgebracht haben!«
»Hatte ich recht oder nicht?« Die alten, dunklen Starenaugen zwinkerten
Annabel zu.
»Sag mir das!« stichelte er und schlug triumphierend mi t den Flügeln.
Doch statt aller Antwort drehte Annabel ihr Gesicht nach Ma r y Poppins'
Schürze und weinte. Ihre ersten Schreie, dünn und einsam, klangen
durchdringend durch das Haus.
»Na, na!« sagte der Star mürrisch, »stell dich nicht an! Dagegen läßt
sich nichts machen. Du bist schließlich nur ein Menschenbaby. Aber das
nächste Ma l wirst du vielleicht Klügeren glauben! Älteren und Klügeren!
Älteren und Klügeren!« schrie er und hüpfte aufgeplustert umher.
»Michael, hol bitte meinen Staubwedel und fege diese Vögel vom
Fensterbrett!« sagte Mary Poppins bedeutsam.
Ein amüsiertes Gepiepse war die Antwort des Stars.
»Wir können uns selbst wegfegen, Ma r y Poppins, besten Dank! Wir
waren ohnehin grad dabei. Komm mit, Junge!«
Und mi t lautem Gekicher stieß er das Vogeljunge vom Fensterbrett
und flog mi t ihm davon.
In erstaunlich kurzer Zeit hatte sich Annabel im Kirschbaumweg eingelebt.
Sie genoß es, Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit zu
sein, und es gefiel ihr stets, wenn jemand sich über ihre Wiege beugte
und sagte, wie hübsch sie sei, wie gut oder wie wohlgeartet.
»Bewundert mich nur!« sagte sie lächelnd. »Das hab ich so gern!«
Und dann beeilte sich jeder, ihr zu erzählen, wie lockig ihr Haar war