es nicht. . . wußten es nicht.
»Ich hatte heute nacht einen seltsamen Traum!« sagte Jane beim
Frühstück, während sie Zucker über ihren Haferbrei streute. »Mir
träumte, wir waren im Zoo, und Mary Poppins hatte Geburtstag,
statt der Tiere steckten Menschen in den Käfigen, und die Tiere
selbst waren alle f r e i . . . «
»Was? Das ist m e i n Traum! Das hab ich geträumt!« rief
Michael und sah ganz erstaunt aus.
»Wir können nicht beide dasselbe geträumt haben!« sagte Jane.
»Weißt du's bestimmt? Erinnerst du dich noch an den Löwen, der
seine Mähne hatte dauerwellen lassen, an den Seehund, der wollte,
daß wir . . . «
»Nach Orangenschalen tauchen?« unterbrach Michael. »Natürlich
erinnere ich mich! Und an die kleinen Kinder im Käfig, und
an die Schlange . . . «
»Dann kann es kein Traum gewesen sein!« sagte Jane. »Es muß
w a h r gewesen sein. Und wenn es das w a r . . . « Sie blickte
fragend auf Mary Poppins, die gerade die Milch abkochte und
fragte: »Mary Poppins, können Michael und ich dasselbe geträumt
haben?«
»Ihr und eure Träume!« sagte Mary Poppins. »Iß lieber deinen
Haferbrei, oder du bekommst keinen Toast mit Butter!«
Aber Jane wollte sich nicht abweisen lassen. Sie mußte es wissen.
»Mary Poppins«, sagte sie und blickte sie eindringlich an, »warst
du gestern nacht im Zoo?«
Mary Poppins sperrte vor Verblüffung den Mund auf.
»Im Zoo? Ich im Zoo — bei Nacht?! Ich? Eine ruhige, ordentliche
Person, die weiß, was sich schickt und was nicht —?«
»Du warst also wirklich nicht dort?« bestand Jane auf der
Antwort.
»Gewiß nicht. Was für ein Einfall! Ich wäre dir dankbar, wenn
du jetzt deinen Haferbrei essen und keinen Unsinn mehr reden
wolltest.«
Jane goß sich Milch ein.
»Dann muß es also doch ein Traum gewesen sein.«
Aber Michael starrte offenen Mundes auf Mary Poppins, die
jetzt über der Flamme Brot röstete.
»Jane«, wisperte er mit überkippender Stimme, »Jane, sieh
doch!« Er streckte den Finger aus, und nun sah auch Jane, was
er anstarrte.
Um ihre Taille trug Mary Poppins einen Gürtel aus goldener,
geschuppter Schlangenhaut, und auf ihm stand in runder, geschlängelter
Schrift:
»Ein Geschenk vom Zoo!«
1 1 . Kapitel
Weihnachtseinkäufe
»Es riecht nach Schnee!« sagte Jane, als sie aus dem Omnibus
stiegen.
»Ich rieche Christbaumduft!« sagte Mary Poppins.
Dann blieb keine Zeit mehr, noch irgend etwas zu riechen,
denn der Bus hielt vor dem größten Kaufhaus der Welt, wo sie
hinwollten, um ihre Weihnachtseinkäufe zu machen.
»Dürfen wir nicht erst die Schaufenster ansehen?« fragte
Michael und hüpfte aufgeregt von einem Fuß auf den andern.
»Ich habe nichts dagegen«, sagte Mary Poppins mit überraschender
Milde. Jane und Michael waren von soviel Güte nicht etwa
überrascht. Sie wußten ja, für Mary Poppins gab es nichts
Schöneres auf der Welt, als in Schaufenster zu gucken. Sie wußten
auch, daß Mary Poppins nichts anderes sah als ihr eigenes
Spiegelbild, während sie selbst Spielsachen und Bücher, Stechpalmenzweige
und Rosinenkuchen entdeckten.
»Schau! Flugzeuge!« rief Michael vor einem Fenster, in dem
Flugzeuge an Drähten durch die Luft schnurrten.
»Und dort!« rief Jane, »zwei winzige, schwarze Babys in einer
Wiege — sind die nun aus Schokolade oder aus Porzellan?«
»Schau du nur dich an!« sagte Mary Poppins und stellte vor
allem fest, wie hübsch im Schaufensterspiegel ihre neuen Handschuhe
mit den Pelzstulpen aussahen. Sie besaß zum erstenmal
solche Handschuhe und meinte, sie würde nie müde werden, sie
zu bewundern.
Nachdem sie ihren Handschuhen gebührenden Beifall gezollt
hatte, prüfte sie aufmerksam ihre ganze Gestalt — samt Mantel,
Hut, Schal und Schuhen — und fand, sie hatte kaum je etwas so
Flottes und Vornehmes gesehen. Aber die Winternachmittage
waren kurz, und sie mußten zum Tee daheim sein. So riß sie sich
mit einem Seufzer von ihrem prächtigen Spiegelbild los.
»Gehn wir hinein!« sagte sie. Und dann ärgerte sie Jane und
Michael, weil sie sich so lange in der Kurzwarenecke aufhielt
und ewig Zeit brauchte, um eine Rolle schwarzes Nähgarn zu erstehen.
»Zur Spielzeugabteilung geht's hier!« erinnerte sie Michael.
»Danke, ich weiß. Du solltest nicht immer mit der Hand zeigen!
« sagte sie und bezahlte ihre Rechnung mit aufreizender Langsamkeit.
Aber endlich kamen sie zum Weihnachtsmann, der sich die
größte Mühe gab, ihnen beim Aussuchen der Geschenke zu helfen.
»Das ist etwas für Pappi!« rief Michael und deutete auf eine
aufziehbare Eisenbahn mit verschiedenen Signalen. »Wenn er in
der Stadt ist, kann ich darauf aufpassen!«
»Ich denke, ich nehme das hier für Mutti!« sagte Jane und
schob einen kleinen Puppenwagen hin und her. Sie war ganz
sicher, daß sich Mutter den schon immer gewünscht hatte. »Vielleicht
leiht sie ihn mir manchmal.«
Dann wählte Michael noch je ein Päckchen Haarnadeln für die
Zwillinge, einen Metallbaukasten für seine Mutter, einen Käfer
zum Aufziehen für Robertson Ay, eine Brille für Ellen, deren
Augen freilich ganz in Ordnung waren, und einige Paar Schnürsenkel
für Mistreß Brill, die stets Pantoffeln trug.
Jane entschied nach einigem Zögern, daß ein weißes Vorhemd
für Mister Banks wohl das Richtige sei. Für die Zwillinge kaufte
sie Robinson Crusoe, sie sollten ihn lesen, wenn sie größer
waren.
»Bis sie dazu alt genug sind, kann ich es ja lesen«, meinte sie.
»Ich glaube bestimmt, sie leihen es mir gern.«
Mary Poppins verhandelte mit dem Weihnachtsmann des längeren
über ein Stück Seife.
»Warum nehmen Sie nicht >PalmoliveMouson< vor!« erklärte sie hochnäsig und kaufte
gleich eine Packung.
»Lieber Himmel!« sagte sie dann und strich den Pelz an ihrem
rechten Handschuh glatt. »Jetzt würde ich riesig gern eine Tasse
Tee trinken.«
»Würdest du's auch zwergig gern tun?« erkundigte sich Michael.
»Das ist kein Anlaß zu dummen Spaßen!« sagte Mary Poppins
in einem Ton, daß sogar Michael es einsah.
»Es wird auch Zeit, daß wir heimgehen.«
Da! Nun hatte sie's gesagt! Und sie hatten doch so gehofft, sie
würde es noch nicht sagen.
»Nur noch fünf Minuten«, bettelte Jane.
»Bitte, bitte, Mary Poppins! Du siehst so reizend aus mit deinen
neuen Handschuhen!« sagte Michael listig.
Aber obwohl Mary Poppins das sehr gern hörte, ließ sie sich
nicht erweichen.
»Nein!« Sie klappte hörbar den Mund zu und ging ohne Zögern
zur Tür.
»Oje!« seufzte Michael, »wenn sie doch nur einmal >ja<
sagen wollte!« Und er folgte ihr, ächzend unter der Last seiner
Pakete.
Aber Mary Poppins eilte weiter, und sie mußten mit. Der Weihnachtsmann
winkte ihnen nach, die Feenkönigin auf dem Christbaum
und all die andern Puppen lächelten betrübt, als wollten
sie sagen: »Nimmt mich denn niemand mit nach Hause?« Und die
Flugzeuge schlugen mit den Flügeln und baten mit vogelähnlicher
Stimme: »Laßt mich fliegen! Oh, laßt mich fliegen!«
Jane und Michael liefen davon, taub gegen alle die betörenden
Stimmen. Sie konnten nicht verstehen, warum ihnen in der Spielzeugabteilung
die Zeit so schrecklich rasch vergangen war.
Aber als sie zum Ausgang gelangten, geschah das Unerwartete.
Sie wollten sich gerade durch die Drehtüre schieben, als sie
auf der Straße die flimmernde Gestalt eines Kindes dahinrennen
sahen.
»Schau doch!« sagten Jane und Michael wie aus einem Munde.
»Du meine Güte! Lieber Himmel!« rief Mary Poppins und blieb
stehen.
Das war kein Wunder, denn das Kind hatte kaum etwas an, nur
ein leichtes Fähnchen aus lichtblauem Stoff, das so aussah, als habe
das Kind es vom Himmel gerissen und rasch übergeworfen.
Jane und Michael merkten gleich, daß das Kind nicht viel von
Drehtüren verstand. Es lief immer rundum, konnte nicht schnell
genug gehen und lachte lustig, weil es sich gefangen sah und
immer im Kreis laufen mußte. Doch plötzlich befreite es sich
mit einer leichten, schnellen Bewegung, sprang heraus und stand
mitten zwischen den Auslagen.
Auf den Fußspitzen blieb es stehen, wandte den Kopf hierhin
und dorthin, so, als suche es jemand. Endlich entdeckte es voller
Freude Jane, Michael und Mary Poppins, die halb versteckt
hinter einem riesigen Tannenbaum standen. Vergnügt lief es auf
sie zu.
»Ach, da seid ihr! Wie lieb, daß ihr gewartet habt! Ich fürchte,
ich komme ein bißchen spät!« Das Kind streckte Jane und Michael
seine schimmernden Ärmchen entgegen. »Nun?« — es legte den
Kopf auf die Seite. »Seid ihr nicht froh, daß ich da bin? Sagt
ja! Sagt doch ja!«
»Ja!« sagte Jane und lächelte. Sie fand, man konnte nur froh
sein, wenn jemand so strahlend und glücklich war. »Wer bist du
denn?« fragte sie neugierig.
»Wie heißt du?« erkundigte sich auch Michael und staunte das
Kind an.
»Wer ich bin? Wie ich heiße? Ihr wollt doch nicht etwa behaupten,
daß ihr mich nicht kennt? Besinnt euch doch...« Das
Kind schien ein wenig erstaunt und enttäuscht. Es wandte sich
plötzlich zu Mary Poppins und berührte sie leicht mit den
Fingern.
»Sie kennt mich! Nicht wahr? Ich weiß bestimmt, daß du mich
kennst!«
Auf Mary Poppins' Gesicht lag ein seltsamer Ausdruck. Jane
und Michael entdeckten in ihren Augen ein blaues Licht. Es
war, als spiegelte sich in ihnen das leuchtende Kleidchen des
Kindes.
»Fängt es — fängt es mit einem >M< an?« flüsterte sie.
Das Kind tanzte vor Freude.
»Natürlich mit einem >M< — und du weißt es. MAJA! Ich bin
Maja!« Sie wandte sich wieder an Jane und Michael.
»Jetzt erkennt ihr mich aber, gelt? Ich bin die zweite in den
Plejaden. Elektra — das ist die Älteste — konnte nicht kommen,
weil sie Merope hüten muß. Merope ist das Baby, und wir andern
fünf dazwischen — lauter Mädchen. Unsere Mutter war zuerst
sehr enttäuscht, daß sie keinen Jungen bekam, aber jetzt macht sie
sich nichts mehr daraus.«
Das Kind tanzte ein paar Schritte und sprudelte dann wieder
mit heller, aufgeregter Stimme hervor:
»Oh, Jane! Oh, Michael — ich habe euch oft vom Himmel aus
zugeschaut, und nun kann ich wirklich mit euch sprechen! Ich
weiß alles von euch! Michael läßt sich nicht gern die Haare
bürsten, und Jane hat in der Marmeladenbüchse auf dem Kaminsims
ein Drosselei stehen. Und euer Vater bekommt schon eine
Glatze. Ich habe ihn so gern. Er hat uns zuerst miteinander bekannt
gemacht — wißt ihr noch? Letzten Sommer sagte er eines
Abends:
>Seht, das dort sind die Plejaden! Sieben Sterne im ganzen,
die kleinsten am Himmel. Aber einen von ihnen könnt ihr nicht
sehen.< Er meinte natürlich Merope. Sie ist noch zu klein, um
jede Nacht aufzustehn. Sie ist noch so ein Baby, daß sie sehr
früh zu Bett muß. Manche da oben nennen uns die kleinen Schwestern,
und manchmal werden wir die sieben Täubchen genannt.
Aber Orion sagt immer >Ihr Mädchen< und nimmt uns mit auf die
Jagd.«
»Aber was machst du hier?« fragte Michael noch immer sehr
erstaunt.
Maja lachte. »Frag Mary Poppins! Sie weiß es bestimmt.«
»Sag's uns, Mary Poppins!« bat Jane.
»Nun, ich nehme an, ihr beide seid nicht die einzigen in der
Welt, die zu Weihnachten einkaufen w o l l e n . . . « , sagte Mary
Poppins barsch.
»Das stimmt«, jubelte Maja entzückt. »Sie hat recht. Ich bin
beauftragt, für uns Schwestern Spielzeug zu kaufen. Wir können
nicht allzuoft fort, wißt ihr, wir sind viel zu sehr damit beschäftigt,
den Frühlingsregen zu erzeugen und aufzuspeichern. Das
ist nämlich die Aufgabe der Plejaden. Wir haben's unter uns ausgelost,
und ich hab gewonnen. War das nicht ein Glück?«
Das Sternenkind rieb sich die Hände vor Freude.
»So, jetzt kommt. Ich hab nicht viel Zeit. Und ihr müßt mitkommen