glitt hinein.
»Ich möchte wissen, wie du dich aufgeführt hast, während ich weg
war«, bemerkte Mary Poppins streng. Dann nahm sie das Thermometer
heraus und hielt es ans Licht.
»Unachtsam, gedankenlos und liederlich!« las sie ab.
Jane erstarrte.
»Hm!« sagte Ma r y Poppins und steckte Michael das Thermometer in
den Mund. Er hielt es fest zwischen die Lippen geklemmt, bis sie es herauszog
und ablas:
»Ein sehr geräuschvoller, mutwilliger und unruhiger Junge.«
»Das bin ich nicht«, sagte er aufgebracht.
Statt aller Antwort hielt sie ihm das Thermometer unter die Nase, und
er entzifferte die großen roten Buchstaben.
»E—i—n s—e—h—r g—e—r !«
»Siehst du wohl?« sagte Mar y Poppins mit einem triumphierenden
Blick. Sie öffnete John das Mäulchen und steckte das Thermometer hinein.
»Launisch und leicht aufgeregt.« Das war Johns Temperatur.
Und als Barbara gemessen war, las Mar y Poppins folgende Worte ab:
»Durch und durch verwöhnt.«
»Hm«, schnaufte sie. »Höchste Zeit, daß ich zurückkam.«
Dann steckte sie es schnell in ihren eigenen Mund, beließ es dort einen
Augenblick und zog es heraus.
»Eine ausgezeichnete, höchst ehrenwerte Person, durchaus verläßlich
in jeder Beziehung.«
Ein erfreutes und geschmeicheltes Lächeln erhellte ihr Gesicht, als sie
ihre Temperatur laut vorlas.
»Das dachte ich mir«, sagte sie, von sich selbst überzeugt.
Es dauerte ihrem Gefühl nach kaum mehr als eine Minute, bis die Kinder
ihre Milch ausgetrunken und ihre Kokosnußplätzchen gegessen hatten,
bis sie danach gebadet und wieder abgetrocknet waren. Wi e üblich,
geschah alles, was Ma r y Poppins tat, mi t Blitzgeschwindigkeit. Haken
und Ösen lösten sich wie v on selbst, Knöpfe sprangen eifrig aus ihren
Löchern, Schwamm und Seife glitten auf und ab wie geölt, und Handtücher
trockneten ab ohne langes Rubbeln. Mary Poppins wanderte die
Reihe der Betten entlang und steckte alle unter die Decken. Ihre gestärkte
weiße Schürze knisterte, und sie roch höchst angenehm nach frisch geröstetem
Toast.
Al s sie an Michaels Bett kam, bückte sie sich und fuhrwerkte eine
Weile darunter herum. Dann zog sie vorsichtig ein Feldbett hervor, auf
dem ihre Habseligkeiten sorgfältig aufgestapelt lagen: das große Stück
Sunlichtseife, die Zahnbürste, das Paket Haarnadeln, die Parfümflasche,
der kleine, zusammenlegbare Armsessel, die Schachtel mi t Hustenpastillen.
Außerdem die sieben Flanellnachthemden, die vier baumwollenen,
die Stiefel, die Dominosteine, die beiden Bademützen und das Postkartenalbum.
Jane und Michael setzten sich auf und staunten.
»Woher kommt das alles denn her?« fragte Michael. »Ich bin mindestens
hundertmal unter mein Bett gekrochen, und ich weiß bestimmt, das
war vorher nicht da.«
Mary Poppins antwortete nicht. Sie hatte angefangen, sich auszuziehen.
Jane und Michael wechselten heimliche Blicke. Sie wußten, es hatte
keinen Zweck zu fragen, Ma r y Poppins erklärte nie etwas.
Sie nahm den gestärkten weißen Kragen ab und fingerte am Verschluß
einer Kette herum, die sie um den Hals trug.
»Was ist denn da drin?« erkundigte sich Michael und blickte auf ein
kleines goldenes Medaillon am Ende der Kette.
»Ein Bild.«
»Wessen Bild?«
»Das erfahrt ihr, wenn es an der Zei t ist — nicht eher«, versetzte sie
kurz.
»Wann ist es Zeit?«
»Wenn ich weggehe.«
Sie starrten sie mi t erschreckten Augen an.
»Aber, Mary Poppins«, schrie Jane, »du willst uns doch nicht wieder
verlassen, oder doch? Ach bitte, sag nein!«
Mary Poppins war f ihr einen Blick zu.
»Ein schönes Leben wäre das für mich«, bemerkte sie, »wenn ich all
meine Tage mit euch verbringen müßte!«
»Aber du bleibst, gelt?« setzte Jane ihr eifrig zu.
Mary Poppins ließ das Medaillon auf ihrer Handfläche tanzen.
»Ich bleibe, bis die Kette bricht«, erklärte sie kurz.
Und das Nachthemd über den Kopf streifend, begann sie, sich darunter
auszuziehen.
»Dann ist alles in Ordnung«, flüsterte Michael zu Jane hinüber. »Ich
hab gesehen, die Kette ist sehr stark!«
Er nickte ihr aufmunternd zu. Sie kuschelten sich in ihre Betten und
sahen zu, wie Ma r y Poppins geheimnisvoll unter dem Zelt ihres Nachthemdes
herumhantierte. Und sie dachten an den Abend ihrer ersten A n -
kunft im Kirschbaumweg und an all die seltsamen und wunderbaren
Abenteuer, die sich danach ereignet hatten; wie sie an ihrem Schirm davongeflogen
war, als der Wind umschlug; an die langen, trübseligen
Tage ohne sie und daran, wie sie heute nachmittag auf so wunderbare
Weise vom Himmel herabgestiegen war.
Plötzlich fiel Michael etwas ein. »Mein Drachen!« sagte er und setzte
sich im Bett auf. »Den habe ich ganz vergessen! Wo ist mein Drachen?«
Mary Poppins' Kopf tauchte über dem Halsausschnitt ihres Nachthemds
auf. »Drachen?« fragte sie unwirsch. »Welcher Drachen? Wa s für
ein Drachen?«
»Mein gelbgrüner Drachen mi t dem langen Schwanz. Der, mit dem du
heruntergekommen bist, am Ende der Schnur.«
Mary Poppins starrte ihn an. Er hätte nicht sagen können, ob sie mehr
erstaunt wa r oder mehr böse, aber sie sah aus, als wäre sie beides.
Und als sie sprach, wa r ihre Stimme noch fürchterlicher als ihr Blick.
»Hab ich recht gehört, du sagtest, daß . . .«, wiederholte sie die Worte
langsam zwischen den Zähnen — »daß ich von irgendwo herunterkam
und gar am Ende einer Schnur?«
»Aber so war's doch!« stotterte Michael. »Heute. Au s einer Wolke
heraus. Wi r haben dich gesehen.«
»Am Ende einer Schnur? Wi e ein Affe, oder wie ein Brummkreisel?
Ich, Michael Banks?«
In ihrer Wu t schien Ma r y Poppins zu doppelter Größe anzuwachsen.
Sie schwebte in ihrem Nachthemd drohend über ihm, großmächtig und
zornig, in Erwartung seiner Antwort.
Er zog hilfesuchend die Bettdecke über den Kopf.
»Sag ja nichts mehr, Michael!« wisperte Jane warnend aus ihrem Bett
herüber. Aber er war zu wei t gegangen, um noch einhalten zu können.
»Dann — wo ist dann mein Drachen?« sagte er vorwitzig. »Wenn du
nicht herabgeschwebt bist auf — auf die A r t , wie ich sagte —, wo ist dann
mein Drachen? Er war nicht mehr am Ende der Schnur.«
»Oho! Und ich war's, nehme ich an?« fragte sie mi t einem spöttischen
Lachen.
Jetzt sah er ein, daß es keinen Zweck hatte, weiter zu gehen. Er konnte
sich nicht deutlich genug ausdrücken. Also mußte er aufgeben.
»N . . . ein«, sagte er kleinlaut. »Nein, Mary Poppins.«
Sie drehte sich um und knipste das elektrische Licht aus.
»Eure Manieren«, bemerkte sie scharf, »sind auch nicht besser geworden,
seit ich wegging! Am Ende einer Schnur, so wa s ! Nie im Leben bin
ich so beleidigt worden. Niemals!«
Und mi t einer wütenden Armbewegung schlug sie ihre Bettdecke zurück,
plumpste ins Bett hinein und zog die Decke bis über die Ohren.
Michael lag ganz still, fest in seine Bettdecke gewickelt.
»Und sie hat's doch getan. Wi r haben's ja gesehen«, flüsterte er nach
einer kleinen Weile zu Jane hinüber.
Aber Jane antwortete nicht. Statt dessen deutete sie nach der Tür des
Kinderschlafzimmers.
Vorsichtig hob Michael den Kopf.
Hinter der Tür, an einem Haken, hing Mary Poppins' Mantel; die
silbernen Knöpfe schimmerten im Schein des Nachtlichts. Und aus der
Tasche hing eine Schnur mi t Papierschnitzeln, die Schnur eines gelbgrünen
Drachens.
Lange Zeit starrten sie unverwandt darauf hin.
Dann nickten sie sich zu. Sie wußten, es ließ sich nichts darüber sagen,
denn bei Mary Poppins gab es Dinge, die sie niemals verstehen würden.
Aber — sie war wieder da. Das war die Hauptsache. Ihr gleichmäßiger
Atem drang vom Feldbett zu ihnen herüber. Sie fühlten sich friedvoll
und glücklich und wohl aufgehoben.
»Ich hab nichts dagegen, Jane, wenn es einen purpurfarbenen Schwanz
bekommt«, flüsterte Michael dann.
»Nein, Michael!« sagte Jane. »Ich glaube wirklich, ein ziegelroter wäre
schöner.«
Danach wurde es still im Kinderzimmer, und nichts war mehr zu hören
als der ruhige At em der Schlafenden . . .
»P—p! P—p!« machte Mister Banks' Pfeife'.
»Klick, klick!« machten Mistreß Banks' Stricknadeln.
Mister Banks setzte seine Füße aufs Kamingitter in seinem Arbeitszimmer
und schnarchte ein bißchen.
Nach einem Weilchen sprach Mistreß Banks.
»Hast du immer noch vor, eine lange Seereise zu machen?« fragte sie.
»Hm, ich glaube nicht. Ich werde zu leicht seekrank. Und mein Hut ist
wieder ganz in Ordnung. Ich hab ihn vom Schuhputzer an der Ecke ganz
und gar überpolieren lassen, und jetzt sieht er wieder aus wie neu. Sogar
noch besser. Außerdem wird jetzt, wo Mary Poppins wieder da ist, mein
Rasierwasser nicht mehr zu heiß sein.«
Mistreß Banks lächelte vor sich hin und strickte weiter.
Sie war recht froh darüber, daß Mister Banks ein schlechter Seefahrer
und daß Mary Poppins wieder da war.
Unten in der Küche machte Mistreß Brill einen frischen Umschlag um
Ellens Knöchel.
»Ich hab nicht viel von ihr gehalten, als sie damals hier war!« sagte
Mistreß Brill. »Aber ich muß sagen, seit heute nachmittag ist dies hier
ein anderes Haus geworden. So ruhig wie ein Sonntagmorgen und so
sauber wie ein neues Nickelstück. Ich bin nicht traurig darüber, daß sie
wieder da ist.«
»Ich auch nicht, wahrhaftig!« meinte Ellen dankbar.
»Und ich ebensowenig«, sagte Robertson A y , der durch die Wa n d des
Besenschranks die Unterhaltung belauschte. »Jetzt werd ich wieder ein
bißchen mehr Ruhe haben.«
Er setzte sich auf dem umgestülpten Kohleneimer bequem zurecht und
fiel, den Kopf an eine Bürste gelehnt, wieder in Schlaf.
Wie Mary Poppins darüber dachte, das erfuhr jedoch keiner, denn sie
behielt ihre Gedanken für sich und erzählte keinem Menschen ein Wort.
2. Kapitel
Miß Andrews Lerche
Es war Sonntagnachmittag.
In der Diele des Kirschbaumweges Nummer siebzehn klopfte Mister
Banks eifrig am Barometer herum und teilte Mistreß Banks mit, welches
Wetter zu erwarten war. »Leichter Südwind; mittlere Temperatur; örtliche
Gewitter; leicht bewegte See«, sagte er. »Weitere Entwicklung ungewiß.
Hallo — wa s ist das?«
Er brach ab, denn über seinem Kopf ertönte ein bummsendes, wummsendes
und plumpsendes Geräusch.
An der Treppenbiegung tauchte Michael auf, der höchst übel gelaunt
und störrisch aussah, während er die Treppe herabpolterte. Hinter ihm,
in jedem A rm einen Z w i l l i n g , erschien Ma r y Poppins; sie stieß ihm das
Knie in den Rücken und beförderte ihn mi t einem scharfen Schubs von
einer Stufe zur nächsten. Jane folgte; sie trug die Hüte.
»Frisch begonnen, ist halb gewonnen. Hinunter mit dir, bitte«, sagte
Mary Poppins streng.
Mister Banks wandte sich v om Barometer ab und blickte hoch, als sie
auftauchten.
»Na, was ist denn los mi t euch?« erkundigte er sich.
»Ich will nicht Spazierengehen! Ich will mit meiner neuen Eisenbahn
spielen«, sagte Michael und schluchzte, als Ma r y Poppins' Knie ihn eine
Stufe tiefer beförderte.
»Unsinn, mein Herz!« sagte Mistreß Banks. »Natürlich willst du.
Spazierengehen macht lange und kräftige Beine.«
»Aber ich möchte lieber kurze Beine«, brummte Michael und stolperte
schwer die nächste Stufe hinunter.
»Als ich ein kleiner Junge war«, sagte Mister Banks, »war ich wild
aufs Spazierengehen. Ich ging mi t meiner Erzieherin jeden Ta g bis zum
zweiten Laternenpfosten und zurück. Und ich brummte nie!«
Michael blieb stehen und blickte zweifelnd auf Mister Banks.
»Warst du überhaupt mal ein kleiner Junge?« fragte er, höchst überrascht.
Mister Banks schien schwer verletzt.
»Natürlich war ich das. Ein süßer kleiner Junge mit langen blonden
Locken, kurzen Sammethosen und Knöpfstiefelchen.«
»Kaum zu glauben!« sagte Michael, der jetzt aus eigenem Antrieb die
Treppe heruntersprang, um Mister Banks aus der Nähe anzustaunen.