sich ihre Augen daran, und sie sahen, daß sie im Schlangenhaus
standen. Alle Käfige waren offen und die Schlangen herausgekrochen
— die einen lagen zu großen, schuppigen Klumpen zusammengerollt,
andere wiederum glitten lautlos über den Boden.
Und mitten unter den Schlangen saß auf einem Klotz, den man
anscheinend aus einem Käfig geholt hatte, Mary Poppins. Jane
und Michael trauten kaum ihren Augen.
»Geburtstagsgäste, Madam!« meldete der Bär respektvoll.
Die Schlangen wandten neugierig ihre Köpfe nach den Kindern.
Mary Poppins rührte sich nicht. Aber sie sprach!
»Darf ich fragen, wo du deinen Mantel gelassen hast?« sagte
sie und sah Michael verdrießlich, aber keineswegs überrascht an.
»Und du deinen Hut und die Handschuhe?« fuhr sie bissig auf
Jane los. Aber ehe eines von ihnen antworten konnte, ging eine
Bewegung durchs Schlangenhaus!
»Hsssst! Hsssst!«
Mit leisem Zischeln richteten sich die Schlangen auf und verneigten
sich vor jemand hinter Janes und Michaels Rücken. Der
Braunbär nahm seine Schirmkappe ab. Und langsam stand auch
Mary Poppins auf.
»Mein liebes Kind! Mein sehr geliebtes Kind!« sprach eine
leise, zart zischelnde Stimme. Und aus dem größten Käfig kroch
mit langsamen, weich schlängelnden Bewegungen eine Brillenschlange.
Sie glitt in anmutigen Bogen an den sich verneigenden
Schlangen und an dem Braunbären vorbei auf Mary Poppins zu.
Und als sie sie erreicht hatte, richtete sie ihren langen, goldenen
Leib auf, blähte ihre goldene, schuppige Haut und küßte sie zärtlich
erst auf die eine, dann auf die andere Wange.
»So!« zischelte sie sanft. »Das ist eine Freude — wirklich eine
große Freude. Es ist lange her, seit dein Geburtstag auf einen
Vollmond fiel, meine Liebe.« Sie wandte den Kopf. »Setzt euch,
Freunde!« sagte sie, gnädig den Kopf neigend, zu den anderen
Schlangen, die bei dieser Aufforderung wieder zu Boden sanken,
sich zusammenringelten und ihre Blicke unverwandt auf die
Brillenschlange und Mary Poppins hefteten.
Die Schlange wandte sich nun Jane und Michael zu. Mit leisem
Schauder erkannten die beiden, daß sie noch nie in ein so winziges
und verwittertes Antlitz geblickt hatten wie in dieses
hier. Sie traten einen Schritt näher, angezogen von den tiefen,
seltsamen Schlangenaugen. Lang und schmal waren sie, umschleiert
vom Ausdruck einer geheimnisvollen Schläfrigkeit, auf deren
Hintergrund zuweilen ein wachsames Licht aufblitzte wie ein
Edelstein.
»Und wer ist das, wenn ich fragen darf?« erkundigte sich die
Schlange mit ihrer weichen, erregenden Stimme und sah die Kinder
fragend an.
»Miß Jane Banks und Master Michael Banks, wenn Sie erlauben!
« erwiderte der Braunbär heiser, als sei er ein wenig besorgt.
» I h r e Freunde!«
»Ah, i h r e Freunde. Dann sind sie willkommen. Setzt euch,
bitte, meine Lieben!«
Jane und Michael, die das Gefühl hatten, vor einer Königin
zu stehen — bei dem Löwen hatten sie dieses Gefühl nicht gehabt
—, lösten ihre Augen nur schwer aus dem zwingenden Blick
und sahen sich um, wo sie sich setzen könnten. Der Braunbär
half ihnen aus der Verlegenheit. Er hockte sich nieder und bot
jedem Kind ein pelziges Knie.
Jane sagte flüsternd: »Sie spricht, als sei sie eine große Herrscherin!
«
»Das ist sie auch! Sie ist die Herrscherin unserer Welt — die
Klügste und Furchtbarste von uns allen!« sagte der Braunbär
leise und voller Ehrfurcht.
Die Schlange lächelt ein leichtes, lässiges, geheimnisvolles Lächeln
und wandte sich dann an Mary Poppins.
»Kusine!« begann sie, leise zischelnd.
»Ist sie wirklich ihre Kusine?« raunte Michael.
»Kusine ersten Grades — von der Mutter Seite«, gab der Bär,
hinter seiner Tatze hervor flüsternd, Auskunft. »Aber gebt acht,
gleich wird sie das Geburtstagsgeschenk überreichen.«
»Kusine«, wiederholte die Brillenschlange. »Es ist lange her,
seit dein Geburtstag auf einen Vollmond fiel, und lange, seit uns
erlaubt war, das Ereignis so zu feiern wie heute nacht. Ich habe
daher Zeit gehabt, über dein Geburtstagsgeschenk nachzudenken.
Und ich bin zu der Einsicht gelangt...«, sie hielt inne, und kein
anderer Laut war im Schlangenhaus zu hören als der angehaltene
Atem vieler Geschöpfe, »daß ich dir nichts Besseres schenken kann
als eine von meinen eigenen Häuten.«
»Das ist wirklich lieb von d i r . . . « , begann Mary Poppins, doch
die Schlange gebot durch Aufblähen ihrer Haube Schweigen.
»Durchaus nicht, durchaus nicht. Du weißt, daß ich meine Haut
von Zeit zu Zeit wechsle, und daß eine mehr oder weniger mir
nicht viel bedeutet. Bin ich nicht...?« Sie machte eine Pause und
blickte sich um.
» . . . die Herrin des Dschungels«, zischelten alle Schlangen im
Chor, als seien Frage und Antwort Teil einer wohlbekannten
Zeremonie.
Die Schlange nickte. »Nun«, fuhr sie fort, »was für mich paßt,
paßt auch für dich! Die Gabe ist nicht groß, liebe Mary, aber
sie mag dir für einen Gürtel oder ein Paar Schuhe dienen, sogar
für ein Hutband — solche Sachen sind immer zu gebrauchen,
wie du weißt!«
Bei diesen Worten begann sie sich sacht hin und her zu wiegen,
und Jane und Michael, die ihr zusahen, schien es, als liefen kleine
Wellen über ihren Körper vom Schwanz bis zum Kopf. Plötzlich
machte sie eine lange, drehende, ruckartige Bewegung — da lag
ihre goldene Haut auf dem Boden, und sie trug statt dessen eine
neue aus glitzerndem Silber.
»Warte!« sagte die Schlange, als Mary Poppins sich bückte, um
die Haut aufzuheben. »Ich will eine Widmung daraufschreiben.«
Und sie strich mit ihrem Schwanz über die abgeworfene Haut,
wand die goldene Hülle geschickt zu einem Ring, steckte den
Kopf hindurch, daß sie wie eine Krone aussah, und überreichte
sie anmutig Mary Poppins. Diese nahm sie mit einer Verbeugung
entgegen.
»Ich weiß gar nicht, wie ich dir danken soll. . .«, begann sie und
stockte. Sie war sichtlich hocherfreut, denn sie drehte die Haut in
der Hand hin und her und betrachtete sie bewundernd.
»Laß nur!« wehrte die Schlange ab. »Hsssst!« machte sie und
spreizte ihre Haube, als lausche sie mit ihr. »Hör ich da nicht
das Signal für die große Kette?«
Alle horchten auf. Eine Glocke läutete, und es ertönte eine tiefe,
rauhe Stimme, die immer näher kam und rief:
»Zur großen Kette! Herbei! Herbei! Aufstellen zur großen
Kette!«
»Das dachte ich mir!« sagte die Schlange lächelnd. »Du mußt
gehen, meine Liebe. Sicher warten sie schon darauf, daß du deinen
Platz auf der Wiese einnimmst. Leb wohl bis zu deinem nächsten
Geburtstag!« Und wie zuvor richtete sie sich auf und küßte Mary
Poppins leicht auf beide Wangen.
»Laß dich bitte nicht aufhalten!« sagte sie. »Auf deine jungen
Freunde werde ich aufpassen.«
Jane und Michael spürten, daß sich der Braunbär unter ihnen
rührte, und standen auf. An ihren Füßen fühlten sie die Schlangen
entlanggleiten, die jetzt, sich drehend und windend, aus dem
Schlangenhaus fortstrebten.
Auch Mary Poppins stand auf, verneigte sich feierlich vor der
Brillenschlange und lief, ohne den Kindern auch nur einen Blick
zu schenken, auf das große Viereck mitten im Zoo zu.
»Du kannst auch gehen«, sagte die Brillenschlange zum Braunbären,
der, die Mütze in der Hand, eine demütige Verbeugung
machte und lostrabte, dorthin, wo alle anderen Tiere sich um
Mary Poppins scharten.
»Wollt ihr mit mir kommen?« fragte die Brillenschlange Jane
und Michael freundlich. Und ohne eine Antwort abzuwarten, glitt
sie zwischen die beiden und wies sie mit einem Blähen ihrer Haube
an, neben ihr zu gehen.
»Es hat angefangen!« sagte sie und zischelte vergnügt.
Das laute Geschrei, das jetzt vom Rasenplatz herüberklang,
verriet den Kindern, daß sie die große Kette meinte. Im Näherkommen
hörten sie die Tiere singen und rufen, und dann sahen
sie, wie sich Leoparden und Löwen, Biber, Kamele, Bären, Kraniche,
Antilopen und viele andere um Mary Poppins im Kreis aufstellten.
Dann setzte der Kreis sich langsam in Bewegung. Die
Tiere sangen laut ihre Urwaldlieder, hüpften im Reigen hin und
her und reichten einander, wie bei der großen Kette im Lancier,
im Vorbeitanzen abwechselnd Hände und Flügel.
Eine kleine, piepende Stimme hob sich hell aus den übrigen:
»Oh, Mary, Mary,
Was Bess'res gab's nie,
Gab's nie und nie und nimmermehr!«
Und sie sahen den Pinguin herantanzen, der mit seinen kurzen
Flügeln wedelte und begeistert aus vollem Halse sang. Auch er
sah die Kinder, verbeugte sich vor der Schlange und rief:
»Es ist mir gelungen — habt ihr mein Lied gehört? Natürlich
ist es noch nicht vollkommen, >gab's nie< reimt sich nicht genau
auf Mary. Aber es geht, es geht!« und er hüpfte davon, um
einem Leoparden seinen Flügel anzubieten.
Jane und Michael sahen dem Reigen zu, die Schlange blieb
schweigend und unbeweglich zwischen ihnen. Als ihr Freund, der
Löwe, beim Vorübertanzen sich bückte, um den Flügel eines
brasilianischen Fasans in seine Pranke zu nehmen, versuchte Jane
scheu, ihrer Verwunderung Ausdruck zu geben.
»Ich dachte, sehr verehrte...«, begann sie und zögerte verwirrt,
ungewiß, ob sie sprechen dürfe oder nicht.
»Sprich, mein Kind. Was dachtest du?«
»Nun — daß Löwen und Vögel, und Tiger und kleine Tiere . . . «
Die Schlange half ihr. »Du dachtest, sie seien von Natur Feinde,
und der Löwe könne keinem Vogel begegnen, ohne ihn zu fressen.
Und der Tiger keinem Hasen — nicht?«
Jane wurde rot und nickte.
»Da magst du recht haben. So etwas gibt es. Aber nicht am
Geburtstag! Heut nacht sind die Kleinen sicher vor den Großen,
und die Großen beschützen die Kleinen. Selbst ich —«, die Schlange
hielt inne, um, wie es schien, tief nachzudenken. »Selbst ich kann
bei dieser besonderen Gelegenheit einer Ringelgans begegnen,
ohne Appetit zu verspüren. Und wenn man's richtig überlegt«,
fuhr sie fort und züngelte beim Sprechen mit ihrer schrecklichen,
gespaltenen, kleinen Zunge, »so ist Fressen und Gefressenwerden
vielleicht dasselbe. Erfahrung lehrte mich, daß es wahrscheinlich
so ist. Wir sind alle aus dem gleichen Stoff gemacht, vergiß es
nicht, wir aus dem Dschungel und ihr aus der Stadt. Wir bestehen
aus dem gleichen Stoff — der Baum über uns, der Stein neben uns,
der Vogel, das Tier, der Stern — wir alle sind eins und gehen
demselben Ende entgegen. Denke daran, mein Kind, auch wenn
du mich längst vergessen hast!«
»Aber wie kann ein Baum gleich einem Stein sein? Ein Vogel
ist nicht wie ich. Jane ist kein Tiger!« sagte Michael beherzt.
»Meinst du?« fragte die zischelnde Stimme der Schlange. »Schau
hin!« Und sie wies mit dem Kopf auf die hüpfenden Tiere.
Die Vögel und alle anderen Tiere schwenkten nun ein, und die
Kette zog sich um Mary Poppins zusammen, die sich leicht hin
und her wiegte. Sich öffnend und wieder schließend bewegte sich
die schwingende Kette, vor und zurück, wie ein Uhrpendel. Selbst
die Bäume bogen und hoben sich sanft, und der Mond schien am
Himmel zu schaukeln wie ein Schiff auf dem Meer.
»Vogel und Tier, Stein und Stern — wir alle sind eins, alle
eins .. .«, murmelte die Schlange und glättete sanft ihre Haube,
während sie selbst zwischen den Kindern hin und her schwang.
»Kind und Schlange, Stern und Stein — alles eins.«
Die zischelnde Stimme wurde leiser, das Geschrei der tanzenden
Tiere ließ nach und verstummte. Während Jane und Michael zuhörten,
war ihnen, als schaukelten sie selber leise . . .
Ein weicher, gedämpfter Lichtschimmer fiel auf ihr Gesicht.
»Schlafen und träumen — beides zugleich«, sagte eine flüsternde
Stimme. War es die Stimme der Schlange? Oder die ihrer Mutter,
die sie zudeckte bei ihrem gewohnten nächtlichen Besuch im
Kinderzimmer?
»Gut!« War das des Braunbären verdrießliche Stimme oder die
Mister Banks'?
Jane und Michael, weiter schaukelnd und schwingend, wußten