Betrachtung sagt einer zum andern: »Nein, so was — mein
Lieber!«
Das nächste Bild, an das Mary Poppins und der Streichholzmann
herantraten, war womöglich noch schöner. Es war eine
Landschaft — lauter Bäume und Rasen, ein Stückchen blaues Meer
und im Hintergrund etwas, das aussah wie der Badeort Margate.
»Mein Gott!« rief Mary Poppins bewundernd und bückte sich,
um alles noch besser zu sehen. »Aber, Bert, was ist denn?«
Der Streichholzmann hatte auch ihre andere Hand ergriffen
und sah ganz aufgeregt aus.
»Mary! Ich hab eine Idee! Wirklich eine Idee! Warum gehen
wir nicht hin — gleich jetzt —, gleich heute? Wir beide, hinein
in das Bild! Was meinst du, Mary?« Und ihre Hände noch immer
in den seinen, zog er sie von der Straße fort, weg von den eisernen
Geländern und Laternenpfählen, geradewegs in das Bild hinein.
Pfff! Da standen sie nun, mittendrin!
Wie grün es hier war und wie still, und wie weich war das
frische Gras unter ihren Füßen! Kaum war es zu fassen, und doch
streiften grüne Zweige raschelnd über ihre Köpfe, wenn sie unter
ihnen durchschlüpften, und kleine, bunte Blumen schmiegten sich
um ihre Schuhe. Sie staunten einander an, und jeder sah, daß
sich der andere verwandelt hatte. Mary Poppins schien es, als
habe sich der Streichholzmann einen neuen Anzug gekauft, denn
er trug jetzt einen hellen, grün und rot gestreiften Rock zu
weißen Flanellhosen und, das Schönste von allem, einen neuen
Strohhut. Er sah so ungewohnt sauber aus, wie frisch aufpoliert.
»Du siehst aber fein aus, Bert!« rief sie bewundernd.
Bert konnte nicht gleich antworten, denn er sperrte vor Staunen
Mund und Augen auf. Dann schluckte er und sagte: »Dunnerlittchen!
«
Das war alles. Aber wie er das sagte! Dabei staunte er sie an,
so unverwandt und entzückt, daß sie ihrer Tasche einen kleinen
Spiegel entnahm und sich darin betrachtete.
Ja, auch sie selbst, das sah sie nun, hatte sich verwandelt. Um
ihre Schultern hing ein herrlicher Mantel aus Kunstseide, über und
über zart gemustert, und das Kitzeln im Nacken rührte von einer
langen, gekräuselten Feder her, die, wie der Spiegel ihr zeigte,
vom Hutrand herabhing. Ihre Sonntagsschuhe waren verschwunden,
und an ihrer Stelle hatte sie andere an, noch schönere, mit
großen, blitzenden Diamantschnallen. Noch immer aber trug sie
die weißen Handschuhe und den Regenschirm.
»Du meine Güte!« rief Mary Poppins. »Das nenne ich einen
Ausgehtag!«
Sich gegenseitig bewundernd, wanderten sie zusammen durch
das Wäldchen, bis sie endlich zu einer sonnigen Lichtung kamen.
Dort stand auf einem grünen Tischchen der Nachmittagstee bereit.
In der Mitte war ein Berg von Himbeertörtchen aufgebaut, der
ihr bis an die Taille reichte. Daneben dampfte Tee in einer großen
Messingkanne. Und das Beste von allem waren zwei Teller mit
Schnecken und zwei Gabeln, um sie herauszupicken.
»Ich werd verrückt!« rief Mary Poppins. Das sagte sie immer,
wenn sie glücklich war.
»Dunnerlittchen!« sagte der Streichholzmann nur. Das sagte
er immer.
»Wollen Sie nicht Platz nehmen, meine Dame?« ertönte eine
Stimme.
Sie drehten sich um und sahen einen großen Mann im schwarzen
Frack, der, eine Serviette überm Arm, aus dem Wald trat.
Aufs höchste überrascht, setzte sich Mary Poppins mit einem
Plumps auf einen der kleinen, grünen Stühle, die um den Tisch
standen. Der Streichholzmann sank sprachlos auf einen anderen.
»Ich bin der Kellner, wenn Sie gestatten«, erklärte der Schwarzbefrackte.
»Ach! Aber auf dem Bild habe ich Sie nicht gesehen«, sagte
Mary Poppins.
»Ich stand nur hinter einem Baum«, erklärte der Kellner.
»Wollen Sie sich nicht setzen?« fragte Mary Poppins zuvorkommend.
»Kellner setzen sich nie, meine Dame«, entgegnete er, durch
die Frage geschmeichelt.
»Ihre Schnecken, mein Herr!« Und er schob dem Streichholzmann
die eine Platte zu. »Und hier Ihre Gabel.« Er wischte sie
mit der Serviette ab, bevor er sie auf den Tisch legte.
Nun machten sie sich an ihren Nachmittagstee. Der Kellner blieb
neben ihnen stehen, um zu sehen, ob sie auch alles hatten, was
sie brauchten.
»Wir kriegen sie also doch noch!« entfuhr es Mary Poppins
mit einem vernehmlichen Seufzer, als sie sich dem Berg von Himbeertörtchen
zuwandte.
»Dunnerlittchen!« bestätigte der Streichholzmann und nahm
sich die beiden größten Stücke.
»Tee?« fragte der Kellner und schenkte jedem eine große Tasse
voll ein.
Sie tranken Tee und ließen sich noch zweimal nachgießen, und
dann vertilgten sie hochbefriedigt die Himbeertörtchen. Bald danach
standen sie auf und fegten die Krümel vom Tisch.
»Nichts zu bezahlen!« sagte der Kellner, ehe sie noch Zeit
hatten, nach der Rechnung zu fragen. »Es war mir ein Vergnügen.
Das Karussell ist dort drüben!« Er deutete mit der Hand zu einer
kleinen Lichtung hinüber, wo sich, wie Mary Poppins und der
Streichholzmann jetzt sahen, ein paar Holzpferde auf einer Plattform
drehten.
»Wie komisch«, sagte sie, »ich kann mich nicht erinnern, sie auf
dem Bild gesehen zu haben.«
»Ach«, sagte der Streichholzmann, der sich auch nicht daran
erinnerte, »die waren im Hintergrund, verstehst du.«
Als sie auf das Karussell zutraten, verlangsamte es gerade die
Fahrt. Sie sprangen auf, Mary Poppins auf ein schwarzes Pferd
und der Streichholzmann auf ein graues. Und als die Musik
wieder begann und das Karussell sich in Bewegung setzte, ritten
sie den ganzen Weg nach Yarmouth und zurück, denn das war
der Ort, den sie am liebsten sehen wollten.
Als sie zurückkamen, war es fast dunkel, und der Kellner
hielt schon Ausschau nach ihnen. »Bedauere, meine Herrschaften«,
sagte er höflich, »aber wir schließen um sieben. Vorschrift, Sie
verstehen? Darf ich Ihnen den Ausgang zeigen?«
Sie bejahten, und er ging, seine Serviette schwenkend, vor ihnen
her durch den Wald.
»Ein wunderbares Bild hast du diesmal gemalt, Bert!« lobte
Mary Poppins, schob ihre Hand in den Arm des Streichholzmannes
und zog den Mantel fester um sich.
»Gott, Mary, man tut, was man kann!« sagte der Streichholzmann
bescheiden. Aber man sah, er war mit sich zufrieden.
In diesem Augenblick blieb der Kellner vor einem weißen Tor
stehen, das aussah, als bestünde es aus dicken Kreidebalken.
»Da sind wir«, sagte er. »Hier ist der Ausgang.«
»Leben Sie wohl, und recht schönen Dank«, sagte Mary Poppins
und gab ihm die Hand.
»Leben Sie wohl, Madam.« Der Kellner verbeugte sich tief.
Dann nickte er dem Streichholzmann zu, der den Kopf auf die
Seite legte und dem Kellner mit einem Auge zublinzelte, womit
er ihm auf seine Art Lebewohl sagte. Schließlich trat Mary Poppins
durch das weiße Tor, und der Streichholzmann folgte ihr.
Während sie weitergingen, fiel die Feder von ihrem Hut, der
seidene Mantel von ihren Schultern und die Diamantschnallen
von ihren Schuhen. Der neue Anzug des Streichholzmannes wurde
schäbig, und sein Strohhut verwandelte sich wieder in seine alte,
speckige Mütze.
Mary Poppins drehte sich nach ihm um und wußte sofort, was
geschehen war. Sie blieb stehen und blickte ihn an, eine kleine
Ewigkeit lang. Dann durchspähte ihr Blick den Wald nach dem
Kellner. Aber der Kellner war nirgends zu sehen. Kein Mensch
war in dem Bild, nichts bewegte sich darin. Sogar das Karussell
war verschwunden. Geblieben waren nur die stillen Bäume und
der Rasen und das regungslose Stückchen Meer.
Aber Mary Poppins und der Streichholzmann lächelten sich an.
Sie wußten, was hinter den Bäumen lag . . .
Als sie von ihrem Ausgang zurückkehrte, rannten ihr Jane und
Michael entgegen.
»Wo warst du?« fragten sie.
»Im Märchenland«, erklärte Mary Poppins.
»Hast du Aschenbrödel gesehen?« erkundigte sich Jane erwartungsvoll.
»Was? Aschenbrödel? Nichts für mich«, sagte Mary Poppins
geringschätzig. »Ausgerechnet Aschenbrödel!«
»Oder vielleicht Robinson Crusoe?« fragte Michael.
»Robinson Crusoe — Puh!« Mary Poppins rümpfte die Nase.
»Wie kannst du dann dort gewesen sein? Es war bestimmt
nicht unser Märchenland!«
Mary Poppins schnaufte verächtlich.
»Wißt ihr denn nicht, daß jeder sein eigenes Märchenland hat?«
fragte sie mitleidig.
Und hochmütig vor sich hinschnüffelnd, ging sie die Treppe
hinauf, um die weißen Handschuhe und den Schirm abzulegen.
3. Kapitel
Lachgas
»Bist du ganz sicher, daß er daheim ist?« fragte Jane, als sie
mit Michael und Mary Poppins aus dem Omnibus stieg.
»Hätte mein Onkel mich gebeten, euch zum Tee mitzubringen,
wenn er ausgehen wollte?« sagte Mary Poppins, die über diese
Frage sehr beleidigt schien. Sie trug ihren blauen Mantel mit
den Silberknöpfen und den dazu passenden blauen Hut, und wenn
sie so angezogen war, war es sehr leicht, sie zu beleidigen.
Alle drei waren auf dem Weg, Mister Schopf, Mary Poppins'
Onkel, einen Besuch abzustatten. Jane und Michael hatten sich
auf diesen Besuch so gefreut, daß sie halb und halb fürchteten,
Mister Schopf könnte am Ende doch nicht daheim sein.
»Warum heißt er eigentlich Mister Schopf? — Hat er denn
einen?« wollte Michael wissen, während er eifrig neben Mary
Poppins herlief.
»Er heißt Mister Schopf, weil das sein Name ist. Und er hat
keinen Schopf, sondern eine Glatze«, sagte Mary Poppins. »Und
wenn ihr noch mehr Fragen auf Lager habt, so kehren wir gleich
wieder um.«
Und sie zog verschnupft die Luft durch die Nase, wie immer,
wenn ihr etwas nicht paßte.
Jane und Michael zwinkerten sich heimlich zu. Das hieß: Wir
wollen sie nichts mehr fragen, sonst kommen wir nie hin.
Mary Poppins rückte vor dem Tabakladen an der Ecke den Hut
zurecht. Der Laden hatte eines jener merkwürdigen Fenster, in
denen du dich gleich dreimal siehst, und wenn du lange genug
hineinschaust, kommt es dir schließlich vor, als wärst du nicht
du selber, sondern ein Haufen fremder Leute. Mary Poppins
jedoch seufzte vor Vergnügen, als sie sich dreimal sah, jedesmal
im blauen Mantel mit Silberknöpfen und dem dazu passenden
Hut. Sie fand den Anblick reizend, sie hätte sich am liebsten ein
dutzendmal darin gesehen, wenn nicht gar dreißigmal. Je mehr
Mary Poppins, um so besser!
»Kommt weiter«, sagte sie streng, als hätten die beiden sie
warten lassen. Dann bogen sie um die Ecke und zogen an der
Glocke des Hauses Robertsonstraße Nummer drei. Jane und
Michael hörten einen fernen Widerhall und stellten sich vor, in
einer Minute — oder höchstens zwei — würden sie bei Mister
Schopf, dem Onkel von Mary Poppins, am Teetisch sitzen.
»Natürlich nur, wenn er da ist«, flüsterte Jane Michael zu.
Gleich darauf ging die Tür auf, und eine dünne, blasse Dame
erschien.
»Ist er da?« fragte Michael schnell.
»Ich wäre dir dankbar, wenn du das Reden mir überlassen
wolltest«, sagte Mary Poppins und warf ihm einen drohenden
Blick zu.
»Guten Tag, Mistreß Schopf«, grüßte Jane artig.
»Mistreß Schopf!« begehrte die dünne Dame auf, mit einer
Stimme, die noch dünner war als sie selbst. »Was fällt dir ein,
mich Mistreß Schopf zu nennen. Nee, danke schön! Ich bin nur
Miß Dattelpflaum und stolz darauf. Mistreß Schopf! So was!«
Sie schien sehr aufgebracht zu sein, und da dachten die Kinder,
Mister Schopf müsse ein recht seltsamer Herr sein, wenn Miß
Dattelpflaum solchen Wert darauf legte, nicht Mistreß Schopf
zu sein.
»Da hinauf, oben die erste Tür«, sagte Miß Dattelpflaum und
verzog sich rasch den Gang hinunter. »Mistreß Schopf — so was!«
schimpfte sie dabei mit ihrer hohen, dünnen Stimme vor sich
hin.
Jane und Michael folgten Mary Poppins die Treppe hinauf.
Oben klopfte sie an die Tür.
»Herein! Herein! Herzlich willkommen!« erklang drinnen eine
laute, fröhliche Stimme. Janes Herz klopfte stürmisch vor Aufregung.
Er ist da — bedeutete sie Michael mit einem Blick.