von einem Fuß auf den andern. Er fragte ungeduldig:
»Mary Poppins, gehen wir denn nie mehr nach Hause?«
Mary Poppins drehte sich um und betrachtete ihn mit sichtlichem
Widerwillen.
»Du wirst es erwarten können«, antwortete sie kurz und faltete
die Liste zusammen. Michael wünschte, er hätte nichts gesagt.
»Du kannst ja heim, wenn du willst«, sagte sie von oben herab.
»Wir gehen jetzt Pfefferkuchen kaufen.«
Michael zog ein langes Gesicht. Hätte er doch bloß den Mund
gehalten! Er hatte nicht geahnt, daß am Schluß der Liste Pfefferkuchen
standen.
»Dort ist dein Weg«, sagte Mary Poppins und zeigte in die
Richtung des Kirschbaumwegs. »Daß du mir nicht verlorengehst!«
fiel ihr noch nachträglich ein.
»Ach nein, Mary Poppins, bitte nein! So hab ich's nicht gemeint,
wirklich nicht. Ich — ach, Mary Poppins, bitte —«, jammerte
Michael.
»Nimm ihn doch mit«, bat Jane. »Ich will auch den Kinderwagen
schieben, wenn du ihn mitnimmst.«
Mary Poppins schnupfte auf. »Wäre es nicht Freitag, wärst
du im Handumdrehen zu Haus«, sagte sie geheimnisvoll zu
Michael, »wirklich im Handumdrehen.«
Sie setzte sich mit John und Barbara wieder in Bewegung. Jane
und Michael merkten, daß sie nachgegeben hatte und folgten ihr,
sich überlegend, was sie mit dem Handumdrehen gemeint hatte.
Auf einmal merkte Jane, daß sie in die falsche Richtung gingen.
»Mary Poppins, wolltest du nicht Pfefferkuchen kaufen? —
Das ist aber nicht der Weg zu Green, Brown und Johnsen, den
wir sonst immer gegangen sind —«, begann sie zaghaft, stockte
jedoch gleich wieder nach einem Blick auf Mary Poppins' Gesicht.
»Mache ich Einkäufe oder du?« fragte Mary Poppins.
»Du!« gab Jane kleinlaut zu.
»O wirklich? Meiner Ansicht nach geht der Weg so herum«,
sagte Mary Poppins und lachte spöttisch.
Sie gab dem Kinderwagen einen leichten Druck zur Seite und
bog um die Ecke. Dort hielt sie plötzlich an, und da Jane und
Michael hinter ihr dreintrotteten, mußten sie notgedrungen auch
stehenbleiben.
Sie standen vor dem seltsamsten Laden, den sie je gesehen
hatten. Er war sehr klein und sehr ärmlich. Verblaßte, bunte
Papierschleifen hingen in den Schaufenstern, deren Auslage aus
armseligen Bechern mit Halbgefrorenem, alten Lakritzenstangen
und gedörrten, hartgewordenen Apfelschnitten bestand. Zwischen
den Fenstern war ein schmaler, dunkler Eingang, und dort hinein
steuerte Mary Poppins den Kinderwagen. Jane und Michael folgten
ihr.
Drinnen im Laden konnten sie nur undeutlich den mit einer
Glasplatte bedeckten Ladentisch erkennen, der an den drei Wänden
entlanglief. Im Kasten unter der Glasplatte lag eine Unmenge
dunkler, knuspriger Pfefferkuchen, jeder einzelne mit einem
goldenen Stern verziert. Der ganze Laden schimmerte davon.
Jane und Michael schauten sich um, wer hier wohl bediente. Sie
waren verblüfft, als Mary Poppins laut rief:
»Fannie! Annie! Wo seid ihr denn?« Wie ein Echo hallte ihre
Stimme von den dunklen Wänden zurück.
Auf ihren Ruf kamen hinter dem Ladentisch zwei Gestalten
hervor, so riesig, wie Jane und Michael noch nie welche gesehen
hatten. Sie schüttelten Mary Poppins die Hand. Dann beugten
sich die Riesenfrauen über den Ladentisch vor und sagten mit einer
Stimme, die so großmächtig war wie sie selber »guten Tag«. Dabei
schüttelten sie auch Jane und Michael die Hand.
»Wie geht es Ihnen, Miß —?« Michael zögerte, weil er nicht
wußte, welche der beiden großen Damen er vor sich hatte.
»Ich heiße Fannie!« sagte die eine. »Mein Rheumatismus ist
immer noch schlimm, vielen Dank für die Nachfrage.« Sie sprach
so weinerlich, als sei sie eine liebenswürdige Behandlung gar nicht
gewohnt.
»Schönes Wetter heute«, begrüßte Jane artig die andere Schwester,
die mit mächtigem Händedruck Janes Hand festhielt.
»Ich bin Annie!« sagte sie in klagendem Ton. »Schön ist, wer
schön handelt.«
Jane und Michael fanden, daß sich beide Schwestern reichlich
sonderbar ausdrückten, aber es blieb ihnen nicht viel Zeit, sich
zu wundern, denn Miß Annie und Miß Fannie streckten jetzt ihre
langen Arme nach dem Kinderwagen aus. Jede schüttelte feierlich
einem der Zwillinge die Hand, die so erstaunt waren, daß sie zu
schreien anfingen.
»Aber, aber, aber! Was ist denn, was ist denn?« erklang eine
hohe, dünne, zitterige Stimme aus dem Ladenhintergrund. Bei
ihrem Klang wurden die traurigen Gesichter von Miß Annie und
Miß Fannie noch trauriger. Sie sahen ganz erschrocken und verschüchtert
aus, und Jane und Michael kam es so vor, als hätten
sich die beiden Riesenschwestern am liebsten ganz klein und unscheinbar
gemacht.
»Was muß ich hören?« rief die zitterige Stimme und kam näher.
Und plötzlich schob sich um die Ecke des Ladentischs eine alte
Dame, die so klein und piepsig war wie ihre Stimme und ebenso
zitterig. Den Kindern kam sie älter vor als alles in der Welt,
mit ihrem Haar, das aussah wie ein Flederwisch, ihren Stöckelbeinen
und ihrem verschrumpelten, winzigen Gesicht. Aber im
Gegensatz zu ihrem Aussehen lief sie so leicht und munter auf
sie zu wie ein junges Mädchen.
»Aber, aber, aber — ah, ich fange an, zu verstehen! Himmel,
wenn das nicht Mary Poppins ist mit John und Barbara Banks!
Jane und Michael sind auch dabei? Das nenne ich eine Ãœberraschung!
Ich kann euch sagen, seit Christoph Kolumbus Amerika
entdeckt hat, habe ich keine solche Überraschung mehr erlebt —
wirklich nicht!«
Sie lächelte verzückt, während sie mit kleinen, hüpfenden Schritten
zur Begrüßung näher kam. In ihren winzigen Zugstiefelchen
hüpfte sie zum Kinderwagen, schaukelte ihn sanft und fuhr mit
ihren dünnen, krummen, alten Fingern so lange vor Johns und
Barbaras Gesicht hin und her, bis sie mit dem Schreien aufhörten
und lachten.
»So ist's besser!« sagte sie und kicherte lustig. Dann tat sie
etwas höchst Seltsames. Sie brach sich zwei von ihren Fingern ab
und gab einen John und einen Barbara. Was aber das Erstaunlichste
war: in der Lücke wuchsen sofort zwei neue Finger nach.
Jane und Michael konnten es deutlich sehen.
»Nur Gerstenzucker — kann nicht schaden!« sagte die alte
Dame zu Mary Poppins.
»Alles, was Sie ihnen geben, Mistreß Corry, kann nur gut für
sie sein«, antwortete Mary Poppins mit ungewohnter Höflichkeit.
»Wie schade, daß es keine Pfefferminzstangen sind!« konnte
Michael nicht unterdrücken.
»Manchmal sind es welche«, sagte Mistreß Corry verschmitzt,
»und die schmecken auch sehr gut. Oft knabbere ich sie selber
auf, wenn ich nachts nicht schlafen kann. Besonders gut für die
Verdauung!«
»Woraus werden sie das nächstemal sein?« fragte Jane und besah
höchst aufmerksam Mistreß Corrys Finger.
»Das ist eben die Frage«, sagte Mistreß Corry. »Ich weiß es
nie vorher, woraus sie sein werden. >Ich laß es darauf ankommen,
Liebling<, so hörte ich Wilhelm den Eroberer zu seiner Mutter
sagen, als sie ihm abriet, England zu erobern.«
»Da müssen Sie aber schrecklich alt sein!« Jane seufzte vor
Neid. Sie konnte sich nicht vorstellen, daß sie sich je würde an
soviel erinnern können wie Mistreß Corry.
Die warf ihren kleinen Flederwischkopf zurück und gluckste
vor Lachen.
»Alt!« rief sie. »Im Vergleich zu meiner Großmutter bin ich
noch das reinste Küken. Sie ist wirklich eine alte Frau. Aber
ich habe auch schon eine Menge erlebt. Ich kann mich noch an
die Zeit erinnern, als diese Welt geschaffen wurde, damals war
ich schon aus den Kinderschuhen. Du meine Güte, war das ein
Durcheinander, das kann ich dir sagen!«
Sie brach ab und heftete ihre kleinen Augen auf die Kinder.
»Aber, lieber Gott — da steh ich und schwatze und ihr habt
noch nichts bekommen. Ich nehme an, meine Liebe —«, sie wandte
sich an Mary Poppins, die eine alte Bekannte zu sein schien, »ihr
seid wegen der Pfefferkuchen gekommen?«
»Erraten, Mistreß Corry«, antwortete Mary Poppins sehr höflich.
»Sehr gut! Haben euch Fannie und Annie noch keine gegeben?«
Bei dieser Frage sah sie Jane und Michael an.
Jane schüttelte den Kopf. Zwei schüchterne Stimmen kamen hinter
dem Ladentisch hervor:
»Nein, Mutter«, sagte Miß Fannie betreten.
»Wir waren dabei, Mutter«, flüsterte Miß Annie verschüchtert.
Mistreß Corry richtete sich auf, so hoch sie konnte, und betrachtete
ihre riesigen Töchter voll Zorn. Sie sagte leise, aber verärgert
und höhnisch:
»Eben dabei? Wirklich? Das ist ja höchst interessant. Und wer,
darf ich fragen, Annie, gab dir die Erlaubnis, m e i n e Pfefferkuchen
fortzugeben —?«
»Niemand, Mutter. Und ich hab sie auch nicht fortgegeben.
Ich dachte nur —«
»Du dachtest nur. Das ist sehr gütig von dir. Aber ich wäre
dir dankbar, wenn du es bleiben ließest. Was es hier zu denken
gibt, besorge ich!« erklärte Mistreß Corry mit ihrer leisen, schrecklichen
Stimme. Dann brach sie in ein grelles, gackerndes Gelächter
aus.
»Schaut sie an! Schaut sie nur an! Angsthase! Heulsuse!«
kreischte sie und zeigte mit ihrem knotigen Finger auf die Tochter.
Jane und Michael drehten sich um und sahen, wie eine große
Träne über Miß Annies trauriges Gesicht kullerte. Aber sie wagten
nichts zu sagen, denn so winzig Mistreß Corry war, sie fühlten
sich vor ihr verlegen und eingeschüchtert. Aber als Mistreß Corry
jetzt wegschaute, benutzte Jane die Gelegenheit, Miß Annie ihr
Taschentuch zuzustecken. Die riesengroße Träne durchnäßte es
ganz, und Miß Annie wand es mit einem dankbaren Blick auf
Jane aus, ehe sie es ihr zurückgab.
»Und du, Fannie — du hast wohl auch gedacht?« Die hohe,
dünne Stimme wandte sich nun an die andere Tochter.
»Nein, Mutter«, antwortete Miß Fannie bebend.
»Hm! Dein Glück. Mach den Kasten auf!«
Mit unsicheren, ungeschickten Fingern öffnete Miß Fannie den
Glaskasten.
»So, Kinderchen«, sagte nun Mistreß Corry mit völlig veränderter
Stimme. Sie lächelte liebevoll und nickte Jane und Michael
zu. Nun schämten sich beide, weil sie sich vor ihr gefürchtet hatten,
und begriffen, daß sie trotz allem sehr nett war.
»Wollt ihr nicht herkommen und euch etwas aussuchen, meine
Lämmchen? Es ist ein besonderes Rezept — eins, das ich von
Alfred dem Großen bekommen habe. Das war ein guter Koch, wie
ich mich erinnere, obwohl er einmal die Kuchen hat anbrennen
lassen. Wieviel wollt ihr?«
Jane und Michael blickten fragend auf Mary Poppins.
»Jeder vier«, bestimmte sie, »das macht zwölf — ein Dutzend.«
»Ich will daraus ein Bäckerdutzend machen — nehmt dreizehn!«
forderte Miß Corry sie freundlich auf.
So wählten also Jane und Michael dreizehn Pfefferkuchen aus,
auf jedem war ein vergoldeter Papierstern. Michael konnte nicht
widerstehen, eine Ecke anzuknabbern.
»Gut?« piepste Mistreß Corry, und als er nickte, nahm sie ihre
Röcke auf und machte aus purem Vergnügen ein paar schottische
Tanzschritte.
»Hurra, hurra, das ist wunderbar — hurra!« rief sie mit ihrer
schrillen, dünnen Stimme. Dann hielt sie an, und ihr Gesicht wurde
wieder ernst.
»Aber versteht mich recht — ich kann sie nicht herschenken.
Ihr müßt sie bezahlen. Jeder von euch einen Dreier.«
Mary Poppins öffnete ihre Börse und nahm drei Dreipennystücke
heraus. Sie gab Jane und Michael je einen Dreier.
»So«, sagte Mistreß Corry, »steckt sie an meine Jacke! Dahin
kommen sie alle.«
Sie besahen sich ihre schwarze, lange Jacke sehr genau. Und
tatsächlich, sie war so dicht mit Pennies besetzt wie die Jacke
einer Hökerin mit Perlmutterknöpfen.
»Kommt nur! Steckt sie an!« sagte Mistreß Corry noch einmal
und rieb sich die Hände. »Ihr werdet sehen, sie fallen nicht ab.«
Mary Poppins machte einen Schritt vorwärts und drückte ihren
Dreier an den Kragen von Mistreß Corrys Jacke.
Zur großen Überraschung Janes und Michaels blieb er hängen.
Dann setzten die beiden ihre Dreier auf die Jacke — Jane auf