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Mary Poppins



TRAVERS • MARY POPPINS

P. L. TRAVERS
MARY POPPINS
BUCHGEMEINSCHAFTS-AUSGABE
Titel des Originals: Mary Poppins
Berechtigte Ãœbertragung aus dem Amerikanischen von Elisabeth Kessel
Illustrationen von Emanuela Delignon
Lizenzausgabe mit Genehmigung des Cecilie Dressler Verlages, Berlin
für die Buchgemeinschaft Donauland, Wien,
die Reinhard Mohn OHG, Gütersloh, BERTELSMANN
und den Europäischen Buch- und Phonoklub, Stuttgart
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere die der Dramatisierung,
Verfilmung, Funkübertragung und des Vortrages
© Copyright 1943 by P. L. Travers
Schutzumschlag und Einband: Emanuela Delignon
Druck: Wiener Verlag, Wien
»Wißt ihr denn nicht,
daß jeder sein eigenes Märchenland hat?«

Inhaltsverzeichnis
Ostwind Mary hat Ausgang Lachgas Miß Larks Andy Die tanzende Kuh Ein schlimmer Dienstag Die Vogelfrau Mistreß Corry Die Geschichte von Barbara und John Vollmond Weihnachtseinkäufe Westwind 
1. Kapitel
Ostwind
Wenn du den Kirschbaumweg suchst, so brauchst du nur den
Schutzmann an der Straßenkreuzung zu fragen. Er wird seinen
Helm ein bißchen beiseite rücken, sich nachdenklich am Kopf
kratzen, dann seinen dicken, weißbehandschuhten Finger ausstrecken
und sagen:
»Erst rechts, dann zweite Querstraße links, dann wieder scharf
rechts und du bist da. Guten Morgen.«
Und richtig, wenn du genau seiner Beschreibung folgst, dann
b i s t du da. Ein Schritt noch — und du stehst mitten auf dem
Kirschbaumweg.
Auf der einen Seite ziehen sich die Häuser entlang, auf der
anderen der Park, und dazwischen, in der Mitte, tanzen die
Kirschbäume auf dich zu.
Wenn du Nummer 17 suchst — und höchstwahrscheinlich tust
du das gerade, denn unsere ganze Geschichte spielt sich dort ab —,
so ist das Haus leicht zu finden.
Zunächst einmal ist es das kleinste Haus in der ganzen Straße.
Außerdem ist es das einzige, das etwas verwittert aussieht und
neu gestrichen werden müßte. Aber Mister Banks, dem es gehört,
erklärte einmal Mistreß Banks, entweder könne sie ein hübsches,
sauberes, behagliches Haus haben oder vier Kinder. Aber auf
keinen Fall beides zugleich, das könne er sich wirklich nicht
leisten.
Und Mistreß Banks überlegte sich die Sache ein Weilchen, mit
dem Ergebnis, daß sie doch lieber Jane haben wollte, ihre Älteste,
und Michael, ihren zweiten, und John und Barbara, die Zwillinge,
die zuletzt ankamen. Damit war der Fall erledigt, und
Familie Banks lebte also in Nummer 17, betreut von Mistreß
Brill, die für sie kochte, von Ellen, die den Tisch deckte, und
Robertson Ay, der den Rasen schnitt, Messer und Schuhe putzte
und »seine Zeit und mein Geld« vergeudete, wie Mister Banks
immer sagte.
Natürlich war auch Katie Nanna da, das Kindermädchen, die
es allerdings nicht verdient, in unserem Buch erwähnt zu werden,
denn zu der Zeit, von der hier die Rede ist, hatte sie Nummer
siebzehn schon verlassen.
»Ohne Kündigung von deiner oder ihrer Seite«, sagte Mistreß
Banks. »Und was mache ich jetzt?«
»Eine Anzeige aufgeben, meine Liebe«, sagte Mister Banks,
während er sich die Schuhe anzog. »Ich wünschte nur, Robertson
Ay liefe auch ohne Kündigung davon! Er hat wieder nur einen
Schuh geputzt und den anderen vergessen. Ich komme mir geradezu
windschief vor.«
»Das ist doch ganz egal«, erwiderte Mistreß Banks. »Sag mir
lieber, was ich Katies wegen tun soll.«
»Ich weiß nicht, was sich jetzt noch tun ließe, nachdem sie
einmal fort ist«, entgegnete Mister Banks. »Aber ich an deiner
Stelle — ich, hm, ich — nun, ich würde eine Anzeige in die
>Morgenpost< setzen, aus der hervorgeht, daß Jane und Michael
und John und Barbara Banks (ganz zu schweigen von ihrer Mutter)
zu einem möglichst niedrigen Lohn die allerbeste Kinderfrau
suchen, und zwar sofort. Dann würde ich abwarten und zusehen,
wie die Kindermädchen vor der Gartentür Schlange stehen, und
mich darüber aufregen, weil sie den Verkehr behindern und ich
dem Schutzmann zur Beruhigung einen Shilling geben muß. Aber
jetzt muß ich weg. Hu! Es ist ja so kalt hier wie am Nordpol!
Aus welcher Richtung weht denn der Wind?«
Mit diesen Worten steckte Mister Banks den Kopf zum Fenster
hinaus und blickte die Straße hinunter nach dem Haus von Admiral
Boom an der Ecke. Es war das eindrucksvollste Haus in der
Straße, und die Straße war mächtig stolz darauf, denn es war
genau gebaut wie ein Schiff. Im Garten stand ein Flaggenmast
und auf dem Dach war eine vergoldete Wetterfahne in Gestalt
eines Fernrohrs.
»Ha!« sagte Mister Banks und zog überraschend schnell den
Kopf ein. »Das Admiralsfernrohr verkündet Ostwind. Dachte
ich mir's doch. Mir sitzt die Kälte jetzt schon in allen Gliedern.
Ich werde heute zwei Mäntel anziehen.« Zerstreut küßte er seine
Frau links auf die Nase, winkte noch den Kindern zu und fuhr
in die Stadt.
Nun, in die Stadt fuhr Mister Banks jeden Tag — außer natürlich
am Sonntag und an den Bankfeiertagen —, und dort saß er
dann in einem großen Stuhl vor einem großen Schreibtisch. Den
ganzen Tag arbeitete er und verdiente Pennies und Shillings,
halbe Kronen und Drei-Penny-Stücke. Abends brachte er sie dann
in seiner kleinen, schwarzen Mappe nach Haus. Manchmal schenkte
er Jane und Michael etwas für ihre Sparbüchsen, und wenn er
einmal nichts übrig hatte, sagte er: »Die Bank ist pleite!« Dann
wußten sie, daß er an diesem Tag nicht viel Geld verdient
hatte.
Mister Banks ging also mit seiner schwarzen Mappe fort, und
Mistreß Banks ging ins Wohnzimmer, wo sie den ganzen Tag saß
und Briefe an die Zeitungen schrieb mit der Bitte, ihr umgehend
ein paar Kindermädchen zu schicken, auf die sie schon schmerzlich
warte.
Und oben im Kinderzimmer schauten Jane und Michael zum
Fenster hinaus, gespannt, wer wohl kommen werde. Sie freuten
sich, daß Katie fort war, denn sie hatten sie nie recht gemocht.
Sie war alt und dick gewesen und roch immer nach Gerstenschleim.
Alles würde besser sein als Katie, so dachten sie — vielleicht sogar
viel besser.
Als die Dämmerung sich hinter dem Park niedersenkte, kamen
Mistreß Brill und Ellen, brachten das Abendbrot und badeten
die Zwillinge.
Nach dem Essen setzten sich Jane und Michael wieder ans
Fenster, warteten auf Mister Banks und horchten auf den Ostwind,
der durch die nackten Zweige der Kirschbäume blies. Die
Bäume bogen und drehten sich und sahen im Zwielicht aus wie
verhext, so, als wollten sie tanzend und wirbelnd ihre Wurzeln
aus der Erde drehen.
»Da kommt er!« rief Michael und deutete auf eine schattenhafte
Gestalt, die laut ans Gartentor pochte. Jane spähte in die
sinkende Dämmerung.
»Das ist nicht Pappi«, sagte sie, »das ist jemand anderer.«
Die schattenhafte Gestalt, vom Wind hin und her geworfen,
klinkte das Gartentor auf, und sie sahen, daß es eine Frau war,
die mit einer Hand ihren Hut festhielt und in der anderen eine
Reisetasche trug.
Jane und Michael beobachteten sie und bemerkten plötzlich
etwas sehr Seltsames. Kaum war die Gestalt in den Garten getreten,
so schien der Wind sie in die Luft zu heben und auf das
Haus zuzublasen. Es war, als hätte der Wind sie ans Gartentor
geweht, dann gewartet, bis sie es geöffnet hatte, um sie dann
hochzuheben und mitsamt der Tasche und allem übrigen vor
die Haustür zu schleudern. Die Kinder hörten einen furchtbaren
Bums. Das ganze Haus zitterte, als die Gestalt vor der Tür
landete.
»Sonderbar! So etwas hab ich noch nie gesehen!« sagte Michael
aufgeregt.
»Komm nachsehen, wer es ist«, rief Jane, packte Michael am
Arm und zog ihn vom Fenster weg, zum Kinderzimmer hinaus,
bis auf den Treppenabsatz. Von hier aus ließ sich gut übersehen,
was unten in der Diele vorging.
Gleich darauf sahen sie ihre Mutter mit einem Besuch aus dem
Wohnzimmer kommen. Wie Jane und Michael feststellten, hatte
der Besuch lackschwarzes Haar — »wie eine holländische Holzpuppe
« flüsterte Jane —, eine hagere Gestalt, große Füße und
Hände und kleine, scharfe, blaue Augen.
»Sie werden sehen, es sind recht liebe Kinder«, sagte Mistreß
Banks gerade.
Michael puffte Jane in die Seite.
»Sie werden Ihnen gar keine Mühe machen«, fuhr Mistreß
Banks etwas unsicher fort, so, als glaubte sie selbst nicht recht an
das, was sie sagte. Die Kinder hörten die Besucherin lachen, als
ob auch sie nicht daran glaubte.

»Und was Ihre Zeugnisse betrifft. . .«, begann Mistreß Banks
wieder.
»Oh, ich lege grundsätzlich keine Zeugnisse vor«, sagte die
andere bestimmt.
Mistreß Banks machte große Augen.
»Ich dachte, es sei üblich«, sagte sie, »ich meine nur, soviel ich
weiß, tun das alle Leute.«
»Ich persönlich finde es altmodisch!« hörten Jane und Michael
die fremde Stimme sagen. »Wirklich, sehr altmodisch! Völlig unmodern,
das werden Sie zugeben!«
Wenn Mistreß Banks etwas nicht leiden konnte, dann war es
der Gedanke, für altmodisch zu gelten. Das konnte sie einfach
nicht ertragen.
Daher sagte sie rasch: »Einverstanden! Wir wollen uns lieber
nicht damit aufhalten. Ich fragte auch nur für den Fall, daß
Sie — hm — Wert darauf legen sollten. Das Kinderzimmer ist
oben . . .«
Ununterbrochen weiterredend ging sie voraus zur Treppe. Daher
merkte sie auch nicht, was hinter ihr vorging. Aber Jane und
Michael, die oben auf der Lauer lagen, sahen genau, was die Besucherin
jetzt Erstaunliches tat.
Natürlich folgte sie Mistreß Banks die Treppe hinauf, doch
nicht auf die übliche Art. Mit der großen Tasche in der Hand
rutschte sie anmutig das Treppengeländer hinauf und kam mit
Mistreß Banks zugleich oben an.
So etwas hatte es noch nie gegeben, das wußten Jane und
Michael genau. Hinunter, natürlich, waren sie selbst schon oft
gerutscht. Aber hinauf — nie! Neugierig starrten sie auf den seltsamen
Gast.
»Schön, dann wäre also alles klar.« Ein Seufzer der Erleichterung
entfuhr Mistreß Banks.
»Gewiß. Solange es mir hier gefällt«, sagte die Fremde und
wischte sich die Nase mit einem großen, rot-weißen Taschentuch.
»Nanu, Kinder«, sagte Mistreß Banks, als sie die beiden plötzlich
bemerkte, »was macht ihr denn hier? Das ist euer neues
Kindermädchen, Mary Poppins! Jane, Michael, sagt guten Tag!
Und das hier« — sie deutete mit der Hand auf die Babys in ihren
Bettchen — »sind unsere Zwillinge.«
Mary Poppins betrachtete sie gründlich und blickte von einem
zum andern, als überlege sie sich, ob sie ihr gefielen oder
nicht.
»Wird's gehn mit uns beiden?« fragte Michael.
»Michael, sei nicht frech«, sagte seine Mutter.
Noch immer sah Mary Poppins die vier Kinder prüfend an.
Dann holte sie laut und tief Atem, wohl um anzuzeigen, daß ihr
Entschluß gefaßt sei, und sagte:
»Ich nehme die Stellung an.«
»Sie benahm sich«, sagte Mistreß Banks später zu ihrem Mann,
»als täte sie uns Gott weiß welche Ehre an.«
»Vielleicht hat sie recht«, erwiderte Mister Banks und streckte
seine Nase hinter der Zeitung vor. Doch zog er sie schnell wieder
zurück.
Als die Mutter gegangen war, umdrängten Jane und Michael
Mary Poppins, die dastand, steif wie ein Laternenpfahl, die
Hände vor der Brust gefaltet.
»Wie bist du hergekommen?« fragte Jane. »Es sah aus, als
bliese dich der Wind vor sich her.«
»So war's!« bestätigte Mary Poppins kurz.
Und dann wickelte sie sich den Schal vom Hals und nahm den
Hut ab, den sie an einen Bettpfosten hängte. Da es nicht den Anschein
hatte, als wollte Mary Poppins mehr sagen — obwohl sie
mehrmals laut die Luft durch die Nase zog —, blieb auch Jane
still.
Aber als sie sich bückte, um ihre Reisetasche aufzuschnallen,
konnte Michael nicht mehr länger an sich halten. »Was für eine
komische Tasche das ist«, sagte er und befühlte sie mit den
Fingern.
»Teppich«, sagte Mary Poppins und steckte den Schlüssel ins
Schloß.
»Um Teppiche drin zu tragen, meinst du wohl?«
»Nein. Daraus gemacht.«
»Aha«, sagte Michael. »Ich verstehe.« Aber so ganz verstand
er es nicht.
Als die Tasche endlich offen war, entdeckten Jane und Michael
zu ihrer größten Überraschung, daß sie gar nichts enthielt.
»Aber da ist ja nichts drin!« sagte Jane.
»Wieso — nichts? Wieso nichts?« fragte Mary Poppins. Sie
richtete sich auf und sah aus, als sei sie tief beleidigt worden.
»Nichts drin, sagst du?«
Gleichzeitig zog sie aus der scheinbar leeren Tasche eine gestärkte,
weiße Schürze hervor und band sie um. Dann brachte
sie ein großes Stück Sunlichtseife zum Vorschein, eine Zahnbürste,
ein Päckchen Haarnadeln, eine Flasche Lavendelwasser, einen
kleinen, zusammenklappbaren Lehnstuhl und eine Schachtel Hustenbonbons.
Jane und Michael blieb die Luft weg.
»Aber ich hab's doch gesehen«, flüsterte Michael. »Sie war
leer.«
»Pst«, machte Jane, worauf Mary Poppins eine große Flasche
herausnahm. Auf dem Etikett stand: »Einen Teelöffel voll vor
dem Zubettgehen einzunehmen!« Am Flaschenhals hing ein Teelöffel,
in den Mary Poppins jetzt eine dunkelrote Flüssigkeit
goß.
»Ist das deine Medizin?« erkundigte sich Michael und sah sehr
interessiert aus.
»Nein, eure!« antwortete Mary Poppins und hielt ihm den
Löffel hin. Michael stutzte. Er rümpfte die Nase. Dann begann er
sich zu wehren.
»Ich mag nicht. Ich brauch das nicht. Ich will nicht!«
Doch Mary Poppins blickte ihm fest ins Auge, und Michael
merkte auf einmal, daß man Mary Poppins nicht ansehen konnte,
ohne ihr zu gehorchen. Sie hatte etwas an sich, etwas Sonderbares
und Ungewöhnliches — etwas Beängstigendes und zugleich höchst
Aufregendes. Der Löffel kam näher. Michael hielt den Atem an,
machte die Augen zu und den Mund auf. Er fuhr mit der Zunge
im Mund herum, schluckte, und auf seinem Gesicht breitete sich
ein glückliches Lächeln aus.
»Erdbeereis!« sagte er verzückt. »Mehr, mehr, mehr!«
Aber unbeirrt goß Mary Poppins jetzt eine Portion für Jane
ein. Silbrig, grünlich und gelblich floß es in den Löffel. Jane
kostete vorsichtig.
»Süßer Orangensaft!« stellte sie fest und leckte sich genießerisch
die Lippen. Doch als Mary Poppins mit der Flasche auf die Zwillinge
sah, lief sie hinter ihr her.
»Oh, bitte nicht! Sie sind noch zu klein. Es bekommt ihnen
nicht. Bitte!«
Aber Mary Poppins kümmerte sich nicht um sie und steckte mit
einem warnenden, drohenden Blick auf Jane den Löffel John in
den Mund. Er schnappte gierig danach, und an den paar Tropfen,
die dabei auf sein Lätzchen fielen, erkannten Jane und Michael,
daß in dem Löffel jetzt Milch war. Dann bekam Barbara ihren
Anteil, sie gluckste und schleckte den Löffel zweimal ab. Schließlich
goß Mary Poppins noch eine Portion ein und trank sie andächtig
selber.
»Rumpunsch!« sagte sie, schmatzte und korkte die Flasche zu.
Jane und Michael sperrten vor Staunen Mund und Nase auf,
aber es blieb ihnen nicht viel Zeit, sich zu wundern, denn Mary
Poppins stellte die Wunderflasche auf den Kamin und wandte sich
ihnen zu.
»Schluß«, sagte sie, »marsch, marsch ins Bett.« Und sie begann,
die Kinder auszuziehen. Knöpfe und Haken, mit denen Katie
Nanna sich stets abgeplagt hatte, schienen bei Mary Poppins
von selbst aufzuspringen. In kaum einer Minute lagen sie im
Bett und beobachteten beim trüben Schimmer des Nachtlichts, wie
Mary Poppins nun vollends auspackte.
Sie entnahm der Teppichtasche sieben Flanellnachthemden und
vier baumwollene, ein Paar Schuhe, ein Dominospiel, zwei Bademützen
und ein Postkartenalbum. Ganz zuletzt kam ein zusammenklappbares
Feldbett nebst Woll- und Daunendecke zum Vorschein,
das sie zwischen Johns und Barbaras Bettchen aufschlug.
Jane und Michael saßen, die Arme um die hochgezogenen Knie
geschlungen, und sahen zu. Es war alles so merkwürdig, daß es
ihnen die Sprache verschlug. Aber sie wußten beide, heute war
mit Nummer 17 etwas Wunderbares und höchst Seltsames geschehen.
Inzwischen hatte Mary Poppins eins ihrer Flanellhemden über
den Kopf gezogen und begann sich darunter auszuziehen wie unter
einem Zelt. Michael, von dieser neuen Merkwürdigkeit ganz begeistert,
war außerstande, noch länger den Mund zu halten.
»Mary Poppins«, rief er aufgeregt, »du gehst doch nie wieder
von uns fort, gelt?«
Es kam keine Antwort unter dem Nachthemd hervor, und
Michael konnte es nicht mehr aushalten.
»Du gehst doch bestimmt nicht mehr fort? Wie?« schrie er
ängstlich. Mary Poppins' Kopf tauchte aus dem Nachthemd auf.
Sie machte ein grimmiges Gesicht. »Noch ein Wort dieser Art«,
sagte sie drohend, »und ich rufe den Schutzmann.«
»Ich wollte ja nur sagen«, stotterte Michael eingeschüchtert,
»wir hoffen, daß du nicht so bald wieder weggehst. . .«
Er fühlte, wie er rot wurde, und stockte verwirrt.
Mary Poppins blickte schweigend von ihm zu Jane. Dann zog
sie die Luft durch die Nase. »Ich bleibe, bis der Wind umschlägt«,
sagte sie kurz, blies die Kerze aus und ging ins Bett.
»Dann ist ja alles in Ordnung«, sagte Michael, halb zu sich
selbst und halb zu Jane. Aber Jane hörte gar nicht hin. Sie dachte
über alles nach, was sich ereignet hatte, und machte sich ihre
Gedanken.
So kam es, daß Mary Poppins im Kirschbaumweg Nummer wohnte. Und wenn sich die Bewohner auch manchmal nach den
ruhigeren, im üblichen Trott verlaufenen Tagen zurücksehnten, als
Katie Nanna noch das Haus regiert hatte, so waren sie im ganzen
über Mary Poppins' Ankunft doch recht froh. Mister Banks freute
sich, daß er dem Schutzmann kein Trinkgeld hatte geben müssen,
weil sie von selber gekommen war und den Verkehr nicht aufgehalten
hatte. Und Mistreß Banks war zufrieden, weil sie allen
Leuten erzählen konnte, i h r Kindermädchen sei so vornehm, daß
es nichts von Zeugnissen halte. Mistreß Brill und Ellen waren
glücklich, weil sie den ganzen Tag in der Küche starken Tee trinken
konnten und nicht mehr das Abendessen der Kinder beaufsichtigen
mußten. Auch Robertson Ay war froh, denn Mary Poppins
besaß nur ein Paar Schuhe, und die putzte sie selber.
Aber nie hat jemand erfahren, was Mary Poppins bei alledem
fühlte. Mary Poppins verriet sich mit keinem Sterbenswörtchen.

2. Kapitel
Mary hat Ausgang
»Jeden dritten Donnerstag«, sagte Mistreß Banks, »von zwei
bis fünf.«
Mary Poppins warf ihr einen verweisenden Blick zu. »Die feinen
Leute, Mistreß Banks, geben jeden zweiten Donnerstag frei,
von eins bis sechs. Und das verlange ich auch, oder . . .« Mary
Poppins legte eine Pause ein, und Mistreß Banks wußte, was sie
damit andeuten wollte. Es hieß, Mary Poppins würde nicht bleiben,
wenn sie nicht bekam, was sie wollte.
»Gut, gut«, sagte sie rasch, wenn es ihr auch lieber gewesen
wäre, Mary Poppins hätte nicht soviel besser über die feinen Leute
Bescheid gewußt als sie selbst.
So zog denn Mary Poppins ihre weißen Handschuhe an und
nahm ihren Schirm unter den Arm, nicht weil es regnete, sondern
weil er einen so schönen Griff hatte, daß sie ihn unmöglich daheim
lassen konnte. Wie konnte man auch auf einen Schirm verzichten,
der einen Papageienkopf als Griff hatte! Zudem war Mary
Poppins sehr eitel und wollte so fein aussehen wie irgend möglich.
Freilich war sie fest überzeugt, daß sie nie anders als fein aussah.
Jane winkte ihr vom Fenster des Kinderzimmers nach.
»Wohin gehst du?« rief sie.
»Mach gefälligst das Fenster zu!« rief Mary Poppins zurück,
und Janes Kopf verschwand eilig.
Mary Poppins ging den Gartenweg hinunter und öffnete das
Tor. Auf der Straße beschleunigte sie ihre Schritte, als hätte sie
Angst, der Nachmittag liefe ihr davon, wenn sie ihn nicht festhielt.
An der Ecke bog sie nach rechts ab, dann nach links, nickte
dem Schutzmann, der ihr einen schönen Tag wünschte, herablassend
zu, und nun erst hatte sie das Gefühl, daß ihr freier Nachmittag
begonnen hatte.
Vor einem leeren Auto blieb sie stehen und setzte sich vor
der spiegelnden Windschutzscheibe den Hut zurecht. Dann strich
sie ihren Rock glatt, klemmte den Schirm fester unter den Arm,
und zwar so, daß der Griff, oder vielmehr der Papagei, für jedermann
sichtbar war. Nach diesen Vorbereitungen ging sie weiter
und suchte den Streichholzmann auf.
Ãœbrigens hatte der Streichholzmann zwei Berufe. Er verkaufte
nicht nur Streichhölzer wie jeder gewöhnliche Streichholzmann,
er malte auch Bilder aufs Straßenpflaster: beide Berufe übte er
abwechselnd aus, je nach dem Wetter. Wenn es regnete, verkaufte
er Streichhölzer, da die Nässe seine Bilder ja doch gleich wieder
ausgelöscht hätte. Bei Sonnenschein rutschte er den ganzen Tag
auf den Knien und zeichnete mit farbiger Kreide Bilder auf den
Bürgersteig. Das ging ihm ungeheuer leicht von der Hand, und
oft konnte man erleben, daß er die eine Straßenseite herauf und
die andere hinunter gemalt hatte, bevor man selbst noch um die
Ecke gebogen war.
Heute, wo es schön, aber kalt war, malte er. Während Mary
Poppins, die ihn überraschen wollte, auf Fußspitzen zu ihm hinschlich,
fügte er einer Reihe schon fertiger Kunstwerke gerade
ein neues hinzu: ein Bild mit zwei Bananen, einem Apfel und dem
Kopf der Königin Elisabeth.
»Hallo!« rief Mary Poppins ihn leise an.
Ohne sich stören zu lassen, setzte er ein paar braune Streifen
in die Bananen und umgab Königin Elisabeths Kopf mit einem
Kranz brauner Locken.
»Hm, hm«, räusperte sich Mary Poppins mit damenhafter Zurückhaltung.
Er fuhr auf und erkannte sie.
»Mary!« rief er, und sein Ton ließ vermuten, daß sie in seinem
Leben eine sehr wichtige Rolle spielte.
Mary Poppins blickte auf ihre Füße und fuhr mit der Schuhspitze
ein paarmal über das Pflaster. Dann lächelte sie den Schuh
auf eine Art an, daß der Schuh merken mußte, das Lächeln galt
gar nicht ihm.
»Ich hab doch heut Ausgang, Bert, hast du's vergessen?« Bert
war der Name des Streichholzmanns — sonntags hieß er Herbert
Alfred.
»Natürlich hab ich daran gedacht, a b e r . . . « Er schwieg und
sah betrübt in seine Mütze. Sie lag auf dem Boden neben dem
letzten Bild und enthielt nur zwei Groschen. Er hob sie auf und
klapperte mit den Münzen.
»Mehr hast du nicht verdient, Bert?« erkundigte sich Mary
Poppins, aber in fröhlichem Tonfall. Man hätte kaum sagen können,
sie sei enttäuscht.
»Das ist alles«, sagte er, »das Geschäft geht heute schlecht. Man
sollte meinen, jeder würde gerne etwas bezahlen, um sich das
hier ansehen zu dürfen.« Und er nickte der Königin Elisabeth
liebevoll zu. »So ist das, Mary«, seufzte er. »Kann dich heut nicht
zum Tee einladen, leider.«
Mary Poppins dachte an die Himbeertörtchen, die sie an ihrem
Ausgehtag immer bekam, und ihr wollte schon ein Seufzer entschlüpfen,
als sie das Gesicht des Streichholzmannes sah. Geschwind
hielt sie den Seufzer zurück und lächelte statt dessen —
ein gutes Lächeln, bei dem sich ihre Mundwinkel hoben.
»Ist schon recht, Bert«, sagte sie. »Das macht gar nichts, möchte
ohnehin keinen Tee heute. Schwerverdauliches Zeug, finde
ich.«
Und das war wirklich nett von Mary Poppins, wenn man bedenkt,
wie gern sie Himbeertörtchen aß.
Das dachte wohl auch der Streichholzmann, denn er nahm ihre
weißbehandschuhte Hand in seine und drückte sie fest. Dann
wanderten sie zusammen an der Bilderreihe entlang.
»Da ist eins, das hast du noch nicht gesehen«, sagte er stolz
und deutete auf ein Bild. Es zeigte einen Schneeberg, dessen Ab -
hänge mit Grashüpfern geradezu besät waren, die auf riesengroßen
Rosen saßen.
Diesmal konnte Mary Poppins aufseufzen, ohne seine Gefühle
zu verletzen.
»O Bert, was für ein herrliches Werk!« Und durch die Art, wie
sie es sagte, ließ sie ihn fühlen, daß von Rechts wegen das Bild
in der Königlichen Akademie hängen müßte. Das ist ein großer
Saal, worin berühmte Leute die Bilder aufhängen, die sie gemalt
haben. Alles geht hin, um sie sich anzusehen, und nach längerer
Betrachtung sagt einer zum andern: »Nein, so was — mein
Lieber!«
Das nächste Bild, an das Mary Poppins und der Streichholzmann
herantraten, war womöglich noch schöner. Es war eine
Landschaft — lauter Bäume und Rasen, ein Stückchen blaues Meer
und im Hintergrund etwas, das aussah wie der Badeort Margate.
»Mein Gott!« rief Mary Poppins bewundernd und bückte sich,
um alles noch besser zu sehen. »Aber, Bert, was ist denn?«
Der Streichholzmann hatte auch ihre andere Hand ergriffen
und sah ganz aufgeregt aus.
»Mary! Ich hab eine Idee! Wirklich eine Idee! Warum gehen
wir nicht hin — gleich jetzt —, gleich heute? Wir beide, hinein
in das Bild! Was meinst du, Mary?« Und ihre Hände noch immer
in den seinen, zog er sie von der Straße fort, weg von den eisernen
Geländern und Laternenpfählen, geradewegs in das Bild hinein.
Pfff! Da standen sie nun, mittendrin!
Wie grün es hier war und wie still, und wie weich war das
frische Gras unter ihren Füßen! Kaum war es zu fassen, und doch
streiften grüne Zweige raschelnd über ihre Köpfe, wenn sie unter
ihnen durchschlüpften, und kleine, bunte Blumen schmiegten sich
um ihre Schuhe. Sie staunten einander an, und jeder sah, daß
sich der andere verwandelt hatte. Mary Poppins schien es, als
habe sich der Streichholzmann einen neuen Anzug gekauft, denn
er trug jetzt einen hellen, grün und rot gestreiften Rock zu
weißen Flanellhosen und, das Schönste von allem, einen neuen
Strohhut. Er sah so ungewohnt sauber aus, wie frisch aufpoliert.
»Du siehst aber fein aus, Bert!« rief sie bewundernd.
Bert konnte nicht gleich antworten, denn er sperrte vor Staunen
Mund und Augen auf. Dann schluckte er und sagte: »Dunnerlittchen!
«

Das war alles. Aber wie er das sagte! Dabei staunte er sie an,
so unverwandt und entzückt, daß sie ihrer Tasche einen kleinen
Spiegel entnahm und sich darin betrachtete.
Ja, auch sie selbst, das sah sie nun, hatte sich verwandelt. Um
ihre Schultern hing ein herrlicher Mantel aus Kunstseide, über und
über zart gemustert, und das Kitzeln im Nacken rührte von einer
langen, gekräuselten Feder her, die, wie der Spiegel ihr zeigte,
vom Hutrand herabhing. Ihre Sonntagsschuhe waren verschwunden,
und an ihrer Stelle hatte sie andere an, noch schönere, mit
großen, blitzenden Diamantschnallen. Noch immer aber trug sie
die weißen Handschuhe und den Regenschirm.
»Du meine Güte!« rief Mary Poppins. »Das nenne ich einen
Ausgehtag!«
Sich gegenseitig bewundernd, wanderten sie zusammen durch
das Wäldchen, bis sie endlich zu einer sonnigen Lichtung kamen.
Dort stand auf einem grünen Tischchen der Nachmittagstee bereit.
In der Mitte war ein Berg von Himbeertörtchen aufgebaut, der
ihr bis an die Taille reichte. Daneben dampfte Tee in einer großen
Messingkanne. Und das Beste von allem waren zwei Teller mit
Schnecken und zwei Gabeln, um sie herauszupicken.
»Ich werd verrückt!« rief Mary Poppins. Das sagte sie immer,
wenn sie glücklich war.
»Dunnerlittchen!« sagte der Streichholzmann nur. Das sagte
er immer.
»Wollen Sie nicht Platz nehmen, meine Dame?« ertönte eine
Stimme.
Sie drehten sich um und sahen einen großen Mann im schwarzen
Frack, der, eine Serviette überm Arm, aus dem Wald trat.
Aufs höchste überrascht, setzte sich Mary Poppins mit einem
Plumps auf einen der kleinen, grünen Stühle, die um den Tisch
standen. Der Streichholzmann sank sprachlos auf einen anderen.
»Ich bin der Kellner, wenn Sie gestatten«, erklärte der Schwarzbefrackte.
»Ach! Aber auf dem Bild habe ich Sie nicht gesehen«, sagte
Mary Poppins.
»Ich stand nur hinter einem Baum«, erklärte der Kellner.
»Wollen Sie sich nicht setzen?« fragte Mary Poppins zuvorkommend.
»Kellner setzen sich nie, meine Dame«, entgegnete er, durch
die Frage geschmeichelt.
»Ihre Schnecken, mein Herr!« Und er schob dem Streichholzmann
die eine Platte zu. »Und hier Ihre Gabel.« Er wischte sie
mit der Serviette ab, bevor er sie auf den Tisch legte.
Nun machten sie sich an ihren Nachmittagstee. Der Kellner blieb
neben ihnen stehen, um zu sehen, ob sie auch alles hatten, was
sie brauchten.
»Wir kriegen sie also doch noch!« entfuhr es Mary Poppins
mit einem vernehmlichen Seufzer, als sie sich dem Berg von Himbeertörtchen
zuwandte.
»Dunnerlittchen!« bestätigte der Streichholzmann und nahm
sich die beiden größten Stücke.
»Tee?« fragte der Kellner und schenkte jedem eine große Tasse
voll ein.
Sie tranken Tee und ließen sich noch zweimal nachgießen, und
dann vertilgten sie hochbefriedigt die Himbeertörtchen. Bald danach
standen sie auf und fegten die Krümel vom Tisch.
»Nichts zu bezahlen!« sagte der Kellner, ehe sie noch Zeit
hatten, nach der Rechnung zu fragen. »Es war mir ein Vergnügen.
Das Karussell ist dort drüben!« Er deutete mit der Hand zu einer
kleinen Lichtung hinüber, wo sich, wie Mary Poppins und der
Streichholzmann jetzt sahen, ein paar Holzpferde auf einer Plattform
drehten.
»Wie komisch«, sagte sie, »ich kann mich nicht erinnern, sie auf
dem Bild gesehen zu haben.«
»Ach«, sagte der Streichholzmann, der sich auch nicht daran
erinnerte, »die waren im Hintergrund, verstehst du.«
Als sie auf das Karussell zutraten, verlangsamte es gerade die
Fahrt. Sie sprangen auf, Mary Poppins auf ein schwarzes Pferd
und der Streichholzmann auf ein graues. Und als die Musik
wieder begann und das Karussell sich in Bewegung setzte, ritten
sie den ganzen Weg nach Yarmouth und zurück, denn das war
der Ort, den sie am liebsten sehen wollten.
Als sie zurückkamen, war es fast dunkel, und der Kellner
hielt schon Ausschau nach ihnen. »Bedauere, meine Herrschaften«,
sagte er höflich, »aber wir schließen um sieben. Vorschrift, Sie
verstehen? Darf ich Ihnen den Ausgang zeigen?«
Sie bejahten, und er ging, seine Serviette schwenkend, vor ihnen
her durch den Wald.
»Ein wunderbares Bild hast du diesmal gemalt, Bert!« lobte
Mary Poppins, schob ihre Hand in den Arm des Streichholzmannes
und zog den Mantel fester um sich.
»Gott, Mary, man tut, was man kann!« sagte der Streichholzmann
bescheiden. Aber man sah, er war mit sich zufrieden.
In diesem Augenblick blieb der Kellner vor einem weißen Tor
stehen, das aussah, als bestünde es aus dicken Kreidebalken.
»Da sind wir«, sagte er. »Hier ist der Ausgang.«
»Leben Sie wohl, und recht schönen Dank«, sagte Mary Poppins
und gab ihm die Hand.
»Leben Sie wohl, Madam.« Der Kellner verbeugte sich tief.
Dann nickte er dem Streichholzmann zu, der den Kopf auf die
Seite legte und dem Kellner mit einem Auge zublinzelte, womit
er ihm auf seine Art Lebewohl sagte. Schließlich trat Mary Poppins
durch das weiße Tor, und der Streichholzmann folgte ihr.
Während sie weitergingen, fiel die Feder von ihrem Hut, der
seidene Mantel von ihren Schultern und die Diamantschnallen
von ihren Schuhen. Der neue Anzug des Streichholzmannes wurde
schäbig, und sein Strohhut verwandelte sich wieder in seine alte,
speckige Mütze.
Mary Poppins drehte sich nach ihm um und wußte sofort, was
geschehen war. Sie blieb stehen und blickte ihn an, eine kleine
Ewigkeit lang. Dann durchspähte ihr Blick den Wald nach dem
Kellner. Aber der Kellner war nirgends zu sehen. Kein Mensch
war in dem Bild, nichts bewegte sich darin. Sogar das Karussell
war verschwunden. Geblieben waren nur die stillen Bäume und
der Rasen und das regungslose Stückchen Meer.
Aber Mary Poppins und der Streichholzmann lächelten sich an.
Sie wußten, was hinter den Bäumen lag . . .
Als sie von ihrem Ausgang zurückkehrte, rannten ihr Jane und
Michael entgegen.
»Wo warst du?« fragten sie.
»Im Märchenland«, erklärte Mary Poppins.
»Hast du Aschenbrödel gesehen?« erkundigte sich Jane erwartungsvoll.
»Was? Aschenbrödel? Nichts für mich«, sagte Mary Poppins
geringschätzig. »Ausgerechnet Aschenbrödel!«
»Oder vielleicht Robinson Crusoe?« fragte Michael.
»Robinson Crusoe — Puh!« Mary Poppins rümpfte die Nase.
»Wie kannst du dann dort gewesen sein? Es war bestimmt
nicht unser Märchenland!«
Mary Poppins schnaufte verächtlich.
»Wißt ihr denn nicht, daß jeder sein eigenes Märchenland hat?«
fragte sie mitleidig.
Und hochmütig vor sich hinschnüffelnd, ging sie die Treppe
hinauf, um die weißen Handschuhe und den Schirm abzulegen.

3. Kapitel
Lachgas
»Bist du ganz sicher, daß er daheim ist?« fragte Jane, als sie
mit Michael und Mary Poppins aus dem Omnibus stieg.
»Hätte mein Onkel mich gebeten, euch zum Tee mitzubringen,
wenn er ausgehen wollte?« sagte Mary Poppins, die über diese
Frage sehr beleidigt schien. Sie trug ihren blauen Mantel mit
den Silberknöpfen und den dazu passenden blauen Hut, und wenn
sie so angezogen war, war es sehr leicht, sie zu beleidigen.
Alle drei waren auf dem Weg, Mister Schopf, Mary Poppins'
Onkel, einen Besuch abzustatten. Jane und Michael hatten sich
auf diesen Besuch so gefreut, daß sie halb und halb fürchteten,
Mister Schopf könnte am Ende doch nicht daheim sein.
»Warum heißt er eigentlich Mister Schopf? — Hat er denn
einen?« wollte Michael wissen, während er eifrig neben Mary
Poppins herlief.
»Er heißt Mister Schopf, weil das sein Name ist. Und er hat
keinen Schopf, sondern eine Glatze«, sagte Mary Poppins. »Und
wenn ihr noch mehr Fragen auf Lager habt, so kehren wir gleich
wieder um.«
Und sie zog verschnupft die Luft durch die Nase, wie immer,
wenn ihr etwas nicht paßte.
Jane und Michael zwinkerten sich heimlich zu. Das hieß: Wir
wollen sie nichts mehr fragen, sonst kommen wir nie hin.
Mary Poppins rückte vor dem Tabakladen an der Ecke den Hut
zurecht. Der Laden hatte eines jener merkwürdigen Fenster, in
denen du dich gleich dreimal siehst, und wenn du lange genug
hineinschaust, kommt es dir schließlich vor, als wärst du nicht
du selber, sondern ein Haufen fremder Leute. Mary Poppins
jedoch seufzte vor Vergnügen, als sie sich dreimal sah, jedesmal
im blauen Mantel mit Silberknöpfen und dem dazu passenden
Hut. Sie fand den Anblick reizend, sie hätte sich am liebsten ein
dutzendmal darin gesehen, wenn nicht gar dreißigmal. Je mehr
Mary Poppins, um so besser!
»Kommt weiter«, sagte sie streng, als hätten die beiden sie
warten lassen. Dann bogen sie um die Ecke und zogen an der
Glocke des Hauses Robertsonstraße Nummer drei. Jane und
Michael hörten einen fernen Widerhall und stellten sich vor, in
einer Minute — oder höchstens zwei — würden sie bei Mister
Schopf, dem Onkel von Mary Poppins, am Teetisch sitzen.
»Natürlich nur, wenn er da ist«, flüsterte Jane Michael zu.
Gleich darauf ging die Tür auf, und eine dünne, blasse Dame
erschien.
»Ist er da?« fragte Michael schnell.
»Ich wäre dir dankbar, wenn du das Reden mir überlassen
wolltest«, sagte Mary Poppins und warf ihm einen drohenden
Blick zu.
»Guten Tag, Mistreß Schopf«, grüßte Jane artig.
»Mistreß Schopf!« begehrte die dünne Dame auf, mit einer
Stimme, die noch dünner war als sie selbst. »Was fällt dir ein,
mich Mistreß Schopf zu nennen. Nee, danke schön! Ich bin nur
Miß Dattelpflaum und stolz darauf. Mistreß Schopf! So was!«
Sie schien sehr aufgebracht zu sein, und da dachten die Kinder,
Mister Schopf müsse ein recht seltsamer Herr sein, wenn Miß
Dattelpflaum solchen Wert darauf legte, nicht Mistreß Schopf
zu sein.
»Da hinauf, oben die erste Tür«, sagte Miß Dattelpflaum und
verzog sich rasch den Gang hinunter. »Mistreß Schopf — so was!«
schimpfte sie dabei mit ihrer hohen, dünnen Stimme vor sich
hin.
Jane und Michael folgten Mary Poppins die Treppe hinauf.
Oben klopfte sie an die Tür.
»Herein! Herein! Herzlich willkommen!« erklang drinnen eine
laute, fröhliche Stimme. Janes Herz klopfte stürmisch vor Aufregung.
Er ist da — bedeutete sie Michael mit einem Blick.
Mary Poppins öffnete die Tür und schob die Kinder vor sich
her. Ein großer, freundlicher Raum lag vor ihnen. Links in der
Ecke brannte ein helles Kaminfeuer, und in der Mitte stand ein
großer Tisch, zum Tee gedeckt: vier Tassen und Teller, Berge
von Butterbroten, Kuchen, Kokosnußbrötchen und ein großer
Königskuchen mit rosa Zuckerguß.
»Ei, das ist aber eine Freude!« begrüßte sie eine dröhnende
Stimme. Jane und Michael blickten umher, um zu entdecken, woher
sie kam. Es war niemand zu sehen. Das Zimmer schien leer.
Da hörten sie Mary Poppins' ärgerlichen Ausruf:
»Aber Onkel Albert — doch nicht schon wieder! Du hast doch
heut nicht Geburtstag.«
Dabei schaute sie zur Decke hinauf. Jane und Michael folgten
ihrem Blick und sahen zu ihrer Ãœberraschung einen runden, dicken,
kahlköpfigen Mann in der Luft schweben, ohne daß er sich irgendwo
festhielt. Wahrhaftig, er saß in der Luft, ein Bein über das
andere geschlagen, und hatte die Zeitung, worin er bei ihrem Eintritt
noch gelesen, neben sich gelegt.
»Meine Liebe«, sagte Mister Schopf und lächelte zu den Kindern
hinunter, während er Mary Poppins schuldbewußt ansah. »Es
tut mir leid, aber ich fürchte, ich hab heut Geburtstag!«
»Tz, tz, tz«, machte Mary Poppins.
»Es fiel mir erst heute nacht ein, und mir blieb keine Zeit mehr,
eine Postkarte zu schreiben und euch zu bitten, ein andermal
zu kommen. Sehr bedauerlich, wie?« Und er blickte zu Jane und
Michael hinunter.
»Ihr seid recht erstaunt, wie ich sehe«, stellte er fest. Und wirklich,
beiden stand vor Staunen der Mund offen, weit genug, daß
Mister Schopf, wäre er ein bißchen kleiner gewesen, leicht hätte
hineinfallen können.
»Ich will es euch lieber erklären«, fuhr Mister Schopf in aller
Gemütsruhe fort. »Seht ihr, das ist so: Ich bin ein lustiger Mensch
und lache gern. Ihr beide werdet kaum glauben, wie vieles auf
dieser Welt mir so schrecklich komisch vorkommt. Wirklich, ich
muß fast über alles lachen.«
Bei diesen Worten begann Mister Schopf, hin und her zu schau-
keln und sich beim Gedanken an seine eigene Lustigkeit vor Lachen
zu schütteln.
»Onkel Albert«, rief Mary Poppins, und mit einem Ruck hörte
Mister Schopf auf zu lachen.
»Oh, verzeih, meine Liebe. Wo bin ich doch stehengeblieben?
Ach ja. Nun, das Sonderbare bei mir ist — schon recht, Mary,
ich lach nicht mehr, wenn's irgend geht —, aber jedesmal, wenn
mein Geburtstag auf einen Freitag fällt, bin ich ganz aus dem
Häuschen. Einfach aus dem Häuschen!«
»Aber warum .. .?« begann Jane.
»Wieso denn . . . ? « fiel Michael ein.
»Na, seht ihr! Wenn ich an meinem Geburtstag lache, fülle
ich mich so mit Lachgas, daß ich mich einfach nicht mehr auf
dem Boden halten kann. Selbst wenn ich nur lächle, fängt es
schon an. Der erste lustige Gedanke, und ich gehe hoch wie ein
Ballon. Und solange ich nicht an etwas Ernstes denken kann,
komme ich nicht wieder herunter.« Schon fing Mister Schopf
wieder an, höchst vergnügt vor sich hin zu kichern, doch nach
einem Blick auf Mary Poppins' Gesicht unterdrückte er sein Lachen
und fuhr fort:
»Natürlich ist es peinlich, aber sonst nicht unangenehm. Euch
beiden ist so etwas wohl noch nicht passiert?«
Jane und Michael schüttelten den Kopf.
»Nein? Das hab ich mir gedacht. Es scheint eine Spezialität
von mir zu sein. Einmal — ich war am Abend im Zirkus gewesen
— hab ich so gelacht, daß ich, ob ihr's glaubt oder nicht, ganze
zwölf Stunden hier oben bleiben mußte, erst als die Uhr um
Mitternacht den letzten Schlag tat, kam ich wieder herunter.
Das geschah natürlich mit einem tüchtigen Plumps, denn es war
ja nun Samstag und mein Geburtstag vorbei. Findet ihr das nicht
merkwürdig? Urkomisch? Wie? Heute ist wieder Freitag und
abermals mein Geburtstag. Und gerade heut kommt ihr beiden
mit Mary Poppins zu Besuch. O Gott, o Gott, bringt mich bloß
nicht zum Lachen, ich bitte euch!«
Aber obwohl Jane und Michael nichts Komisches getan, sondern
ihn nur voll Staunen angestarrt hatten, fing Mister Schopf wieder
an, laut zu prusten. Dabei sprang und tanzte er in der Luft
herum, schwenkte die Zeitung in der Hand, und die Brille rutschte
ihm von der Nase.
Es sah so lächerlich aus, wie er da in der Luft herumhopste,
ein riesiger Luftballon, wobei er manchmal nach der Decke und
manchmal im Vorbeistreifen nach der Gaslampe griff, daß Jane
und Michael, wenn sie auch krampfhaft versuchten, artig zu sein,
einfach nichts anderes tun konnten, als was sie taten. Sie lachten.
Und wie lachten sie! Sie preßten mit aller Macht ihre Lippen
zusammen, um nicht herauszuplatzen, aber umsonst. Schließlich
wälzten sich beide auf dem Fußboden und schrien und quietschten
vor Lachen.
»Unerhört!« sagte Mary Poppins. »So ein Benehmen . . .!«
»Ich kann nichts dafür, ich kann nichts dafür!« ächzte Michael
und rollte dabei ans Kamingitter. »Es ist so schrecklich komisch.
O Jane, ist es nicht komisch?«
Jane antwortete nicht, denn mit ihr geschah etwas Merkwürdiges.
Beim Lachen spürte sie, wie sie immer leichter wurde, als
werde sie mit Luft vollgepumpt. Es war ein höchst seltsames und
dabei köstliches Gefühl, das sie immer mehr zum Lachen brachte.
Plötzlich gab es einen tüchtigen Ruck, und sie spürte, wie sie in
die Luft stieg. Verblüfft sah Michael sie durchs Zimmer schweben.
Mit einem kleinen Bums stieß ihr Kopf an die Decke, und dann
schwebte sie an ihr entlang, bis sie bei Mister Schopf landete.
»Hoppla!« sagte der und sah ganz überrascht aus. »Erzähl mir
bloß nicht, du hättest heute auch Geburtstag.« Jane schüttelte den
Kopf.
»Also nicht? Dann muß das Lachgas ansteckend sein. He — halt,
aufgepaßt! Der Kaminsims!« Das galt Michael, der sich plötzlich
vom Boden gelöst hatte, und nun, brüllend vor Lachen, durch die
Luft schoß. Ums Haar hätte er beim Vorbeistreifen die Porzellanfiguren
vom Kaminsims gefegt. Mit einem Schwupp landete er
direkt auf Mister Schopfs Knie.
»Willkommen!« sagte der und schüttelte Michael herzlich die
Hand. »Das finde ich wirklich nett von dir, wirklich sehr nett,
daß du zu mir heraufkommst, da ich nicht zu dir hinunter kann
— wie?« Dann blickten er und Michael einander an, warfen den
Kopf zurück und schrien vor Lachen.
»Du denkst sicher, ich hätte die schlechtesten Manieren der
Welt«, sagte Mister Schopf zu Jane und wischte sich die Augen.
»Aber du stehst ja immer noch und solltest schon längst sitzen
— eine so hübsche, junge Dame wie du. Leider kann ich dir hier
oben keinen Stuhl anbieten, doch ich hoffe, du sitzt auch auf der
Luft ganz bequem. So wie ich.«
Jane versuchte es und fand, daß es sich hier in der Luft ganz
behaglich sitzen ließ. Sie nahm ihren Hut ab und legte ihn neben
sich. Auch er schwebte ohne jeden Halt frei im Raum.
»So ist's recht«, sagte Mister Schopf. Dann wandte er sich um
und schaute zu Mary Poppins hinunter.
»Hallo, Mary, wir sind untergebracht. Nun kann ich mich endlich
um dich kümmern, meine Liebe. Ich möchte dir sagen, es
macht mich sehr glücklich, dich und meine beiden jungen Freunde
hier zu begrüßen — warum blickst du so finster drein, Mary?
Ich glaube gar, du bist nicht ganz einverstanden mit — hm, mit
alledem?«
Er deutete auf Jane und Michael und sagte schnell: »Sei nicht
bös, liebe Mary! Du weißt doch, wie das mit mir ist. Ich muß
sagen, mir ist nie der Gedanke gekommen, meine beiden jungen
Freunde hier könnten angesteckt werden. Nicht im Traum, Mary!
Ich hätte sie wohl doch besser an einem anderen Tag eingeladen
oder versuchen sollen, an etwas recht Trauriges zu denken oder
an etwas . . . «
»Ich muß gestehen«, sagte Mary Poppins steif, »so etwas ist
mir in meinem Leben noch nicht begegnet! Und in deinem Alter,
O n k e l . . . «
»Mary Poppins, Mary Poppins«, fiel Michael ein. »Bitte, komm
herauf! Denk doch an irgend etwas Lustiges, dann ist es ganz
leicht.«
»Ja, komm nur, Mary!« versuchte Mister Schopf sie zu überreden.
»Hier oben sind wir so allein ohne dich«, rief Jane und
streckte Mary Poppins die Arme entgegen. »Denk doch an etwas
Lustiges.«
»Oh, sie hat das gar nicht nötig«, seufzte Mister Schopf. »Sie
kann jederzeit heraufkommen, sie braucht nicht einmal zu lachen,
und das weiß sie auch.«
Er betrachtete Mary Poppins, wie sie da unten am Kamin
stand, mit einem rätselhaften und heimlichen Blick.
»Na schön«, sagte sie endlich, »es ist zwar recht albern und
würdelos, aber da ihr schon da oben seid und wie's scheint,
nicht mehr herunter könnt, ist es wohl besser, ich komme auch
hinauf.«
Sprach's, legte die Hände an die Seite und schwebte, zur Überraschung
von Jane und Michael, ohne jedes Lachen, ja ohne den
Schimmer eines Lächelns, durch die Luft und setzte sich neben
Jane. »Wie oft hab ich dir schon gesagt, du sollst deinen Mantel
ausziehen, wenn du ins warme Zimmer kommst«, sagte sie kühl,
knöpfte Jane den Mantel auf und legte ihn ordentlich neben den
Hut in die Luft.
»Recht so, Mary! So ist's recht«, sagte Mister Schopf befriedigt,
während er sich selbst hinunterbeugte und seine Brille auf
den Kaminsims legte. »Nun haben wir es uns endlich bequem
gemacht...«
»Es gibt so eine Bequemlichkeit und so eine!« erklärte Mary
Poppins und zog geringschätzig die Luft durch die Nase.
»Nun können wir endlich Tee trinken«, fuhr Mister Schopf
fort und tat, als habe er ihre Bemerkung gar nicht gehört. Aber
plötzlich machte er ein bestürztes Gesicht.
»Du meine Güte!« rief er, »wie schrecklich! Jetzt fällt es mir
erst ein — der Tisch steht dort unten, und wir sind hier oben.
Was machen wir? Wir hier — und er dort! Das ist ja eine Tragödie
— eine ganz schreckliche! Aber ach, es ist trotzdem so komisch!«
Er hielt sich das Taschentuch vors Gesicht und prustete hinein.
Obwohl Jane und Michael nur ungern auf Kuchen und Törtchen
verzichteten, mußten sie mitlachen, so ansteckend wirkte Mister
Schopfs Heiterkeit.
Er trocknete sich die Augen.
»Da gibt es nur eins«, sagte er. »Wir müssen an etwas Ernsthaftes
denken. An etwas Trauriges, etwas sehr Trauriges. Nur
so kommen wir wieder hinunter. Achtung! — eins, zwei, drei!
An etwas sehr Trauriges, wenn ich bitten darf!«
Sie dachten und dachten, das Kinn in die Hand gestützt.
Michael dachte an die Schule und daran, daß er eines Tages
würde hingehen müssen. Aber selbst das schien ihm heute ein
Spaß, und er mußte lachen.
Jane dachte: In vierzehn Jahren bin ich erwachsen. Aber das
kam ihr keineswegs traurig vor, eher schön und beinahe lustig.
Unwillkürlich mußte sie lachen bei der Vorstellung, sie wäre eine
erwachsene Jane mit langen Röcken und einer Handtasche.
»Da war doch die arme, alte Tante Emilie«, dachte Mister
Schopf laut. »Sie wurde von einem Omnibus überfahren. Traurig!
Wirklich traurig! Schrecklich traurig! Arme Tante Emilie! Aber
ihr Regenschirm wurde gerettet. Ist das nicht komisch?« Und ehe
er sich's versah, krümmte und schüttelte er sich vor Lachen und
prustete los beim Gedanken an Tante Emilies Regenschirm.
»Das führt zu nichts!« rief er und putzte sich die Nase. »Ich
geb's auf. Und meine jungen Freunde hier verstehen sich, scheint
es, auch nicht besser aufs Traurigsein als ich. Mary, kannst du
nicht helfen? Wir möchten so gern unsern Tee trinken.«
Noch heute wissen Jane und Michael nicht recht, was dann geschah.
Genau wissen sie nur eins: Als sich Mister Schopf an Mary
Poppins um Hilfe gewandt hatte, begann plötzlich der Tisch
unten auf seinen Beinen hin und her zu wackeln. Gleich darauf
schwankte er beängstigend. Und dann kam der ganze Tisch unter
dem Klirren des Porzellans durchs Zimmer gesegelt, wobei die
Kuchen von den Platten herunter aufs Tischtuch rutschten. Mit
einer graziösen Wendung landete der Tisch vor ihnen, und zwar
so, daß Mister Schopf jetzt obenan saß.

»Bist ein gutes Mädchen!« Stolz lächelte er seiner Nichte zu.
»Ich wußte, du schaffst es. Möchtest du dich nun ans andere
Ende setzen und uns einschenken, Mary? Und unsere Gäste rechts
und links von mir? So ist's schön«, sagte er lächelnd, als Michael
durch die Luft rannte und sich rechts neben ihn setzte. Jane
kam an seine linke Seite. Und nun saßen sie alle miteinander
oben in der Luft, den Tisch zwischen sich. Nicht ein einziges
Butterbrot, ja nicht einmal ein Zuckerstückchen war verlorengegangen.
Mister Schopf schmunzelte befriedigt.
»Zwar ist es wohl üblich, mit Brot und Butter anzufangen«,
sagte er zu Jane und Michael, »aber da heut mein Geburtstag
ist, wollen wir es umgekehrt machen — was ich schon immer für
richtiger hielt. Zuerst also der Kuchen!«
Er schnitt für jeden ein mächtiges Stück ab.
»Noch etwas Tee?« fragte er Jane. Aber ehe sie noch antworten
konnte, kam unten von der Tür her ein kurzes, scharfes Klopfen.
»Herein!« rief Mister Schopf.
Die Tür ging auf. Da stand Miß Dattelpflaum und brachte auf
einem Tablett eine Kanne mit heißem Wasser.
»Ich dachte mir, Mister Schopf«, begann sie und schaute sich
suchend im Zimmer um, »daß Sie sicher noch heißes Wasser . ..
Nein, so etwas! Noch nie habe i c h . . . « , stammelte sie, als sie
die Gesellschaft in der Luft sitzen sah. »Solch ein Benehmen
ist mir noch nie vorgekommen! Mein Lebtag hab ich so was nicht
gesehen! Ich hab Sie ja schon immer für ein bißchen verrückt
gehalten, Mister Schopf! Aber ich habe ein Auge zugedrückt, weil
Sie Ihre Miete bisher stets pünktlich bezahlt haben. Aber so
ein Benehmen — mit seinen Gästen in der Luft Tee zu trinken —,
Mister Schopf — mein Herr, ich muß mich sehr über Sie wundern,
das schickt sich doch nicht für einen Herrn Ihres Alters — noch
nie hab ich . . . «
»Aber vielleicht werden Sie, Miß Dattelpflaum«, sagte Michael.
»Werde ich was?« fragte Miß Dattelpflaum hochmütig.
»Mit Lachgas angesteckt, so wie wir«, sagte Michael.
Miß Dattelpflaum warf zornig den Kopf in den Nacken.
»Junger Mann«, erwiderte sie scharf, »ich hoffe doch, ich
habe vor mir selbst zuviel Respekt, um wie ein Gummiball durch
die Luft zu hopsen! Nein, danke bestens, ich bleibe fest auf
meinen Füßen stehen, oder ich will nicht mehr Malchen Dattelpflaum
heißen, u n d . . . Ach, du liebes Bißchen, Allmächtiger!
Was ist denn nun los? Ich kann mich ja nicht mehr auf den Füßen
halten, es hebt mich hoch — ich — Hilfe, Hilfe!«
Ganz gegen ihren Willen hatte Miß Dattelpflaum den Boden
verloren und taumelte durch die Luft. Wie ein Fäßchen rollte
sie von einer Seite zur andern und balancierte dabei das Tablett
in der Hand. Sie weinte fast vor Zorn, als sie den Tisch erreichte
und die Kanne mit heißem Wasser hinsetzte.
»Danke schön!« sagte Mary Poppins ruhig und sehr höflich.
Dann drehte sich Miß Dattelpflaum um und schwebte wieder
zur Erde. »So etwas Merkwürdiges — und das mir, einer anständigen,
hochachtbaren Frau! Ich muß gleich zu Doktor . . . « , hörten
die anderen sie vor sich hin murmeln.
Als sie wieder festen Boden berührte, rannte sie schleunigst
aus dem Zimmer, händeringend und ohne einen Blick nach rückwärts
zu werfen.
»So etwas Unwürdiges!« ertönte ihre jammernde Stimme noch
durch die geschlossene Tür.
»Jetzt kann sie nicht mehr Malchen Dattelpflaum heißen, denn
sie blieb nicht fest auf ihren Füßen stehen«, wisperte Jane
Michael zu.
Mister Schopf aber schaute nur Mary Poppins an. Sein Blick
war merkwürdig, halb belustigt, halb vorwurfsvoll.
»Mary, Mary! Das hättest du nicht — du lieber Himmel, das
hättest du nicht tun sollen, Mary. Das wird die arme, alte Frau
nie verwinden. Aber, mein Gott, hat sie nicht komisch ausgesehen,
wie sie so durch die Luft taumelte? War das nicht verdammt
komisch?«
Er, Jane und Michael konnten sich nicht länger beherrschen.
Sie wälzten sich keuchend in der Luft herum und hielten sich
die Seiten vor Lachen, weil Miß Dattelpflaum gar so komisch
ausgesehen hatte.
»Du liebe Güte!« rief Michael. »Bringt mich nicht noch mehr
zum Lachen. Ich halt's nicht mehr aus. Ich platze!«
»Oh, oh, oh!« Jane schnappte nach Luft und drückte die Hand
aufs Herz.
»Allmächtiger!« keuchte Mister Schopf und tupfte sich die
Augen mit dem Rockzipfel, weil er sein Taschentuch nicht finden
konnte.
»Es wird Zeit, daß wir nach Hause gehen«, schmetterte Mary
Poppins' Stimme wie eine Trompete durch das Gelächter.
Und plötzlich, mit einem Ruck, kamen Jane, Michael und Mister
Schopf von der Decke herunter. Der Gedanke ans Nachhausegehen
löste in ihnen die erste traurige Empfindung dieses Nachmittags
aus. Und sobald er auftauchte, war das Lachgas wie weggeblasen.
Jane und Michael seufzten aus Herzensgrund, während sie zusahen,
wie Mary Poppins langsam durch die Luft herabschwebte.
Janes Hut und Mantel brachte sie mit.
Auch Mister Schopf seufzte tief.
»Wie schade«, sagte er ernüchtert. »Das ist aber traurig, daß
ihr schon heimgehen müßt! Noch nie hat mir ein Nachmittag
so gut gefallen — euch auch?«
»Noch nie!« sagte Michael düster. Es machte ihm gar keinen
Spaß, wieder auf der Erde zu stehen und kein Lachgas mehr
in sich zu haben.
»Nie, nie!« beteuerte Jane, stellte sich auf die Zehenspitzen
und gab Mister Schopf einen Kuß auf die runzlige Backe. »Noch
nie, nie, nie!«
Auf der Heimfahrt im Bus saß jeder auf einer Seite von Mary
Poppins. Sie waren beide sehr still und genossen noch in der
Erinnerung den wunderbaren Nachmittag. Schließlich wandte
sich Michael schläfrig an Mary Poppins:
»Macht dein Onkel oft so was?«
»Was macht er?« fragte Mary Poppins streng, als hätte Michael
absichtlich etwas Beleidigendes gesagt.
»Nun — das Hüpfen und Springen und Lachen und in die Luft
hochgehen.«
»In die Luft hoch?« Mary Poppins Stimme klang sehr hochmütig
und ärgerlich. »Was willst du damit sagen, bitte, mit dem
>in die Luft hochgehenguten Tag!<« erwiderte Mary Poppins und schloß ihre
Lippen so fest, als sollte ihnen kein Wort mehr entschlüpfen. John
und Barbara in ihrem Wagen glucksten.
»So war es gar nicht!« rief Michael.
»So kann's nicht gewesen sein!« meinte Jane.
»Nun, ihr wißt es natürlich besser! Wie gewöhnlich!« sagte
Mary Poppins spöttisch.
»Ich glaub, er hat dich gefragt, wo irgendwer wohnt, er
muß . . . « , fing Michael wieder an.
»Nun, wenn du's weißt, wozu machst du dir die Mühe und
fragst?« sagte Mary Poppins von oben herab. »Ich bin doch kein
Auskunftsbüro!«
»Oh, Michael, sie wird es uns nie sagen, wenn du so redest!
Ach bitte, Mary Poppins, sag uns doch, was Andy von dir wollte!«
»Frag ihn doch! Er weiß es ja — der Herr Alleswisser!« Und
Mary Poppins wies mit dem Kopf erzürnt auf Michael.
»O nein, ich weiß es nicht. Ich schwöre dir, ich weiß es nicht,
Mary Poppins! Bitte, sag's doch!«
»Halb vier Uhr. Teezeit!« sagte Mary Poppins und schwenkte
den Kinderwagen herum. Dabei klappte sie den Mund zu wie ein
Schnappschloß. Auf dem ganzen Heimweg sprach sie kein Wort
mehr. Jane blieb mit Michael zurück.
»Das ist allein deine Schuld!« sagte sie. »Nun werden wir es
nie erfahren!«
»Meinetwegen!« Und Michael stieß seinen Roller rasch vorwärts.
»Ich will's gar nicht wissen.«
Aber in Wirklichkeit hätte er es sehr gern gewußt. Und es
zeigte sich, daß er, Jane und die anderen noch vor dem Tee alles
haargenau erfuhren.
Als sie die Straße überquerten, um zu ihrem Haus zu gelangen,
hörten sie von nebenan lautes Geschrei, und es bot sich ihnen
ein seltsamer Anblick. Die beiden Hausmädchen von Miß Lark
rannten wild im Garten umher und schauten unter die Büsche
und hinauf in die Bäume, wie Leute, die ihren kostbarsten Besitz
verloren haben. Sogar Robertson Ay von Nummer 17 vertrieb
sich eifrig damit die Zeit, mit einem Besenstiel in Miß Larks
Kieswegen herumzustochern, als hoffte er, den vermißten Schatz
unter einem Steinchen zu finden. Auch Miß Lark rannte im
Garten umher, fuchtelte mit den Armen und rief immerzu: »Andy,
Andy! Oh, er ist fort! Mein Liebling ist fort! Wir müssen die
Polizei holen. Ich will aufs Ministerium. Andy ist fort! O Gott!
O Gott!«
»Die arme Miß Lark«, rief Jane und lief über die Straße. Sie
zerfloß vor Mitleid, weil Miß Lark so verstört aussah. Aber
schließlich war es Michael, der Miß Lark etwas Trost brachte.
Als er eben zum Tor von Nummer 17 hinein wollte, blickte er die
Straße hinab, und da sah er —
»Was? Dort ist doch Andy, Miß Lark! Schauen Sie doch, dort
unten — er kommt gerade um die Ecke, bei Admiral Boom!«
»Wo, wo? Zeig es mir«, rief Miß Lark ganz außer Atem und
starrte in die von Michael bezeichnete Richtung.
Und richtig, dort war Andy. Er kam so langsam und gleichgültig
daher, als wäre überhaupt nichts geschehen. Und neben ihm

trottete ein riesiges Tier, halb Airedaler und halb Vorstehhund,
von beiden Teilen jeweils die schlechtere Hälfte.
»Oh, bin ich froh!« seufzte Miß Lark laut. »Ein Stein fällt
mir vom Herzen.«
Mary Poppins und die Kinder warteten auf der Straße vor Miß
Larks Tor, Miß Lark und ihre beiden Hausmädchen lehnten sich
über den Zaun, Robertson Ay, der sich von seiner Anstrengung
ausruhte, stützte sich auf seinen Besenstiel, und alle warteten nur
auf Andy.
Gelassen näherten sich die beiden Hunde der Gruppe. Sie wedelten
keck mit dem Schwanz und hielten die Ohren steif, und Andys
Augen verrieten, daß er nicht mit sich spaßen ließ, was er auch
immer vorhaben mochte.
»Dieser fürchterliche Hund!« rief Miß Lark und schaute auf
Andys Gefährten.
»Schsch! Schsch! Geh heim!« rief sie.
Aber der Hund legte sich nur aufs Pflaster, kratzte mit der
linken Pfote das rechte Ohr und gähnte.
»Geh weg! Geh heim! Schsch! sage ich!« rief Miß Lark und
drohte ihm voll Zorn.
»Und du, Andy, komm sofort herein«, rief sie wieder. »Einfach
fortzulaufen — ganz allein und ohne deinen Mantel! Ich bin
sehr böse auf dich.«
Andy bellte träge, aber er rührte sich nicht.
»Was fällt dir ein, Andy? Komm sofort herein!«
Andy bellte wieder.
»Er sagt, daß er nicht hereinkommen will«, mischte sich Mary
Poppins ein.
Miß Lark wandte sich um und blickte sie hochmütig an. »Woher
wollen Sie wissen, was mein Hund sagt, darf ich das fragen?
Selbstverständlich wird er hereinkommen.«
Andy schüttelte jedoch nur den Kopf und knurrte leise.
»Er will nicht«, sagte Mary Poppins. »Nicht, solange sein
Freund nicht mitkommen darf.«
»Dummes Zeug«, sagte Miß Lark barsch. »Nicht möglich, daß er
das sagt. Als ob ich solch einen großen, ungeschlachten Köter bei
mir im Garten dulden könnte.«
Andy kläffte drei- oder viermal.
»Er sagt, gerade das will er«, sagte Mary Poppins. »Mehr
noch, er will fortgehen und so lange bei seinem Freund bleiben,
bis ihm erlaubt wird, mitzukommen und hierzubleiben.«
»Oh, Andy, das kannst du nicht — wirklich, das kannst du
nicht —, nach allem, was ich für dich getan habe.« Miß Lark war
dem Weinen nahe.
Andy bellte und wandte sich ab. Der andere Hund stand auf.
»Oh, er meint es wirklich«, schrie Miß Lark. »Ich sehe, daß
er darauf besteht. Er will fortgehen.« Sie schluchzte einen Augenblick
in ihr Taschentuch, dann putzte sie sich die Nase und
sagte: »Also gut, Andy, ich gebe nach. Dieser — dieser ordinäre
Hund mag bleiben. Unter der Bedingung natürlich, daß er im
Kohlenkeller schläft.«
Erneutes Kläffen von Andy.
»Das lehnt er ab, Miß Lark. Ihr Vorschlag genügt ihm nicht.
Sein Freund muß ebenso wie er ein seidenes Kissen bekommen
und auch in Ihrem Zimmer schlafen dürfen. Sonst will er mit
seinem Freund zusammen im Kohlenkeller schlafen«, sagte Mary
Poppins.
»Andy, wie kannst du nur!« stöhnte Miß Lark. »Dazu werde
ich nie meine Zustimmung geben.«
Andy sah drein, als ob er gleich weglaufen wollte. Ebenso der
andere Hund.
»Oh, er verläßt mich!« jammerte Miß Lark. »Also gut, Andy.
Ganz wie du willst. Soll er also mit in meinem Zimmer schlafen.
Aber ich werde nie wieder ich selbst sein, nie mehr, nie mehr.
Solch ein ordinärer Hund!«
Sie wischte sich über die nassen Augen und fuhr fort:
»Das hätte ich nie von dir gedacht, Andy. Aber ich werde
nichts mehr sagen, ich behalte meine Gedanken für mich. Und
dieses — hm — Tier werde ich Stromer oder Strupp nennen
oder —«
Da blickte der andere Hund Miß Lark höchst entrüstet an, und
Andy bellte laut.
»Sie sagen, daß Sie ihn Willibald nennen sollen und nicht
anders«, sagte Mary Poppins. »Willibald sei sein Name.«
»Willibald! Was für ein Name! Das wird ja immer schöner!«
rief Miß Lark verzweifelt. »Was will er denn jetzt?« Denn Andy
bellte schon wieder.
»Er sagt, wenn er zurückkommen soll, dürfen Sie ihm nie wieder
einen Mantel anziehen oder ihn zum Friseur bringen, das ist sein
letztes Wort!«
Es entstand eine Pause.
»Einverstanden!« sagte Miß Lark schließlich. »Aber ich warne
dich, Andy, mache mich nicht verantwortlich, wenn du dich erkältest
und dir den Tod holst!«
Damit wandte sie sich um und schritt hoheitsvoll, die letzten
Tränen verschluckend, die Treppe hinauf.
Andy nickte Willibald zu, als sagte er: Auf geht's, und dann
trotteten sie Seite an Seite langsam den Gartenweg hinauf, den
Schwanz wie eine Fahne schwingend. So folgten sie Miß Lark ins
Haus.
»Siehst du, er ist gar kein Dummerjan«, sagte Jane, während
sie die Treppe zum Kinderzimmer hinaufgingen, um Tee zu trinken.
»Nein«, gab Michael zu. »Aber woher, glaubst du, wußte das
Mary Poppins?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Jane. »Aber sie wird es uns nie und
nimmer sagen. Das weiß ich ganz bestimmt.«
5. Kapitel
Die tanzende Kuh
Jane lag, den Kopf fest in Mary Poppins' großes, buntes
Taschentuch eingewickelt, mit Ohrenschmerzen im Bett.
»Was für ein Gefühl ist es?« wollte Michael wissen.
»Als ob in meinem Kopf drin Schüsse knallen!« antwortete
Jane.
»Kanonen?«
»Nein, Knallbüchsen.«
»Ach«, sagte Michael. Er wünschte sich beinahe auch Ohrenschmerzen.
Es klang so aufregend.
»Soll ich dir eine Geschichte vorlesen?« fragte Michael und
ging zum Bücherbord.
»Nein, das kann ich nicht aushalten«, sagte Jane und hielt sich
mit der Hand das Ohr zu.
»Oder soll ich mich ans Fenster setzen und dir erzählen, was
draußen passiert?«
»Ja, bitte!« sagte Jane.
So saß Michael den ganzen Nachmittag auf der Fensterbank
und berichtete ihr, was auf der Straße vorging. Manchmal war
es langweilig, manchmal aber höchst aufregend.
»Da kommt Admiral Boom«, sagte Michael zum Beispiel. »Er ist
gerade aus seinem Tor getreten und läuft die Straße hinunter.
Da ist er. Seine Nase ist noch röter als sonst, und er hat einen
Zylinderhut auf. Jetzt geht er am Nebenhaus vorüber . . . «
»Sagt er >verdammt noch mal!Mein Gott<, sagte die Rote Kuh zu sich selbst, als sie schließlich
einen wilden Matrosentanz wagte. >Was für eine tolle Geschichte!
Ich dachte immer, Tanzen gehört sich nicht, aber das kann nicht
stimmen, da ich jetzt doch selbst tanze. Ich bin doch eine vorbildliche
Kuh.<
Und sie tanzte weiter und war glücklich. Am Ende wurde sie
müde und sagte sich, sie habe nun genug getanzt und wolle
schlafen gehen. Aber da merkte sie überrascht, daß sie gar nicht
aufhören konnte zu tanzen. Sie wollte hingehen und sich neben
das Rote Kalb legen. Ihre Beine ließen es nicht zu. Sie machten
weiter Luftsprünge, tänzelten und trugen sie von allein mit sich
fort. Rund um die Wiese herum ging's, hüpfend und tanzend und
auf den Fußspitzen trappelnd.
>Mein Gott!< murmelte sie hin und wieder mit ihrer feinen,
damenhaften Stimme vor sich hin. >Wie peinlich!< Aber sie konnte
es nicht lassen.
Am Morgen tanzte sie immer noch, und das Rote Kalb mußte
sein Butterblumen-Frühstück ganz allein zu sich nehmen, weil die
Rote Kuh nicht haltmachen konnte, um zu fressen. Den ganzen
Tag lang tanzte sie über die Wiese, und immer wieder rundum,
und das Rote Kalb muhte voll Mitleid hinter ihr drein.
Wieder wurde es Nacht, immer noch tanzte sie und konnte nicht
aufhören. Da wurde ihr schrecklich bange. Und nach einer Woche
unausgesetzten Tanzens war sie nahezu außer sich.
>Ich muß zum König gehn und um Rat fragen<, sagte sie entschlossen
und schüttelte den Kopf.
Sie gab also ihrem Roten Kalb einen Kuß und sprach mahnend:
>Bleib brav.< Dann wandte sie sich, tanzte aus der Wiese heraus
und ging den König fragen. Sie tanzte den ganzen Weg
entlang, schnappte im Vorübertanzen kleine Büschel Grün von
den Hecken, und überall, wo sie erschien, machten die Leute große
Augen vor Verwunderung. Aber keiner war verwunderter als die
Rote Kuh selbst.
Endlich kam sie zu dem Schloß, darin der König wohnte. Sie
zog mit dem Maul an der Klingelschnur, und als das Tor sich
auftat, tanzte sie den breiten Gartenweg hinauf, bis an die
große Treppe, die zu des Königs Thron führte. Hier saß der
König und machte wieder einmal eifrig neue Gesetze. Ein Sekretär
trug sie in ein kleines, rotes Notizbuch ein, immer der Reihe
nach, so wie sie dem König gerade einfielen. Überall standen
Höflinge und Hofdamen. Sie waren alle prächtig gekleidet und
redeten alle zu gleicher Zeit.
>Wieviel habe ich heute fertiggebracht?< fragte der König und
wandte sich seinem Sekretär zu. Dieser zählte die Gesetze, die er
in das rote Notizbuch eingetragen hatte.
>Zweiundsiebzig, Euer Majestät!< sagte er mit tiefer Verbeugung,
darauf bedacht, nicht über seinen Federkiel zu stolpern, der
besonders lang war.
>Hm. Nicht schlecht für eine Stunde Arbeit<, sagte der König
und schien recht zufrieden mit sich. >Das ist für heute genug.< Er
stand auf und legte seinen Hermelinmantel in Falten.
>Meine Kutsche! Ich muß zum Barbier<, befahl er königlich.
In diesem Augenblick sah er die Rote Kuh daherkommen. Er
setzte sich wieder und nahm das Zepter in die Hand.
>Nanu, was haben wir denn da?< fragte er, als die Rote Kuh
auf die Treppe zutanzte.
>Eine Kuh, Euer Majestät!< erklärte sie schlicht.
>Das sehe ich auch<, sagte der König. >Ich habe Augen im
Kopf. Aber was willst du? Mach schnell! Ich habe um zehn
eine Verabredung beim Barbier. Er wartet nicht länger auf mich,
und ich muß mir das Haar schneiden lassen. Und um des Himmels
willen hör auf, hier herumzutanzen und -zuspringen!< fügte er
gereizt hinzu. >Es macht mich ganz schwindlig.<
>Ganz schwindlige wiederholten die Höflinge und starrten die
Kuh an.
>Das ist es ja eben, Euer Majestät, das ist es. Ich k a n n nicht
aufhören!< jammerte die Kuh kläglich.
>Kannst nicht aufhören? Unsinn!< sagte der König wütend. S o -
fort hörst du auf! Ich, der König, befehl es dir!<
>Sofort hörst du auf! Der König befiehlt es dir<, wiederholten
die Hofschranzen.
Die Rote Kuh strengte sich an. Sie gab sich solche Mühe, mit
dem Tanzen aufzuhören, daß ihr die Muskeln und Rippen aus
dem Leib traten. Aber es half nichts. Sie mußte noch heftiger
weitertanzen vor den Stufen des königlichen Throns.
>Ich habe mir alle Mühe gegeben, Euer Majestät. Aber es geht
nicht. Ich habe nun schon volle sieben Tage getanzt. Und konnte
nicht schlafen und nur sehr wenig fressen. Ein oder zwei Weißdornbüschel
— das war alles. So kam ich her, um Euren Rat zu
erbitten.<
>Hm — sehr sonderbar<, sagte der König, schob seine Krone ein
wenig beiseite und kratzte sich am Kopf.
>Sehr sonderbar<, wiederholten die Hofschranzen und kratzten
sich ebenfalls.
>Wie fühlt man sich dabei?< fragte der König.
>Sehr komisch<, erwiderte die Rote Kuh. >Und doch<, sie machte
eine Pause, als suchte sie nach Worten, >ist es eher ein angenehmes
Gefühl. Als ob es mich innerlich zum Lachen reizte.<
>Erstaunlich!< sagte der König. Er stützte das Kinn in die
Hand, blickte nachdenklich auf die Rote Kuh und überlegte, was
hier wohl am besten zu tun sei.

Plötzlich sprang er auf und rief: >Grundgütiger Himmel!<
>Was ist?< riefen die Hofschranzen.
>Aber seht ihr denn nicht?< Vor Aufregung ließ der König das
Zepter fallen. >Was war ich doch für ein Dummkopf, daß ich es
nicht eher bemerkt habe. Und was für Dummköpfe seid ihr!< fuhr
er wütend die Hofschranzen an. >Seht ihr nicht, daß sich auf
ihrem Horn eine Sternschnuppe verfangen hat?<
>Wirklich, da ist sie!< riefen die Hofschranzen, die jetzt alle
den Stern bemerkten. Und während sie hinsahen, kam es ihnen
vor, als würde der Stern immer heller.
>Da stimmt etwas nicht!< sagte der König. >Nun, ihr Herren,
wäre es nicht besser, ihr würdet das Ding da wegnehmen, damit
diese — hm — Dame mit dem Tanzen aufhören und endlich frühstücken
kann? Der Stern ist schuld, Madam, der Stern zwingt Sie
zum Tanzen<, sagte er zur Roten Kuh. >Also los, dich meine ich.<
Und er gab dem Oberhofmeister einen Wink. Der pflanzte sich
mutig vor der Roten Kuh auf und begann, an dem Stern zu
ziehen. Der Stern wollte aber nicht abgehen. Die Höflinge stellten
sich nun alle in einer Reihe auf, bis sie schließlich eine lange
Kette bildeten. Ein jeder faßte seinen Vordermann um den Leib,
und nun begann zwischen den Schranzen und dem Stern eine Art
Tauziehen.
>Vorsicht, mein Kopf!< bat flehentlich die Rote Kuh.
>Fester ziehen!< rief der König.
Sie zogen fester. Sie zerrten, bis ihre Gesichter himbeerrot
anliefen. Sie zerrten, bis sie nicht mehr konnten und alle rückwärts
fielen, einer auf den andern. Der Stern rührte sich nicht.
Er blieb fest am Horn stecken.
>Ttt, ttt, ttt!< machte der König. >Sekretär, hol das Lexikon
und sieh nach, was dort über Kühe steht, die Sterne auf den
Hörnern tragen.<
Der Sekretär kniete nieder und suchte unter dem Thron herum.
Nach einem Weilchen tauchte er mit einem großen, grünen Buch
wieder auf, das immer dort aufbewahrt wurde für den Fall, daß
der König etwas wissen wollte.
Er blätterte in den Seiten.
>Hier ist nichts darüber zu finden, Euer Majestät, bis auf die
Geschichte von der Kuh, die über den Mond sprang, und die
kennt Ihr genau.<
Der König rieb sich das Kinn, weil ihm das beim Nachdenken
half. Er seufzte unmutig und sah die Rote Kuh an. >Alles, was ich
sagen kann, ist: Du versuchst es am besten auch.<
>Was soll ich versuchen?< fragte die Rote Kuh.
>Über den Mond zu springen. Es könnte helfen. Der Versuch
lohnt sich, so oder so.<
>Ich?< fragte die Rote Kuh mit einem gekränkten Blick.
>Natürlich du — wer sonst?< sagte der König ungeduldig. Er
hatte es eilig, zum Barbier zu kommen.
>Majestät<, bat die Rote Kuh, >bitte vergeßt nicht, daß ich
ein ehrbares und hochangesehenes Tier bin, und daß mir von Kind
auf eingeprägt wurde, Springen sei keine Beschäftigung für eine
Dame.<
>Verehrteste<, sagte der König. >Sie kamen hierher, um meinen
Rat einzuholen, und den habe ich Ihnen gegeben. Möchten Sie
ewig so weitertanzen? Möchten Sie ewig hungrig bleiben? Möchten
Sie in Zeit und Ewigkeit nicht mehr schlafen?<
Die Rote Kuh dachte an den frischen, saftigen Geschmack
des Löwenzahns. Sie dachte an das Wiesengras und wie weich es
sich darauf ruhte. Sie dachte an ihre vom Tanzen ermüdeten
Beine und wie schön es wäre, alle viere auszustrecken. Und sie
sagte sich: Einmal ist keinmal, schließlich kann es nichts schaden,
und niemand — außer dem König — braucht es zu wissen.
>Wie hoch, denkt Ihr, ist es?< fragte sie laut und tanzte schon
wieder. Der König sah zum Mond hinauf. >Mindestens eine Meile,
schätze ich.<
Die Rote Kuh nickte. Das dachte sie auch. Einen Augenblick
überlegte sie sich's noch, dann aber war sie entschlossen.
>Ich hätte nie gedacht, daß man mir je so etwas zumuten würde.
Springen — noch dazu über den Mond! Aber — ich will's versuchen.<
Sie machte vor dem Thron ihre schönste Verbeugung.
>Brav!< sagte der König, erfreut bei dem Gedanken, daß er nun
doch noch rechtzeitig zum Barbier käme. >Folge mir!<
Er ging in den Garten voraus, und die Rote Kuh und die Hofschranzen
folgten.
>So<, sagte der König, als er den großen Rasenplatz erreicht
hatte, >wenn ich dir mit der Pfeife das Zeichen gebe — dann
spring!<
Er zog seine große, goldene Pfeife aus der Tasche und blies
leicht hinein, um sich zu überzeugen, daß kein Staub darin war.
Die Rote Kuh umtanzte ihn mit gespannter Aufmerksamkeit.
>Jetzt — Eins!< rief der König.
>Zwei!<
>Drei!<
Dann ertönte schrill das Pfeifensignal.
Die Rote Kuh holte einmal tief Atem und setzte an zu einem
gewaltigen Sprung. Die Erde blieb unter ihr zurück. Sie sah,
wie die Gestalten des Königs und der Hofschranzen kleiner und
kleiner wurden, bis sie zuletzt ganz verschwanden. Sie selber
schoß in den Himmel hinauf. Die Sterne wirbelten um sie herum
wie goldene Teller, und geblendet von einem scharfen Licht,
fühlte sie auf einmal die kalten Mondstrahlen auf ihrer Haut.
Sie schloß die Augen, während sie über den Mond hinwegflog,
und als der verwirrende Glanz hinter ihr lag und sie den Kopf
zur Erde niederbeugte, spürte sie, wie der Stern von ihrem Horn
glitt. Laut aufrauschend flog er davon und rollte die Milchstraße
hinunter. Und ihr war, als ginge von ihm, während er in der
Dunkelheit verschwand, ein herrlich klingender Ton aus, der in
den Lüften widerhallte.
Kurz darauf war die Rote Kuh wieder auf der Erde gelandet.
Zu ihrer Überraschung stellte sie fest, daß sie nicht im Garten
des Königs stand, sondern auf ihrer alten Löwenzahnwiese.
Und das Tanzen hatte aufgehört! Ihre Füße waren so ruhig,
als wären sie aus Stein, und sie wandelte gelassen einher wie
jede andere ehrbare Kuh. Geruhsam und friedlich bewegte sie
sich über die Wiese und köpfte auf dem Weg zum Roten Kalb ihre
golden leuchtenden Soldaten.
>Schön, daß du wieder da bist!< rief das Rote Kalb. >Ich war
so allein!<
Die Rote Kuh gab ihm einen Kuß und begann behaglich zu fressen.
Dies war die erste richtige Mahlzeit seit einer Woche. Und
als ihr Hunger endlich gestillt war, hatte sie ganze Regimenter
aufgefressen. Danach ging es ihr wieder besser. Sie begann auch
bald wieder ihr Leben so zu führen wie bisher. Anfangs genoß
sie den stillen, regelmäßigen Tageslauf und war froh, daß sie frühstücken
konnte, ohne zu tanzen, daß sie sich ins Gras legen und
des Nachts schlafen konnte, anstatt bis in den Morgen vor dem
Mond zu scharwenzeln. Aber nach einer Weile fühlte sie sich unbehaglich
und unzufrieden. Ihre Löwenzahnwiese und ihr Rotes
Kalb waren ja ganz schön, aber sie sehnte sich nach etwas anderem
und kam nicht darauf, was es war. Schließlich wurde ihr klar, daß
sie ihren Stern vermißte. Sie war so ans Tanzen und an das glückliche
Gefühl gewöhnt, das der Stern in ihr erweckt hatte, daß sie
sich nach dem Matrosentanz sehnte und danach, ihren Stern wieder
am Horn zu tragen.
Sie grämte sich und verlor den Appetit, ihre Laune war abscheulich.
Und oft genug brach sie ohne jeden ersichtlichen Grund in
Tränen aus. Schließlich kam sie zu meiner Mutter und erzählte
ihr die ganze Geschichte und fragte sie um ihren Rat.
>Lieber Himmel!< sagte meine Mutter zu ihr. >Du glaubst doch
nicht, meine Liebe, daß nur einmal ein Stern vom Himmel gefallen
ist! Wie ich höre, fallen jede Nacht wer weiß wieviel Sterne. Aber
sie fallen natürlich auf die verschiedensten Plätze. Du kannst
nicht erwarten, daß in einem Leben zwei Sterne auf die gleiche
Wiese fallen.<
>Du glaubst also — wenn ich ein Stückchen umherwandere.. .?<
begann die Rote Kuh, und ein glückliches, begieriges Leuchten
erwachte in ihren Augen.
>Ich an deiner Stelle — ich würde mir einen Stern suchen gehen<,
sagte meine Mutter.
>Das mach ich<, sagte die Rote Kuh freudig, >das mach ich bestimmt.<
«
Mary Poppins verstummte.
»Und deshalb, glaube ich, kam sie den Kirschbaumweg entlang«,
flüsterte Jane andächtig.
»Ja«, wisperte Michael, »sie suchte nach ihrem Stern.«
Mit einem kleinen Ruck richtete sich Mary Poppins auf. Der
verträumte Blick war aus ihren Augen verschwunden (und die
Regungslosigkeit aus ihren Gliedern).
»Komm sofort vom Fenster herunter, mein Junge!« sagte sie
barsch. »Ich werde Licht machen.« Und sie eilte zum Treppenabsatz,
wo sich der Schalter befand.
»Michael«, flüsterte Jane vorsichtig. »Sieh noch einmal hinaus
und schau nach, ob die Kuh noch da ist.«
Geschwind spähte Michael in die wachsende Dunkelheit.
»Schnell!« sagte Jane. »Kannst du sie sehen?«
»Nei—ein«, sagte Michael und starrte hinaus. »Keinen Schimmer
von ihr. Sie ist fort.«
»Ich hoffe nur, daß sie ihn findet!« sagte Jane und stellte sich
vor, wie die Rote Kuh durch die Welt wanderte und nach einem
Stern suchte, den sie sich ans Horn stecken könnte.
»Ich auch!« sagte Michael. Da hörte er Mary Poppins zurückkommen
und machte rasch den Vorhang zu.
6. Kapitel
Ein schlimmer Dienstag
Nicht lange danach erwachte Michael eines Morgens mit einem
ganz merkwürdigen Gefühl. Gleich, als er die Augen aufschlug,
wußte er, daß irgend etwas nicht stimmte, aber er fand nicht
heraus, was es eigentlich war.
»Was ist heute, Mary Poppins?« fragte er und schob die Bettdecke
fort.
»Dienstag«, antwortete Mary Poppins. »Geh und laß dir das
Bad einlaufen. — Beeil dich!« setzte sie hinzu, als er keine Anstalten
traf, aufzustehen. Er drehte sich um und zog sich die Bettdecke
über den Kopf. Und das sonderbare Gefühl nahm zu.
»Was habe ich gesagt?« sagte Mary Poppins in dem kalten, bestimmten
Ton, der immer ein Warnsignal war.
Michael wußte jetzt, was mit ihm los war. Er wußte, daß ihn
etwas zwang, unartig zu sein.
»Ich mag nicht«, sagte er langsam. Seine Stimme klang dumpf
unter der Bettdecke hervor,
Mary Poppins zog ihm die Decke weg und sah auf ihn herunter.
»Ich mag nicht!«
Er wartete gespannt, was sie tun würde, und war überrascht,
als sie wortlos ins Badezimmer ging und selber den Hahn aufdrehte.
Er nahm sein Handtuch und ging, als sie herauskam, hinein.
Und zum erstenmal in seinem Leben badete Michael allein.
Er wußte nun, daß er in Ungnade gefallen war, und unterließ
es daher, sich hinter den Ohren zu waschen.
»Soll ich das Wasser auslassen?« fragte er so patzig wie möglich.
Es kam keine Antwort.
»Dann eben nicht!« sagte Michael, und der heiße, schwere
Druck auf seinem Herzen verstärkte sich und wurde immer schwerer.
»Mir soll's gleich sein.«
Danach zog er sich an, nahm aber seine besten Sachen, die, wie
er genau wußte, nur für sonntags da waren. Und dann ging er
hinunter und bumste dabei mit dem Fuß ans Treppengeländer —
etwas, was er auch nicht durfte, weil es alle Leute im Haus aus
dem Schlaf weckte. Auf der Treppe begegnete er Ellen, dem
Zimmermädchen, und stieß ihr im Vorbeigehen die Heißwasserkanne
aus der Hand.
»Du bist ein Schussel!« sagte Ellen und bückte sich, um das Wasser
aufzuwischen. »Das war das Rasierwasser für deinen Vater.«
»Ich hab's mit Absicht getan!« sagte Michael seelenruhig.
Ellens rotes Gesicht wurde ganz weiß vor Überraschung.
»Auch noch mit Absicht? — Dann bist du ein ganz abscheulicher
Bengel, und ich werd's deiner Mama sagen.«
»Sag's doch!« sagte Michael und ging weiter die Treppe hinunter.
Ja, so fing's an, und den ganzen Tag ging's dann so weiter.
Das heiße, schwere Gefühl inwendig ließ ihn die ärgsten Sachen
anstellen, und sobald er eine Untat verübt hatte, fühlte er sich
richtig glücklich und froh und zu einem neuen Streich aufgelegt.
In der Küche bearbeitete Mistreß Brill einen Kuchenteig.
»Halt, junger Mann«, sagte sie, »du kannst die Schüssel noch
nicht auskratzen, soweit ist es noch nicht.«
Da schob Michael den Fuß vor und gab Mistreß Brill ordentlich
eins gegen das Schienbein, so daß sie den Teigroller fallen ließ
und laut aufjammerte.
»Du hast Mistreß Brill mit dem Fuß gestoßen? Unsere gute
Mistreß Brill? Ich schäm mich für dich!« sagte seine Mutter
später, als Mistreß Brill ihr alles haarklein erzählt hatte. »Gleich
bittest du sie schön um Verzeihung! Sag, es tut dir sehr leid,
Michael.«
»Es tut mir gar nicht leid. Froh bin ich. Warum hat sie auch
so dicke Beine!« Und ehe die Mutter ihn am Schlafittchen packen
konnte, rannte er über die Küchentreppe in den Garten. Dort
stolperte er durchaus nicht zufällig über Robertson Ay, der mitten
in der schönsten Alpenflora in tiefem Schlaf lag. Robertson Ay
nahm es sehr übel.
»Ich sag's deinem Papa!« rief er drohend.
»Und ich werde ihm sagen, daß du heute morgen die Schuhe
nicht geputzt hast«, entgegnete Michael, ein bißchen erschrocken
über sich selbst. Bisher hatten er und Jane immer Robertson Ay
in Schutz genommen, weil sie ihn gern hatten und ihn nicht verlieren
wollten.
Aber der Schrecken dauerte nicht lange, und bald begann er zu
überlegen, was er jetzt anstellen sollte. Und gleich fiel ihm etwas
ein.
Durch die Spalten des Lattenzauns entdeckte er Andy, Miß
Larks Andy, der drüben wählerisch am Rasen herumschnüffelte
und sich die besten Grasspitzen aussuchte. Michael lockte Andy
leise zu sich her und gab ihm einen Keks aus seiner Tasche. Während
Andy ihn behaglich zerkaute, band er seinen Schwanz mit
einer Schnur am Zaun fest. Dann lief er davon, und Miß Larks erbostes
Kreischen gellte ihm nach, während sein Herz schier zersprang
unter dem aufregenden Druck des Kloßes in seinem Innern.
Die Tür zu seines Vaters Zimmer stand offen — denn Ellen
hatte soeben die Bücher abgestaubt. Das verlockte Michael, etwas
Verbotenes zu tun. Er ging hinein, setzte sich an seines Vaters
Schreibtisch und begann mit seines Vaters Feder das Löschpapier
vollzukritzeln. Auf einmal stieß er mit dem Ellbogen gegen
das Tintenfaß und warf es um, und Stuhl und Schreibtisch und
Federhalter und sein eigener Sonntagsanzug waren über und über
voll blauer Tintenflecke. Es sah schrecklich aus, und Michael
bekam Angst, was nun passieren würde. Aber gerade zum Trotz
machte er sich nichts daraus — es tat ihm nicht ein bißchen
leid.
»Das Kind muß krank sein«, sagte Mistreß Banks, als Ellen —
die unversehens ins Zimmer kam und ihn entdeckte — ihr den
letzten Streich berichtete. »Michael, du bekommst jetzt einen Löffel
Feigensirup.«
»Mir fehlt nichts. Mir ist wohler als dir!« sagte Michael.
»Dann bist du einfach unartig«, sagte seine Mutter, »und mußt
deine Strafe bekommen.«
Es dauerte nicht lange, und Michael stand samt seinem beklecksten
Anzug in einer Ecke des Kinderzimmers, mit dem Gesicht
zur Wand.
Jane versuchte, mit ihm zu reden, als Mary Poppins gerade
nicht herschaute, aber er wollte nicht antworten und streckte
ihr die Zunge heraus. Nun kamen John und Barbara an die Reihe.
Sie rutschten auf dem Boden zu ihm hin, griffen nach seinen
Schuhen und jauchzten dabei. Aber er stieß sie unsanft beiseite.
Und die ganze Zeit freute er sich seiner Boshaftigkeit und
hätschelte sie, als wäre sie sein Liebstes, und nichts bekümmerte
ihn.
»Ich will nicht brav sein!« sagte er laut vor sich hin, als er beim
Nachmittagsspaziergang im Park hinter Mary Poppins, Jane und
dem Kinderwagen herzottelte.
»Trödle nicht!« sagte Mary Poppins und schaute sich nach ihm
um. Aber er trödelte weiter und schlurfte mit den Schuhen übers
Pflaster, damit die Sohlen ordentlich abgeschabt wurden.
Auf einmal drehte Mary Poppins sich um und sah ihn an, eine
Hand am Griff des Kinderwagens.
»Du bist heute morgen auf der verkehrten Seite aus dem Bett
gestiegen!«
»Das bin ich nicht«, erwiderte Michael. »Es gibt gar keine verkehrte
Seite an meinem Bett.«
»Jedes Bett hat eine richtige und eine verkehrte Seite«, sagte
Mary Poppins nachdrücklich.
»Meins nicht — es steht an der Wand.«
»Das ist gleich. Es hat trotzdem zwei Seiten«, lachte Mary
Poppins.
»Nun, ist dann die linke oder die rechte Seite die verkehrte?
Ich bin nämlich auf der rechten Seite aus dem Bett gestiegen, wie
kann es dann verkehrt sein?«
»Beide Seiten waren heute morgen verkehrt, Mister Besserwisser.
«
»Aber mein Bett hat nur eine Seite, und wenn ich an der
rechten heraus bin —«, widersprach er hartnäckig.
»Noch ein Wort von dir —«, fing Mary Poppins an, und sie
sagte es in so drohendem Ton, daß Michael ein bißchen ängstlich
wurde. »Noch ein Wort, und ich werde —« Sie sagte nicht, was sie
tun würde, trotzdem beschleunigte er seine Schritte.
»Benimm dich doch anständig!« wisperte Jane.
»Und du sei still!« gab er zurück, aber so leise, daß Mary Poppins
es nicht hörte.
»So, mein Lieber, du gehst jetzt schneller — vor mir, bitte«,
sagte Mary Poppins. »Ich habe keine Lust, dich länger hinterhertrödeln
zu lassen. Du tust mir einen Gefallen, wenn du vorausgehst.
« Sie schubste ihn nach vorn. »Und dort liegt etwas auf
dem Weg, das glitzert und funkelt. Ich wäre dir dankbar, wenn
du hingingst und es aufheben und mir herbringen würdest. Vielleicht
hat jemand seinen Schmuck verloren.«
Widerwillig, weil er doch nicht wagte, es nicht zu tun, schaute
Michael in die Richtung, in die sie deutete. Richtig — dort lag
etwas Glitzerndes auf dem Weg. Aus der Entfernung sah es sehr
verlockend aus. Es funkelte, als wollte es ihm zuwinken. Er ging
weiter, drehte und wandte sich ein wenig, ging so gemächlich,
wie er nur konnte und tat, als ob er nicht nachsehen wollte.
Endlich erreichte er die Stelle, bückte sich und hob das glitzernde
Ding auf. Es war eine kleine, runde Schachtel mit einem
Glasdeckel. Auf dem Glas war ein Pfeil eingeritzt. Im Innern
war eine runde Scheibe, auf der, wie es schien, Buchstaben
standen. Die Scheibe schwankte sacht, als er die Schachtel bewegte.
Jane kam angelaufen und blickte ihm über die Schulter.
»Was ist es denn, Michael?« fragte sie.
»Das sag ich dir nicht«, entgegnete Michael und wußte selbst
nicht, was es war.
»Mary Poppins, was ist das?« bettelte Jane, als der Kinderwagen
sie eingeholt hatte. Mary Poppins nahm Michael die kleine
Schachtel aus der Hand.
»Die gehört mir«, sagte er trotzig.
»Nein, mir«, gab Mary Poppins zurück. »Ich hab sie zuerst
gesehen.«
»Aber ich hab sie aufgehoben!« Er versuchte, ihr die Schachtel
zu entreißen, aber sie warf ihm einen Blick zu, daß seine Hand
herabsank.
Mary Poppins wendete das Ding hin und her, und im Sonnenlicht
tanzten Scheibe und Buchstaben wie toll in dem Gehäuse.
»Wozu ist das?« fragte Jane.
»Um damit um die Welt zu reisen«, antwortete Mary Poppins.
»Pah!« rief Michael. »Um die Welt reist man in einem Schiff
oder in einem Flugzeug. Das weiß ich. Das Schachtelding könnte
dich nie um die Welt tragen.«
»O wirklich — könnte es das nicht?« sagte Mary Poppins mit
einem sonderbaren Ich-weiß-es-besser-als-du-Ausdruck. »Gib gut
acht!«
Sie hielt den Kompaß in der Hand, wandte sich zum Eingang
des Parks und sagte: »Nord!«
Die Buchstaben rasten um den Pfeil, in einem schwindelerregenden
Tanz. Plötzlich wurde es schneidend kalt in der Luft, und
der Wind wehte so eisig, daß Jane und Michael die Augen zukniffen.
Als sie sie wieder aufschlugen, war der Park verschwunden
— nichts war mehr zu sehen, weder ein Baum noch eine Bank
noch ein asphaltierter Fußweg, alles fort. Statt dessen waren sie
von riesigen, blauen Eisblöcken umgeben, und unter ihren Füßen
lag dick gefrorener Schnee.
»Oh, oh!« rief Jane und zitterte vor Kälte und Überraschung.
Sie lief zu den Zwillingen und wickelte sie in die Kinderwagendecke
ein. »Was ist denn mit uns geschehen?«
Mary Poppins schaute vielsagend auf Michael. Es blieb ihr
keine Zeit zu einer Antwort, denn im selben Augenblick kam aus
einem Loch in einem der Eisblöcke ein Eskimo gekrochen, das
runde, braune Gesicht von einer weißen Fellmütze umrahmt, und
mit einem langen, weißen Pelz über den Schultern.
»Willkommen am Nordpol, Mary Poppins, und auch ihr ande-
ren alle!« sagte der Eskimo, übers ganze Gesicht lächelnd. Dann
trat er näher und rieb zur Begrüßung seine Nase der Reihe nach
an ihren Nasen. Jetzt kam auch eine Eskimodame aus dem Loch
gekrochen. Sie trug ein Eskimobaby, das in ein Seehundsfell eingewickelt
war.
»Aber, Mary, ist das eine Freude!« rief sie, und das Nasenreiben
begann von neuem. »Ihr werdet schön frieren!« Überrascht
blickte sie auf die dünnen Kleider. »Warte, ich hole schnell Mäntel
für euch. Wir haben ein paar Eisbärenfelle hängen. Und ihr wollt
sicher gern etwas Warmes essen, einen Teller Transuppe, nicht
wahr, meine Lieben?«
»Ich fürchte, wir können uns nicht länger aufhalten«, unterbrach
sie Mary Poppins schnell. »Wir reisen um die Welt und
schauten nur für einen Augenblick herein — aber trotzdem, vielen
Dank. Vielleicht ein andermal!«
Und mit einer leichten Handbewegung drehte sie den Kompaß
und sagte: »Süd!«
Jane und Michael kam es vor, als wirbelte die ganze Welt im
Kreis herum wie der Kompaß, sie aber stünden unbeweglich im
Mittelpunkt. So wird einem zumute, wenn ein Karussellbesitzer
sich den Spaß macht und einen in den Motorraum seines Karussells
mitnimmt, während sich draußen alles dreht.
Während die Welt um sie herumwirbelte, spürten sie, wie
ihnen wärmer und wärmer wurde, und als sich das Tempo verlangsamte
und wieder Ruhe eintrat, da standen sie vor einem Palmenwäldchen.
Die Sonne schien heiß, und ringsumher breitete sich
goldener und silberner Sand aus, der unter ihren Füßen wie Feuer
brannte.
Unter den Palmen saßen ein Mann und eine Frau, beide schwarz
von Kopf bis Fuß und nur wenig bekleidet. Aber zum Ausgleich
trugen sie viele, viele Glasperlen — einige baumelten ihnen von
einer großen Federkrone herab um den Kopf, andere hingen an
ihren Ohren, ein oder zwei sogar an ihrer Nase. Glasperlenschnüre
schlangen sich um ihren Hals und lagen, zu Gürteln geflochten,
um ihre Hüften. Auf dem Schoß der Negerdame saß ein
Baby, das hatte überhaupt nichts am Leibe. Es lachte die Kinder
an, als seine Mutter zu sprechen begann.
»Ah, wir dich schon lang erwarten, Mary Poppins«, sagte sie
lächelnd. »Du bringen Kinder in meine kleine Haus, sie gleich
sollen haben ein Stück Melone. Aber das sein schrecklich weiße
Babys. Du sie müssen anstreichen ein bißchen mit schwarzes Schuhpaste.
Kommen mit jetzt. Ihr sein sehr willkommen!« Und sie
lachte laut und froh und stand auf und wollte sie zu einer kleinen
Palmhütte führen.
Jane und Michael hatten Lust, ihr zu folgen, aber Mary Poppins
hielt sie zurück.
»Wir haben leider keine Zeit, hier zu bleiben. Schauten nur
herein, als wir vorbeikamen, versteht ihr? Wir müssen noch um
die ganze Welt —«, sagte sie zur Erklärung, und die beiden
schwarzen Leute schlugen vor Erstaunen die Hände zusammen.
»Ihr haben aber eine Reise vor, o Mary Poppins!« sagte der
Mann. Er lachte, rieb sich mit dem Ende seiner großen Keule die
Backe und blickte sie aus schwarzen Funkelaugen an.
»Um die ganze Welt? Mein, aber das sein besser als arbeiten,
was?« sagte seine Frau. Auch sie lachte, als sei das ganze Leben
ein riesiger Spaß, und während sie noch lachte, drehte Mary Poppins
den Kompaß und sagte laut und entschieden: »Ost!«
Wieder fing die Welt an herumzuwirbeln, und auf einmal —
den erstaunten Kindern schien es nur ein Augenblick — waren die
Palmen verschwunden. Als das Gewirbel aufgehört hatte, befanden
sie sich in einer Straße, an der fremdartige Häuschen standen.
Sie sahen aus, als ob sie aus Papier wären, und die geschweiften
Dächer waren mit Glöckchen behängt, die leise im Wind
läuteten. Über die Häuser breiteten Mandel- und Pflaumenbäume
ihre Zweige, die sich unter leuchtenden Blüten bogen. Auf der
Straße lustwandelten Menschen in seltsam geblümten Gewändern.
Es war ein sehr heiterer und friedlicher Anblick.
»Ich glaube, wir sind in China«, flüsterte Jane Michael zu.
»Ja, ich glaub es bestimmt!« fuhr sie fort, als jetzt in einem
der kleinen Papierhäuser die Tür aufging, aus der ein alter Mann
herauskam. Der war wunderlich angetan mit einem steifen
Kimono aus Goldbrokat und seidenen Hosen, die an den Knöcheln
ein goldener Ring zusammenhielt. Seine Schuhe waren an
den Spitzen schwungvoll nach oben gebogen. Von seinem Kopf
hing ein langer, grauer Zopf fast bis zu den Knien herab und von
seinen Lippen ein langer Bart, der bis zum Gürtel reichte.
Als der alte Herr Mary Poppins und die Kinder stehen sah,
verbeugte er sich tief bis zum Boden. Jane und Michael sahen
überrascht, wie Mary Poppins sich ebenso tief verneigte, so daß
die Margeriten auf ihrem Hut die Erde berührten.
»Wo bleiben eure Manieren?« zischte Mary Poppins und sah
aus dieser ungewöhnlichen Stellung zu ihnen auf. Sie sagte es in
einem Ton, daß es Jane und Michael ratsam schien, sich auch zu
verbeugen, und selbst die Zwillinge neigten die Stirn bis an den
Rand des Kinderwagens.
Der alte Herr richtete sich feierlich auf und begann zu sprechen:
»Hochzuverehrende Mary aus dem Hause der Poppins. Laß
dich herab, auf mein unwürdiges Haus das Licht deiner trefflichen
Gunst auszustrahlen. Und, ich flehe dich an, führe zu seinem
öden Herd auch deine vornehmen Reisegefährten.« Er machte
noch eine Verbeugung und winkte mit der Hand nach seinem
Hause hin.
Jane und Michael hatten noch nie eine so seltsame und wundervolle
Ansprache gehört und waren sehr verdutzt. Aber noch größer
war ihr Erstaunen, als Mary Poppins die Einladung mit der
gleichen Feierlichkeit beantwortete.
»Gütiger Herr«, fing sie an, »es erfüllt uns mit tiefem Bedauern,
daß wir, die unscheinbarsten deiner Bekannten, deine
großmütige und königliche Einladung ausschlagen müssen. Das
Lämmchen geht nicht widerspenstiger fort von der Mutter noch
das Vöglein vom Nest, als wir uns von deiner strahlenden Gegenwart
losreißen. Aber, edler und hochzupreisender Herr, wir sind
auf einer Reise um die Welt begriffen, und unser Besuch deiner
ehrenwerten Stadt kann leider nur ganz vorübergehend sein. Er-
laube daher, daß wir Unwürdigen ohne jede weitere Förmlichkeit
von dir scheiden.«
Der Mandarin, denn das war der Mann in der Tat, neigte den
Kopf und schickte sich zu einer weiteren kunstvollen Verbeugung
an, da setzte Mary Poppins ganz schnell den Kompaß wieder in
Bewegung.
»West!« sagte sie energisch.
Rundum drehte sich die Welt, bis Jane und Michael ganz
schwindlig waren. Und als es wieder ruhig wurde, eilten sie mit
Mary Poppins durch große Fichtenwälder auf eine Lichtung zu,
auf der rund um ein riesiges Feuer mehrere Zelte aufgeschlagen
waren. Im Feuerschein huschten dunkle Gestalten hin und her.
Sie waren mit Federn geschmückt und trugen ein loses Hemd zu
fransenbesetzten Hasenfellhosen. Eine dieser Gestalten trennte
sich von den übrigen und kam geschwind auf Mary Poppins und
die Kinder zu.
»Morgenstern-Mary«, sagte er. »Ich grüße dich!« Und er beugte
sich über sie und legte seine Stirn an die ihre. Dann wandte er sich
den vier Kindern zu und machte es bei ihnen ebenso.
»Mein Wigwam erwartet euch«, fuhr er mit ernster, freundlicher
Stimme fort. »Wir braten gerade ein Renntier zum Abendessen.
«
»Häuptling Sonne-am-Mittag«, antwortete Mary Poppins, »wir
sind nur zu kurzem Besuch gekommen — tatsächlich, wir kamen
sozusagen, um Abschied zu nehmen. Wir sind rund um die Welt
gereist, und dies ist der letzte Hafen, den wir anlaufen.«
»Ha? Ist das so?« fragte der Häuptling und sah sehr interessiert
aus. »Ich habe oft daran gedacht, so etwas selbst zu tun.
Aber sicher könnt ihr ein bißchen bei uns bleiben, wenigstens so
lang, bis dieser junge Mann« (er nickte Michael zu) »seine Kraft
mit meinem Ur-Ur-Urenkel >Schnell-wie-der-Wind< gemessen
hat!« Der Häuptling klatschte in die Hände.
»Hei-ho-hi!« rief er laut, und von den Zelten rannte ein kleiner
Indianerbub auf ihn zu. Er trat sofort zu Michael und gab ihm
einen leichten Schlag auf die Schulter.
»Du bist dran!« rief er und lief davon wie ein Hase.
Das war zuviel für Michael. Mit einem Satz war er hinter
ihm her, und Jane hinter ihnen beiden. Die drei rannten zwischen
den Bäumen umher, umkreisten immer wieder eine riesige Fichte,
immer ihrem Anführer >Schnell-wie-der-Wind< nach, der immerzu
lachte und immer außer Reichweite blieb. Jane blieb erschöpft
zurück, aber Michael packte jetzt die Wut, er biß die Zähne
zusammen und flog laut schreiend hinter >Schnell-wie-der-Wind<
her, entschlossen, sich nicht von einem Indianerjungen schlagen zu
lassen.
»Ich werd dich schon kriegen!« schrie er und strengte sich an,
noch schneller zu laufen.
»Was willst du?« fragte Mary Poppins schneidend.
Michael blickte nach ihr zurück und hielt plötzlich inne. Dann
wandte er sich, um die Verfolgung wieder aufzunehmen, aber zu
seiner Verblüffung war keine Spur von >Schnell-wie-der-Wind<
mehr zu sehen. Weder von dem Häuptling und den Zelten noch
vom Feuer. Nicht einmal eine Fichte war da. Nichts als eine
Gartenbank, und Jane und die Zwillinge und Mary Poppins, die
mitten im Park standen.
»Immerzu rund um die Gartenbank rennen, als wärst du verrückt
geworden! Man sollte meinen, daß du für einen Tag unartig
genug warst! Komm jetzt!« schalt Mary Poppins.
»Rund um die Welt und in einer Minute wieder zurück — was
für eine wunderbare Schachtel!« sagte Jane glücklich.
»Gib mir meinen Kompaß wieder!« verlangte Michael patzig.
»Meinen Kompaß, wolltest du sagen«, erwiderte Mary Poppins
und steckte ihn in die Tasche.
Michael blickte sie an, als wollte er sie umbringen, und so war
ihm auch zumute. Aber er zuckte nur die Schultern und machte
sich davon und sagte kein Wort mehr.
»Mit diesem Jungen könnte ich jeden Tag fertigwerden«, redete
er sich selber ein, während er das Tor von Nummer 17 passierte
und die Treppe hinaufstieg.
Der Druck inwendig hatte noch nicht nachgelassen. Nach dem
Abenteuer mit dem Kompaß schien es noch schlimmer zu werden.
Gegen Abend wurde er immer unartiger. Er kniff die Zwillinge,
wenn Mary Poppins gerade nicht hinschaute, und wenn sie weinten,
erkundigte er sich mit heuchlerischer Teilnahme:
»Was habt ihr denn, Kinderchen, was ist los?«
Aber Mary Poppins ließ sich dadurch nicht täuschen.
»Du wirst schon sehen, daß etwas in dir steckt!« äußerte sie
vielsagend. Aber der abscheuliche Druck inwendig machte ihn
gleichgültig. Er zuckte nur die Achseln und zupfte Jane an den
Haaren. Und danach ging er an den Abendbrottisch und warf
seine eingebrockte Milch um.
»Jetzt reicht's aber!« sagte Mary Poppins. »Eine solche Aufsässigkeit
ist mir noch nicht vorgekommen. In meinem ganzen
Leben nicht. Hinaus mit dir! Marsch, ins Bett, und kein Wort
mehr!«
Er hatte sie noch nie so böse gesehen.
Aber noch immer machte er sich nichts daraus.
Er ging ins Schlafzimmer und zog sich aus.
Nein, er machte sich nichts daraus. Er war schlecht, und wenn
sie sich nicht vorsahen, würde er noch viel schlechter werden.
Ihm war es gleich. Er haßte sie alle. Wenn sie nicht aufpaßten,
würde er davonlaufen und zum Zirkus gehen. Schwupp! Weg war
ein Knopf. Schön — da hatte er morgen weniger zu tun. Noch
einer! Um so besser! Nichts in der Welt konnte ihn je dazu bringen,
etwas zu bedauern. Er würde ins Bett gehen, ohne sich das
Haar zu bürsten oder die Zähne — und ganz gewiß, ohne sein
Nachtgebet zu sprechen.
Als er fertig und mit einem Fuß schon im Bett war, sah er den
Kompaß oben auf der Kommode liegen.
Ganz langsam zog er seinen Fuß zurück und huschte auf den
Zehenspitzen durchs Zimmer. Er wußte jetzt, was er tun wollte.
Er wollte den Kompaß nehmen, ihn drehen und rund um die Welt
fahren. Und nie würden sie ihn wiederfinden. Das geschähe ihnen
recht. Ganz leise nahm er einen Stuhl und schob ihn an die Kommode.
Er kletterte hinauf und nahm den Kompaß in die Hand.

Er schüttelte ihn.
»Nord, Süd, Ost, West!« sagte er rasch, damit keiner hereinkäme,
ehe er fort war.
Ein Geräusch hinter dem Stuhl schreckte ihn auf, und er drehte
sich schuldbewußt um, in der Erwartung, Mary Poppins zu sehen.
Statt dessen standen da vier riesige Gestalten, die auf ihn losfuhren.
Der Eskimo mit einem Speer, die Negerdame mit der
Riesenkeule ihres Mannes, der Mandarin mit einem großen
Krummschwert und der rote Indianer mit einem Tomahawk. Aus
allen vier Ecken des Zimmers drangen sie auf ihn ein, die Waffen
hoch über dem Kopf schwingend, und statt gut und freundlich
auszusehen wie am Nachmittag, erschienen sie ihm nun voller
Zorn und Rachedurst. Fast waren sie schon über ihm, ihre riesengroßen,
schrecklichen, wütenden Gesichter rückten näher und
näher. Er spürte ihren heißen Atem auf dem Gesicht und sah sie
die Waffen schwingen.
Mit einem Schrei ließ Michael den Kompaß fallen.
»Mary Poppins — Mary Poppins — zu Hilfe, zu Hilfe!«
brüllte er und kniff die Augen ganz fest zu.
Da fühlte er, wie ihn etwas einhüllte, etwas Weiches und Warmes.
Was war das? Der Pelzmantel des Eskimos, der Umhang des
Mandarins, das Hasenfell des roten Indianers, die Federn der
schwarzen Dame? Wer hatte ihn eingefangen? Oh, wäre er nur
artig gewesen — hätte er nur . ..
»Mary Poppins!« jammerte er, als er sich durch die Luft getragen
und auf etwas noch viel Weicheres niedergelegt fühlte.
»Oh, liebe Mary Poppins!«
»Schon gut, schon gut. Ich bin ja nicht taub. Gott sei Dank!
Kein Grund, zu schreien!« hörte er sie ruhig sagen.
Er machte ein Auge auf. Nichts deutete auf die Anwesenheit
der vier Riesengestalten aus dem Kompaß. Um sicher zu sein, öffnete
er auch das andere Auge. Nirgends ein Schimmer von ihnen.
Er setzte sich auf, schaute im ganzen Zimmer umher. Nichts war
zu sehen.
Dann merkte er, das Weiche um ihn herum war seine eigene
Decke und das Weiche, auf dem er lag, sein eigenes Bett. Und
auch der schwere, lastende Druck, der ihn den ganzen Tag über
gequält hatte, war spurlos vergangen. Er fühlte sich friedlich
und glücklich und hätte am liebsten allen, die er kannte, etwas
zum Geburtstag geschenkt.
»Was — was ist denn passiert?« fragte er Mary Poppins ganz
ängstlich.
»Ich hab dir gesagt, daß das mein Kompaß ist, nicht wahr?
Sei so gut und laß gefälligst meine Sachen in Ruh!« war alles,
was sie antwortete, während sie sich bückte, den Kompaß aufhob
und in ihre Tasche steckte. Dann begann sie, die Kleider aufzuräumen,
die er auf dem Boden hatte liegen lassen.
»Soll ich das nicht machen?« fragte er.
»Nein, danke.«
Sie ging ins Nebenzimmer, und plötzlich kehrte sie zurück und
gab ihm etwas Warmes in die Hand. Es war eine Tasse Milch.
Michael kostete mit der Zunge und trank dann langsam Schlückchen
für Schlückchen, um Mary Poppins möglichst lange an seinem
Bett festzuhalten. Er konnte ihre raschelnde, weiße Schürze riechen
und den schwachen Duft von geröstetem Brot, der sie immer
so köstlich umgab. Aber so sehr er es auch hinzuziehen versuchte,
die Milch reichte nicht ewig, und schließlich gab er ihr mit einem
leisen Seufzer die leere Tasse zurück und kuschelte sich im Bett
zurecht. Ich hab noch nie gewußt, dachte er, wie behaglich es ist
und zugleich, wie warm und wie wohl ich mich fühle, und wie
glücklich ich bin, am Leben zu sein.
»Ist das nicht komisch, Mary Poppins«, murmelte er schläfrig.
»Ich bin so ungezogen gewesen, und jetzt fühle ich mich so schrecklich
wohl.«
»Gsch!« machte Mary Poppins. Sie deckte ihn gut zu. Dann
ging sie hinaus, um das Geschirr abzuwaschen.

7. Kapitel
Die Vogelfrau
»Vielleicht ist sie gar nicht da«, meinte Michael.
»Freilich ist sie da«, sagte Jane. »Sie ist immer da, seit
jeher.«
Sie gingen den Ludgate Hill hinauf und waren auf dem Weg,
ihren Vater in der Stadt zu besuchen. Denn er hatte heute morgen
zu Mistreß Banks gesagt:
»Meine Liebe, wenn's nicht regnet, könnten Jane und Michael
vielleicht heute zu mir ins Büro kommen — wenn es dir recht
ist, natürlich. Ich glaube fast, ich würde mich gern zu Tee und
mürben Brezeln einladen lassen, und ich kann mir nicht oft ein
solches Vergnügen erlauben.«
Mistreß Banks hatte erwidert, sie wolle es sich noch überlegen.
Aber den ganzen Tag über machte sie, obwohl Jane und
Michael sie voll Spannung beobachteten, nicht den Eindruck, als
überlege sie sich's überhaupt. Nach ihren Reden zu schließen,
dachte sie nur über die Wäscherechnung nach und über Michaels
neuen Mantel, und darüber, wo wohl Tante Flossies Adresse
stecke, und warum diese verdrehte Mistreß Jackson sie auf den
zweiten Donnerstag im Monat zum Tee eingeladen hatte, wo sie
doch wußte, daß dies gerade der Tag war, an dem Mistreß Banks
zum Zahnarzt mußte.
Doch plötzlich, als sie schon überzeugt waren, daß Mistreß
Banks überhaupt nicht an Mister Banks Vergnügen dachte, sagte
sie: »Nun, Kinder, steht doch nicht da und starrt mich an. Zieht
euch an. Ihr geht doch in die Stadt, um mit eurem Vater Tee zu
trinken. Habt ihr's denn vergessen?«
Als ob sie das hätten vergessen können! Denn es war nicht nur
der Tee, der wichtig war. Da war noch die Vogelfrau, und die war
der Gipfel des Vergnügens. Deshalb gingen sie jetzt in heller
Aufregung den Ludgate Hill hinauf.
Mary Poppins ging zwischen ihnen, hatte ihren neuen Hut auf
und sah sehr fein aus. Hin und wieder warf sie einen Blick in
ein Schaufenster, nur um sich zu vergewissern, daß der Hut noch
da war und die rosa Rosen sich nicht in gewöhnliche Ringelblumen
verwandelt hatten.
Jedesmal, wenn sie deshalb stehenblieb, seufzten Jane und
Michael, wagten aber nicht, etwas zu sagen, aus Furcht, sie könnte
dann noch länger ins Schaufenster schauen, nach allen Seiten
sich drehend, um festzustellen, welche Haltung am kleidsamsten
sei.
Aber schließlich kamen sie doch zur Sankt-Pauls-Kathedrale.
Vor langer Zeit war sie von einem Mann erbaut worden, der
einen Vogelnamen hatte. Deshalb leben so viele Vögel in der
Nähe der Kathedrale, und deshalb lebt dort auch die Vogelfrau.
»Da ist sie!« schrie Michael plötzlich und trippelte vor Aufregung
auf den Fußspitzen.
»Man zeigt nicht mit dem Finger!« sagte Mary Poppins und
warf vor dem Fenster eines Teppichladens einen letzten Blick auf
die rosa Rosen.
»Sie sagt es! Sie sagt es!« jauchzte Jane und mußte an sich
halten, sonst wäre sie vor Entzücken zersprungen.
Und sie sagte es wirklich. Die Vogelfrau war da und sagte:
»Füttert die Vögel, einen Zweier die Tüte! Füttert die Vögel,
einen Zweier die Tüte! Füttert die Vögel, einen Zweier die Tüte!«
Immer und immer wieder dieselbe Leier, mit einer hohen, singenden
Stimme, so daß es wie ein Lied klang.
Und während sie es sagte, hielt sie den Vorübergehenden kleine
Tüten mit Brotkrumen hin.
Um sie herum flogen die Vögel, sie kreisten und hüpften,
schossen herab und flogen auf. Mary Poppins nannte sie immer
»eitle Spatzen«, weil sie sich einbildete, alle Vögel seien so eitel
wie sie. Aber Jane und Michael wußten genau, es waren keine
Spatzen, es waren Tauben. Es gab graue, betuliche und schwatzhafte
Tauben wie Großmütter, braune mit heiseren Stimmen
wie Onkels und grünliche wie Väter, die immer gurrten: »Nein,
ich hab kein Geld heute.« Und die törichten, ängstlichen, zarten
blauen Tauben waren wie Mütter. So jedenfalls dachten Jane und
Michael darüber.
Sie flogen immerzu rund um den Kopf der Vogelfrau, während
die Kinder näher kamen, aber plötzlich, als wollten sie sie necken,
schossen sie durch die Luft und setzten sich auf die Spitze von
Sankt Paul, lachten und drehten die Köpfe weg und taten, als ob
sie die Vogelfrau nicht kannten.
Heute war es an Michael, eine Tüte zu kaufen, das letztemal
war Jane an der Reihe gewesen. Er trat auf die Vogelfrau zu und
hielt ihr zwei Pennies hin.
»Füttert die Vögel, einen Zweier die Tüte!« sagte die Vogelfrau,
während sie ihm eine Tüte mit Krumen in die Hand gab
und das Geld in die Falten ihres weiten, schwarzen Rockes versenkte.
»Warum hast du nicht Einpennytüten?« fragte Michael. »Dann
könnte ich zwei kaufen.«
»Füttert die Vögel, einen Zweier die Tüte!« antwortete die
Vogelfrau, und Michael wußte wohl, daß es nichts nutzte, noch
mehr Fragen zu stellen. Er und Jane hatten es schon oft versucht,
aber alles, was sie sagen konnte, und alles, was sie nach wie
vor sagen würde, war »Füttert die Vögel, einen Zweier die Tüte!«
Genau wie ein Kuckuck auch nur »kuckuck« sagen kann, ganz
gleich, welche Frage man an ihn stellt.
Jane und Michael und Mary Poppins streuten die Krumen rings
auf den Boden, und alsbald kamen die Tauben von Sankt Paul
herunter, erst einzeln und dann zu zweit und zu dritt.
»Leckermaul!« sagte Mary Poppins naserümpfend, als eine
Taube eine Krume aufpickte und sie wieder aus dem Schnabel
fallen ließ.
Aber die anderen Tauben drängten sich um das Futter, sie
stießen und balgten sich mit lautem Gezänk. Zuletzt war nicht
eine Krume mehr da, denn für eine Taube gehörte es sich, nichts
übrigzulassen. Als wirklich alles aufgepickt war, stiegen sie mit
einem einzigen großen Flügelrauschen auf und schwirrten der
Vogelfrau um den Kopf. Dabei ahmten sie in ihrer eigenen Sprache
die Worte nach, die sie immer sagte. Eine setzte sich ihr auf den
Hut, als wäre sie eine Garnierung. Und eine andere hielt versehentlich
Mary Poppins' neuen Hut für einen Blumengarten und
pickte eine Rose weg.
»Du frecher Spatz!« rief Mary Poppins und schlug mit dem
Schirm nach ihr. Die Taube war beleidigt, flog zur Vogelfrau
zurück und steckte ihr die Rose, um es Mary Poppins heimzuzahlen,
in das Hutband.
»Du gehörst in den Kochtopf — du!« schalt Mary Poppins
ärgerlich. Dann rief sie nach Jane und Michael.
»Zeit, zu gehen!« sagte sie und warf einen letzten, wütenden
Blick auf die Taube. Aber die lachte nur, fächerte den Schwanz
auf und drehte ihr den Rücken zu.
»Auf Wiedersehen!« sagte Michael zur Vogelfrau.
»Füttert die Vögel!« antwortete sie lächelnd.
»Auf Wiedersehen!« sagte auch Jane.
»Einen Zweier die Tüte!« Und die Vogelfrau winkte ihr mit
der Hand.
Dann gingen sie brav neben Mary Poppins her.
»Was geschieht, wenn alle Leute fortgegangen sind — wie wir?«
sagte Michael leise zu Jane.
Er wußte ganz gut, was dann geschah, aber es gehörte sich,
Jane zu fragen, denn die Geschichte hatte sie sich ausgedacht.
»Bei Nacht, wenn alle Leute zu Bett gehen —«, begann Jane.
»Und die Sterne herauskommen«, half ihr Michael.
»Ja, und auch wenn keine Sterne da sind — dann kommen alle
Tauben von der Spitze von Sankt Paul herunter und suchen
gründlich den Boden ab und sehen überall nach, ob keine Krumen
mehr daliegen, denn am Morgen muß der Boden blitzblank sein.
Und wenn sie damit fertig sind —«
»Du hast das Baden vergessen.«
»Ach ja — sie baden und kämmen sich die Flügel mit ihren
Krallen. Und wenn sie damit fertig sind, umfliegen sie dreimal den
Kopf der Vogelfrau und lassen sich dann auf ihr nieder.«

»Setzen sie sich ihr auf die Schultern?«
»Ja, und auf ihren Hut.«
»Und auch auf den Korb mit den Tüten?«
»Ja, und manche auf ihre Knie. Dann streicht sie einer nach
der andern die Federn am Kopf glatt und ermahnt sie, eine brave
Taube zu sein —«
»In der Vogelsprache?«
»Natürlich! Und wenn sie dann alle schläfrig sind und nicht
mehr länger wach bleiben mögen, breitet sie ihren Rock aus, wie
eine Gluckhenne ihre Flügel, und die Tauben kriechen allesamt
darunter. Und sobald die letzte untergekrochen ist, läßt sie sich
über ihnen nieder und gluckst und gurrt ganz leise, und dann
schlafen sie alle bis zum Morgen.«
Michael seufzte befriedigt. Er liebte diese Geschichte und wurde
nie müde, sie zu hören.
»Und das ist alles wirklich wahr? Ganz bestimmt?« fragte er
wie gewohnt.
»Nein!« sagte Mary Poppins, da sie immer »nein« sagte.
»Ja«, sagte Jane, da sie immer alles besser wußte.
8. Kapitel
Mistreß Corry
»Zwei Pfund Schweinswurst — von der besten!« verlangte
Mary Poppins. »Und bitte rasch, wir haben's eilig!«
Der Metzger, der eine große, blau-weiß gestreifte Schürze
hatte, war ein dicker, freundlicher Mann. Außerdem war er sehr
groß, hatte ein rotes Gesicht und glich ein wenig seinen eigenen
Würsten. Er lehnte sich auf seinen Hackklotz und schaute Mary
Poppins bewundernd an. Dann blinzelte er vergnügt Jane und
Michael zu.
»Was? Gar so eilig?« sagte er zu Mary Poppins. »Wie schade!
Ich hab gehofft, Sie wär'n auf einen kleinen Schwatz 'reingekommen.
Wir Metzger, wissen Sie, haben gern ein bißchen Gesellschaft.
Und wir haben nicht oft Gelegenheit, mit einer feschen,
jungen Dame wie Sie —« Nach einem Blick auf Mary Poppins'
Gesicht brach er ab, denn ihre Miene war einfach zum Fürchten.
Der Metzger wünschte, eine Spalte solle sich im Boden öffnen
und ihn verschlucken.
»Aber natürlich —«, stotterte er und wurde noch viel röter als
sonst. »Wenn Sie's eilig haben, natürlich. Zwei Pfund, sagten Sie?
Von der besten? Recht haben Sie.«
Er nahm von den Würsten, die wie Girlanden im Laden hingen,
eine besonders lange vom Haken, schnitt ein ellenlanges Stück
ab — legte es im Ring zusammen und wickelte die Wurst erst in
weißes und dann in braunes Papier. Das fertige Päckchen schob
er Mary Poppins über den Hackklotz zu.
»Und was noch?« fragte er erwartungsvoll, noch ganz rot.
»Danke, nichts weiter!« antwortete Mary Poppins frostig.
Sie nahm die Wurst, drehte den Kinderwagen rasch um und
schob ihn so nachdrücklich zum Laden hinaus, daß dem Metzger
klar wurde, wie schwer er sie beleidigt hatte. Trotzdem warf sie
im Vorbeigehen einen Blick ins Schaufenster, um im Spiegel ihre
neuen Schuhe zu begutachten. Sie waren aus hellbraunem Ziegenleder,
mit zwei Knöpfen, sehr schick.
Jane und Michael trotteten hinter ihr her und überlegten,
ob sie nicht bald mit ihrer Einkaufsliste zu Ende sei, aber nach
einem Blick in ihr Gesicht wagten sie nicht, danach zu fragen.
Mary Poppins blickte die Straße hinauf und hinunter, tief in
Gedanken versunken, dann, als falle ihr plötzlich etwas ein, sagte
sie kurz: »Fischhändler!« Sie schob den Kinderwagen in den
Laden neben dem Metzger.
»Eine Seezunge, anderthalb Pfund Heilbutt, eine Büchse Krebse
und einen Hummer!« verlangte sie, und zwar so rasch, daß nur
jemand, der solche Bestellungen gewohnt war, sie überhaupt verstehen
konnte.
Im Gegensatz zum Metzger war der Fischhändler ein langer,
dünner Mann, so dünn, daß von vorn gesehen nichts an ihm dran
war, sondern nur von der Seite. Er sah so trübselig drein, daß man
das Gefühl hatte, entweder habe er soeben geweint, oder er werde
es gleich tun. Jane meinte, vielleicht käme es von einem geheimen
Kummer, der ihn schon von Kind auf quälte, und Michael dachte,
der Fischhändler habe als Kind wohl nur Brot und Wasser bekommen
und könne das einfach nicht vergessen.
»Sonst noch was?« fragte der Fischhändler, nicht besonders zuversichtlich,
wie sein Ton verriet.
»Heute nicht«, sagte Mary Poppins.
Der Fischhändler schüttelte trübselig den Kopf und sah keineswegs
überrascht aus. Er hatte sowieso gewußt, daß nichts mehr
dazukommen würde.
Leise hüstelnd machte er das Paket fertig und legte es in den
Kinderwagen.
»Schlechtes Wetter heute«, bemerkte er und fuhr sich mit der
Hand über die Augen. »Glaub nicht, daß es überhaupt noch Sommer
wird — übrigens haben wir noch nie einen gehabt. Sie sehen
auch nicht gerade blühend aus«, wandte er sich an Mary Poppins.
Mary Poppins warf den Kopf hoch.
»Behalten Sie Ihre Meinung für sich!« sagte sie barsch und eilte
zur Tür, wobei sie den Kinderwagen so ungestüm vorwärts stieß,
daß er an einen Sack mit Austern bumste.
»So eine Unverschämtheit«, hörten Jane und Michael sie sagen.
Auch bemerkten sie deutlich, wie sie auf ihre neuen Schuhe schaute
und dachte: >nicht gerade blühend<, in solch nagelneuen, braunen
Ziegenlederschuhen mit zwei Knöpfen! Nein, so was!
Draußen auf dem Bürgersteig blieb sie stehen, blickte in ihre
Liste und strich aus, was sie schon eingekauft hatte. Michael trat
von einem Fuß auf den andern. Er fragte ungeduldig:
»Mary Poppins, gehen wir denn nie mehr nach Hause?«
Mary Poppins drehte sich um und betrachtete ihn mit sichtlichem
Widerwillen.
»Du wirst es erwarten können«, antwortete sie kurz und faltete
die Liste zusammen. Michael wünschte, er hätte nichts gesagt.
»Du kannst ja heim, wenn du willst«, sagte sie von oben herab.
»Wir gehen jetzt Pfefferkuchen kaufen.«
Michael zog ein langes Gesicht. Hätte er doch bloß den Mund
gehalten! Er hatte nicht geahnt, daß am Schluß der Liste Pfefferkuchen
standen.
»Dort ist dein Weg«, sagte Mary Poppins und zeigte in die
Richtung des Kirschbaumwegs. »Daß du mir nicht verlorengehst!«
fiel ihr noch nachträglich ein.
»Ach nein, Mary Poppins, bitte nein! So hab ich's nicht gemeint,
wirklich nicht. Ich — ach, Mary Poppins, bitte —«, jammerte
Michael.
»Nimm ihn doch mit«, bat Jane. »Ich will auch den Kinderwagen
schieben, wenn du ihn mitnimmst.«
Mary Poppins schnupfte auf. »Wäre es nicht Freitag, wärst
du im Handumdrehen zu Haus«, sagte sie geheimnisvoll zu
Michael, »wirklich im Handumdrehen.«
Sie setzte sich mit John und Barbara wieder in Bewegung. Jane
und Michael merkten, daß sie nachgegeben hatte und folgten ihr,
sich überlegend, was sie mit dem Handumdrehen gemeint hatte.
Auf einmal merkte Jane, daß sie in die falsche Richtung gingen.
»Mary Poppins, wolltest du nicht Pfefferkuchen kaufen? —
Das ist aber nicht der Weg zu Green, Brown und Johnsen, den
wir sonst immer gegangen sind —«, begann sie zaghaft, stockte
jedoch gleich wieder nach einem Blick auf Mary Poppins' Gesicht.
»Mache ich Einkäufe oder du?« fragte Mary Poppins.
»Du!« gab Jane kleinlaut zu.
»O wirklich? Meiner Ansicht nach geht der Weg so herum«,
sagte Mary Poppins und lachte spöttisch.
Sie gab dem Kinderwagen einen leichten Druck zur Seite und
bog um die Ecke. Dort hielt sie plötzlich an, und da Jane und
Michael hinter ihr dreintrotteten, mußten sie notgedrungen auch
stehenbleiben.
Sie standen vor dem seltsamsten Laden, den sie je gesehen
hatten. Er war sehr klein und sehr ärmlich. Verblaßte, bunte
Papierschleifen hingen in den Schaufenstern, deren Auslage aus
armseligen Bechern mit Halbgefrorenem, alten Lakritzenstangen
und gedörrten, hartgewordenen Apfelschnitten bestand. Zwischen
den Fenstern war ein schmaler, dunkler Eingang, und dort hinein
steuerte Mary Poppins den Kinderwagen. Jane und Michael folgten
ihr.
Drinnen im Laden konnten sie nur undeutlich den mit einer
Glasplatte bedeckten Ladentisch erkennen, der an den drei Wänden
entlanglief. Im Kasten unter der Glasplatte lag eine Unmenge
dunkler, knuspriger Pfefferkuchen, jeder einzelne mit einem
goldenen Stern verziert. Der ganze Laden schimmerte davon.
Jane und Michael schauten sich um, wer hier wohl bediente. Sie
waren verblüfft, als Mary Poppins laut rief:
»Fannie! Annie! Wo seid ihr denn?« Wie ein Echo hallte ihre
Stimme von den dunklen Wänden zurück.
Auf ihren Ruf kamen hinter dem Ladentisch zwei Gestalten
hervor, so riesig, wie Jane und Michael noch nie welche gesehen
hatten. Sie schüttelten Mary Poppins die Hand. Dann beugten
sich die Riesenfrauen über den Ladentisch vor und sagten mit einer
Stimme, die so großmächtig war wie sie selber »guten Tag«. Dabei
schüttelten sie auch Jane und Michael die Hand.
»Wie geht es Ihnen, Miß —?« Michael zögerte, weil er nicht
wußte, welche der beiden großen Damen er vor sich hatte.
»Ich heiße Fannie!« sagte die eine. »Mein Rheumatismus ist
immer noch schlimm, vielen Dank für die Nachfrage.« Sie sprach
so weinerlich, als sei sie eine liebenswürdige Behandlung gar nicht
gewohnt.
»Schönes Wetter heute«, begrüßte Jane artig die andere Schwester,
die mit mächtigem Händedruck Janes Hand festhielt.
»Ich bin Annie!« sagte sie in klagendem Ton. »Schön ist, wer
schön handelt.«
Jane und Michael fanden, daß sich beide Schwestern reichlich
sonderbar ausdrückten, aber es blieb ihnen nicht viel Zeit, sich
zu wundern, denn Miß Annie und Miß Fannie streckten jetzt ihre
langen Arme nach dem Kinderwagen aus. Jede schüttelte feierlich
einem der Zwillinge die Hand, die so erstaunt waren, daß sie zu
schreien anfingen.
»Aber, aber, aber! Was ist denn, was ist denn?« erklang eine
hohe, dünne, zitterige Stimme aus dem Ladenhintergrund. Bei
ihrem Klang wurden die traurigen Gesichter von Miß Annie und
Miß Fannie noch trauriger. Sie sahen ganz erschrocken und verschüchtert
aus, und Jane und Michael kam es so vor, als hätten
sich die beiden Riesenschwestern am liebsten ganz klein und unscheinbar
gemacht.
»Was muß ich hören?« rief die zitterige Stimme und kam näher.
Und plötzlich schob sich um die Ecke des Ladentischs eine alte
Dame, die so klein und piepsig war wie ihre Stimme und ebenso
zitterig. Den Kindern kam sie älter vor als alles in der Welt,
mit ihrem Haar, das aussah wie ein Flederwisch, ihren Stöckelbeinen
und ihrem verschrumpelten, winzigen Gesicht. Aber im
Gegensatz zu ihrem Aussehen lief sie so leicht und munter auf
sie zu wie ein junges Mädchen.
»Aber, aber, aber — ah, ich fange an, zu verstehen! Himmel,
wenn das nicht Mary Poppins ist mit John und Barbara Banks!
Jane und Michael sind auch dabei? Das nenne ich eine Ãœberraschung!
Ich kann euch sagen, seit Christoph Kolumbus Amerika
entdeckt hat, habe ich keine solche Überraschung mehr erlebt —
wirklich nicht!«
Sie lächelte verzückt, während sie mit kleinen, hüpfenden Schritten
zur Begrüßung näher kam. In ihren winzigen Zugstiefelchen
hüpfte sie zum Kinderwagen, schaukelte ihn sanft und fuhr mit
ihren dünnen, krummen, alten Fingern so lange vor Johns und
Barbaras Gesicht hin und her, bis sie mit dem Schreien aufhörten
und lachten.
»So ist's besser!« sagte sie und kicherte lustig. Dann tat sie
etwas höchst Seltsames. Sie brach sich zwei von ihren Fingern ab
und gab einen John und einen Barbara. Was aber das Erstaunlichste
war: in der Lücke wuchsen sofort zwei neue Finger nach.
Jane und Michael konnten es deutlich sehen.
»Nur Gerstenzucker — kann nicht schaden!« sagte die alte
Dame zu Mary Poppins.
»Alles, was Sie ihnen geben, Mistreß Corry, kann nur gut für
sie sein«, antwortete Mary Poppins mit ungewohnter Höflichkeit.
»Wie schade, daß es keine Pfefferminzstangen sind!« konnte
Michael nicht unterdrücken.
»Manchmal sind es welche«, sagte Mistreß Corry verschmitzt,
»und die schmecken auch sehr gut. Oft knabbere ich sie selber
auf, wenn ich nachts nicht schlafen kann. Besonders gut für die
Verdauung!«
»Woraus werden sie das nächstemal sein?« fragte Jane und besah
höchst aufmerksam Mistreß Corrys Finger.
»Das ist eben die Frage«, sagte Mistreß Corry. »Ich weiß es
nie vorher, woraus sie sein werden. >Ich laß es darauf ankommen,
Liebling<, so hörte ich Wilhelm den Eroberer zu seiner Mutter
sagen, als sie ihm abriet, England zu erobern.«
»Da müssen Sie aber schrecklich alt sein!« Jane seufzte vor
Neid. Sie konnte sich nicht vorstellen, daß sie sich je würde an
soviel erinnern können wie Mistreß Corry.
Die warf ihren kleinen Flederwischkopf zurück und gluckste
vor Lachen.
»Alt!« rief sie. »Im Vergleich zu meiner Großmutter bin ich
noch das reinste Küken. Sie ist wirklich eine alte Frau. Aber
ich habe auch schon eine Menge erlebt. Ich kann mich noch an
die Zeit erinnern, als diese Welt geschaffen wurde, damals war
ich schon aus den Kinderschuhen. Du meine Güte, war das ein
Durcheinander, das kann ich dir sagen!«
Sie brach ab und heftete ihre kleinen Augen auf die Kinder.
»Aber, lieber Gott — da steh ich und schwatze und ihr habt
noch nichts bekommen. Ich nehme an, meine Liebe —«, sie wandte
sich an Mary Poppins, die eine alte Bekannte zu sein schien, »ihr
seid wegen der Pfefferkuchen gekommen?«
»Erraten, Mistreß Corry«, antwortete Mary Poppins sehr höflich.
»Sehr gut! Haben euch Fannie und Annie noch keine gegeben?«
Bei dieser Frage sah sie Jane und Michael an.
Jane schüttelte den Kopf. Zwei schüchterne Stimmen kamen hinter
dem Ladentisch hervor:
»Nein, Mutter«, sagte Miß Fannie betreten.
»Wir waren dabei, Mutter«, flüsterte Miß Annie verschüchtert.
Mistreß Corry richtete sich auf, so hoch sie konnte, und betrachtete
ihre riesigen Töchter voll Zorn. Sie sagte leise, aber verärgert
und höhnisch:
»Eben dabei? Wirklich? Das ist ja höchst interessant. Und wer,
darf ich fragen, Annie, gab dir die Erlaubnis, m e i n e Pfefferkuchen
fortzugeben —?«
»Niemand, Mutter. Und ich hab sie auch nicht fortgegeben.
Ich dachte nur —«
»Du dachtest nur. Das ist sehr gütig von dir. Aber ich wäre
dir dankbar, wenn du es bleiben ließest. Was es hier zu denken
gibt, besorge ich!« erklärte Mistreß Corry mit ihrer leisen, schrecklichen
Stimme. Dann brach sie in ein grelles, gackerndes Gelächter
aus.
»Schaut sie an! Schaut sie nur an! Angsthase! Heulsuse!«
kreischte sie und zeigte mit ihrem knotigen Finger auf die Tochter.
Jane und Michael drehten sich um und sahen, wie eine große
Träne über Miß Annies trauriges Gesicht kullerte. Aber sie wagten
nichts zu sagen, denn so winzig Mistreß Corry war, sie fühlten
sich vor ihr verlegen und eingeschüchtert. Aber als Mistreß Corry
jetzt wegschaute, benutzte Jane die Gelegenheit, Miß Annie ihr
Taschentuch zuzustecken. Die riesengroße Träne durchnäßte es
ganz, und Miß Annie wand es mit einem dankbaren Blick auf
Jane aus, ehe sie es ihr zurückgab.
»Und du, Fannie — du hast wohl auch gedacht?« Die hohe,
dünne Stimme wandte sich nun an die andere Tochter.
»Nein, Mutter«, antwortete Miß Fannie bebend.
»Hm! Dein Glück. Mach den Kasten auf!«
Mit unsicheren, ungeschickten Fingern öffnete Miß Fannie den
Glaskasten.
»So, Kinderchen«, sagte nun Mistreß Corry mit völlig veränderter
Stimme. Sie lächelte liebevoll und nickte Jane und Michael
zu. Nun schämten sich beide, weil sie sich vor ihr gefürchtet hatten,
und begriffen, daß sie trotz allem sehr nett war.
»Wollt ihr nicht herkommen und euch etwas aussuchen, meine
Lämmchen? Es ist ein besonderes Rezept — eins, das ich von
Alfred dem Großen bekommen habe. Das war ein guter Koch, wie
ich mich erinnere, obwohl er einmal die Kuchen hat anbrennen
lassen. Wieviel wollt ihr?«
Jane und Michael blickten fragend auf Mary Poppins.
»Jeder vier«, bestimmte sie, »das macht zwölf — ein Dutzend.«
»Ich will daraus ein Bäckerdutzend machen — nehmt dreizehn!«
forderte Miß Corry sie freundlich auf.
So wählten also Jane und Michael dreizehn Pfefferkuchen aus,
auf jedem war ein vergoldeter Papierstern. Michael konnte nicht
widerstehen, eine Ecke anzuknabbern.
»Gut?« piepste Mistreß Corry, und als er nickte, nahm sie ihre
Röcke auf und machte aus purem Vergnügen ein paar schottische
Tanzschritte.
»Hurra, hurra, das ist wunderbar — hurra!« rief sie mit ihrer
schrillen, dünnen Stimme. Dann hielt sie an, und ihr Gesicht wurde
wieder ernst.
»Aber versteht mich recht — ich kann sie nicht herschenken.
Ihr müßt sie bezahlen. Jeder von euch einen Dreier.«
Mary Poppins öffnete ihre Börse und nahm drei Dreipennystücke
heraus. Sie gab Jane und Michael je einen Dreier.
»So«, sagte Mistreß Corry, »steckt sie an meine Jacke! Dahin
kommen sie alle.«
Sie besahen sich ihre schwarze, lange Jacke sehr genau. Und
tatsächlich, sie war so dicht mit Pennies besetzt wie die Jacke
einer Hökerin mit Perlmutterknöpfen.
»Kommt nur! Steckt sie an!« sagte Mistreß Corry noch einmal
und rieb sich die Hände. »Ihr werdet sehen, sie fallen nicht ab.«
Mary Poppins machte einen Schritt vorwärts und drückte ihren
Dreier an den Kragen von Mistreß Corrys Jacke.
Zur großen Überraschung Janes und Michaels blieb er hängen.
Dann setzten die beiden ihre Dreier auf die Jacke — Jane auf
die rechte Schulter und Michael aufs Vorderteil. Auch ihre Dreier
saßen fest.
»Wie sonderbar!« sagte Jane.
»Gar nicht, meine Liebe«, kicherte Mistreß Corry. »Vielmehr
nicht so sonderbar wie manches, was ich erzählen könnte.« Und
sie machte eine weit ausladende Handbewegung zu Mary Poppins
hin.
»Ich fürchte, wir müssen jetzt gehen, Mistreß Corry«, sagte
diese. »Es gibt heute gebrannte Eierkrem zum Mittagessen, und
ich muß zeitig daheim sein, um sie zu machen. Diese Mistreß
Brill —«
»Eine armselige Köchin?« fragte Mistreß Corry teilnehmend.
»Armselig?« sagte Mary Poppins geringschätzig. »Das ist gar
kein Ausdruck dafür.«
»Ach so!« Und Mistreß Corry rieb sich mit dem Finger die Nase
und machte ein verständnisvolles Gesicht. Dann sagte sie: »Nun,
meine liebe Miß Poppins, das war ein sehr angenehmer Besuch,
und meine beiden Mädel haben sich gewiß nicht weniger gefreut
als ich.« Sie nickten ihren beiden großen, traurigen Töchtern zu.
»Und Sie kommen doch recht bald wieder, nicht wahr, mit Jane
und Michael und den Kleinen? — Könnt ihr die Pfefferkuchen
denn auch tragen?« fügte sie, sich an Jane und Michael wendend,
hinzu.
Sie nickten, Mistreß Corry kam näher und warf ihnen einen
sonderbar bedeutsamen und fragenden Blick zu.
»Ich möchte wohl wissen, was ihr mit den Papiersternen macht«,
sagte sie träumerisch.
»Oh, die werden wir aufheben«, antwortete Jane. »Das tun wir
immer.«
»Ach — ihr hebt sie auf! Aber ich wüßte gern, wo.«
»Nun«, gestand Jane, »meine liegen alle unter den Taschentüchern
in der oberen linken Schublade —«
»Und meine in einer Schuhschachtel im obersten Fach des
Kleiderschranks«, sagte Michael.
»Obere linke Schublade und Schuhschachtel im Kleiderschrank«,
wiederholte Mistreß Corry nachdenklich, als ob sie sich die Worte
einprägen wollte. Dann blickte sie Mary Poppins ein Weilchen an
und nickte leicht mit dem Kopf. Mary Poppins nickte leicht zurück.
Es war, als teilten sie miteinander ein Geheimnis.
»Nun«, sagte Mistreß Corry vergnügt, »das ist ja sehr interessant.
Ihr glaubt nicht, wie froh ich bin, weil ich nun weiß, wo
ihr eure Sterne aufhebt. Ich werde es nicht vergessen. Ihr wißt,
ich kann mich an alles erinnern — sogar daran, was Guy Fawkes
jeden zweiten Sonntag zum Abendbrot bekam. Und nun, auf
Wiedersehen. Kommt bald, bald wie-ie-ie-der!«
Mistreß Corrys Stimme schien immer schwächer zu werden und
dahinzuschwinden, und plötzlich, ohne daß Jane und Michael
merkten, wie es geschah, fanden sie sich auf die Straße zurückversetzt,
wo sie hinter Mary Poppins herzottelten, die soeben
wieder ihre Liste nachprüfte.
Sie drehten sich um und blickten zurück.
»Na, so was, Jane, er ist nicht mehr da!« entfuhr es Michael
überrascht.
»Ich such ihn auch«, sagte Jane und schaute und schaute.
Und sie hatten recht. Der Laden war verschwunden.
»Wie sonderbar!« sagte Jane.
»Find ich auch!« sagte Michael. »Aber die Pfefferkuchen
schmecken gut.«
Sie waren damit beschäftigt, ihren Pfefferkuchen durch Beknabbern
eine immer neue Gestalt zu geben — die eines Mannes,
einer Blume, einer Teekanne — daß sie dabei völlig vergaßen,
w i e sonderbar das Ganze war.
In der Nacht jedoch, als die Lichter gelöscht waren und man
annehmen mußte, daß sie schon schliefen, fiel es ihnen wieder
ein.
»Jane, Jane!« flüsterte Michael. »Ich höre jemand auf der
Treppe herumschleichen — horch!«
»Pst!« machte Jane aus ihrem Bett, denn auch sie hatte das
Schleichen gehört.
Auf einmal ging mit leisem Knacken die Tür auf und jemand
huschte ins Zimmer. Es war Mary Poppins, in Hut und Mantel,
fertig zum Ausgehen.
Rasch und heimlich bewegte sie sich durchs Zimmer.
Jane und Michael beobachteten sie unter den Augenlidern hervor
und rührten sich nicht.
Zuerst huschte sie zur Kommode, öffnete eine Schublade und
schloß sie gleich wieder. Dann schlich sie auf Zehenspitzen zum
Kleiderschrank und öffnete ihn. Sie beugte sich nieder und legte
etwas hinein oder nahm etwas heraus. Was von beiden sie tat,
vermochten die Kinder nicht zu erkennen. Schnapp! Die Tür
des Kleiderschrankes schloß sich, und Mary Poppins verließ das
Zimmer.
Michael setzte sich im Bett auf.
»Was hat sie gemacht?« flüsterte er Jane kaum vernehmlich zu.
»Keine Ahnung! Vielleicht hatte sie ihre Handschuhe vergessen
oder ihre Schuhe oder —« Jane unterbrach sich plötzlich. »Horch,
Michael!«
Er horchte. Von unten — vom Garten, wie es schien — konnten
sie mehrere Stimmen eifrig und aufgeregt miteinander flüstern
hören.
Mit einem Satz sprang Jane aus dem Bett und winkte Michael.
Sie schlichen auf bloßen Füßen ans Fenster, verbargen sich hinter
dem Vorhang und guckten hinunter.
Draußen auf der Straße standen drei Gestalten: zwergenhaft
klein die eine, die beiden anderen riesengroß.
»Mistreß Corry, Miß Fannie und Miß Annie!« flüsterte Jane.
So war es. Sie bildeten eine seltsame Gruppe. Mistreß Corry
spähte durch die Latten des Gartentores von Nummer 17, Miß
Fannie balancierte zwei lange Leitern auf ihrer mächtigen Schulter,
und Miß Annie trug in der einen Hand einen großen Eimer
mit etwas, das aussah wie Leim, und in der andern Hand einen
gewaltigen Malerpinsel.
Von ihrem Versteck hinter dem Vorhang aus konnten Jane und
Michael deutlich ihre Stimmen verstehen.
»Sie verspätet sich!« sagte Mistreß Corry soeben, mürrisch und
ärgerlich.
»Vielleicht«, meinte Miß Fannie schüchtern und rückte die
Leiter auf ihrer Schulter zurecht, »vielleicht ist eins der Kinder
krank geworden, und sie konnte nicht —«
»Zur rechten Zeit fortkommen«, vollendete Miß Annie aufgeregt
den Satz ihrer Schwester.
»Ruhe!« befahl Mistreß Corry voll Zorn, und Jane und Michael
hörten sie deutlich etwas flüstern, das wie »große, hirnlose Giraffen
« klang. Sie waren sich klar, daß sich das auf Mistreß Corrys
unglückliche Töchter bezog.
»Still!« sagte Mistreß Corry plötzlich. Sie horchte mit zur Seite
geneigtem Kopf wie ein kleiner Vogel.
Ein Geräusch kam von der Haustür, die sacht geöffnet und
wieder zugemacht wurde. Dann raschelten auf dem Kiesweg leise
Schritte. Mistreß Corry lächelte und winkte mit der Hand, als
Mary Poppins näher kam. Sie trug einen Marktkorb am Arm,
und darin lag etwas, von dem ein schwaches, geheimnisvolles
Leuchten auszugehen schien.
»Kommen Sie, wir müssen uns eilen! Wir haben nicht mehr viel
Zeit!« rief Mistreß Corry und nahm Mary Poppins am Arm.

»Schlaft nicht, ihr zwei!« Und sie ging voraus, gefolgt von
Miß Fannie und Miß Annie, die sichtlich bemüht waren, recht
lebhaft zu wirken, doch ohne viel Erfolg. Unter ihrer Last gebeugt
trampelten sie schwerfällig hinter ihrer Mutter und Mary
Poppins her.
Jane und Michael sahen, wie alle vier den Kirschbaumweg
hinuntergingen, sich dann ein wenig nach links wandten und
den Hügel hinaufstiegen. Oben, wo es keine Häuser mehr gab,
nur noch Gras und Klee, blieben sie stehen. Miß Annie setzte ihren
Eimer mit Leim ab. Miß Fannie ließ die Leitern von der Schulter
gleiten und richtete sie auf, bis sie beide sicher standen.
Dann hielt sie die eine und Miß Annie die andere Leiter ganz
fest.
»Was, um Himmels willen, haben sie vor?« fragte Michael
gähnend.
Aber Jane antwortete ihm nicht, und er sah nun selber, was
geschah.
Sobald Miß Fannie und Miß Annie die Leitern so aufgestellt
hatten, daß sie mit dem einen Ende fest auf der Erde standen,
während sie mit dem anderen am Himmel zu lehnen schienen,
raffte Mistreß Corry ihre Röcke zusammen, nahm den Eimer mit
Leim in die eine Hand und ergriff mit der andern den Malerpinsel.
Dann setzte sie ihren Fuß auf die unterste Leitersprosse und begann
hinaufzusteigen. Mary Poppins, den Korb in der Hand, stieg
die zweite Leiter hinauf.
Und jetzt bekamen Jane und Michael etwas höchst Merkwürdiges
zu sehen. Sobald Mistreß Corry an der Spitze ihrer Leiter angelangt
war, tunkte sie ihren Pinsel in den Leim und schwappte
das klebrige Zeug an den Himmel. Kaum war das geschehen, da
nahm Mary Poppins etwas Leuchtendes aus ihrem Korb und
tupfte es an den Leim. Als sie ihre Hand wegzog, sahen die Kinder,
daß sie Pfefferkuchensterne an den Himmel klebte. Jeder
Stern fing gleich an zu funkeln und sandte blitzende, goldene
Strahlen aus.
»Das sind doch unsere Sterne!« sagte Michael atemlos. »Unsere
Sterne. Sie glaubte, wir schliefen, und kam herein und hat sie
geholt.«
Doch Jane blieb stumm. Sie sah zu, wie Mistreß Corry den
Leim an den Himmel schwappte, Mary Poppins die Sterne
daranklebte und Miß Fannie und Miß Annie die Leitern weiterrückten,
sobald wieder eine Lücke am Himmel ausgefüllt werden
sollte.
Schließlich war alles vorbei. Mary Poppins schüttelte ihren
Korb aus und zeigte Mistreß Corry, daß er leer war. Dann kletterten
sie die Leitern herunter, und die Prozession kam wieder
den Hügel herab: Miß Fannie die Leitern geschultert, Miß Annie
mit dem leeren Eimer rasselnd.
An der Ecke blieben sie einen Augenblick stehen und schwatzten,
dann schüttelte Mary Poppins allen die Hand und eilte wieder
nach Haus. Mistreß Corry tanzte leichtfüßig in ihren Zugstiefelchen
davon und hielt die Röcke zierlich mit den Händen gerafft.
So verschwand sie in der entgegengesetzten Richtung, und ihre
riesigen Töchter stapften geräuschvoll hinter ihr drein.
Das Gartentor klinkte. Schritte knirschten auf dem Kies. Die
Haustür öffnete und schloß sich, leise einschnappend. Jane und
Michael hörten Mary Poppins sachte die Treppe heraufkommen,
auf Zehenspitzen zum Kinderzimmer und dann hinüber ins nächste
Zimmer schleichen, wo sie mit John und Barbara schlief.
Sobald es wieder still war, sahen sich beide an. Dann gingen
sie beide wortlos zur oberen linken Schublade und schauten hinein.
Nichts war darin als ein Häufchen Taschentücher von Jane.
»Ich hab's dir gleich gesagt!« sagte Michael.
Schnell gingen sie zum Kleiderschrank und schauten in die
Schuhschachtel. Auch sie war leer.
»Aber wieso denn? Warum denn?«
Michael setzte sich auf den Rand seines Bettes und starrte Jane
verwundert an.
Jane gab keine Antwort. Die Arme um die Knie geschlungen,
setzte sie sich neben ihn und dachte und dachte. Schließlich schüt-
telte sie das Haar zurück, streckte sich und stand auf. Dann
meinte sie:
»Was ich unbedingt wissen möchte, ist: sind nun die Sterne aus
Goldpapier oder ist das Goldpapier aus Sternen gemacht?«
Es kam keine Antwort, und sie erwartete auch keine. Sie wußte,
daß nur jemand viel Gescheiterer als Michael ihr die richtige Antwort
geben könnte.
9. Kapitel
Die Geschichte von Barbara und John
Jane und Michael waren zu einer Einladung gegangen. Sie
hatten ihre besten Sachen angezogen, und das Zimmermädchen
Ellen hatte bei ihrem Anblick erklärt: die reinsten Schaufensterpuppen!
Das Haus war an diesem Nachmittag sehr still und ruhig. Unten
in der Küche las, die Brille auf der Nase, Mistreß Brill die
Zeitung. Robertson Ay saß im Garten und tat so, als täte er was.
Mistreß Banks hatte sich's im Wohnzimmer auf dem Sofa bequem
gemacht. Das ganze Haus schien in Schlaf versunken. Es träumte
wohl seine eigenen Träume oder hing vielleicht auch seinen Gedanken
nach.
Oben im Kinderzimmer trocknete Mary Poppins die Kleider
am Kaminfeuer. Das Sonnenlicht drang zum Fenster herein, flimmerte
auf den weißen Wänden und tanzte über die Bettchen, in
denen die Kleinen lagen.
»Mach, daß du weiterkommst! Du scheinst mir gerade in die
Augen«, sagte John laut.
»Tut mir leid«, erklärte das Sonnenlicht. »Ich kann's nicht
ändern. Ich muß nun einmal das Zimmer durchqueren. Befehl ist
Befehl. Ich muß in einem Tag von Osten nach Westen wandern,
und mein Weg führt durch dieses Kinderzimmer. Tut mir leid!
Mach deine Augen zu, dann merkst du nichts von mir.«
Der goldene Sonnenstrahl machte sich lang und wanderte weiter
durchs Zimmer. Offenbar beeilte er sich, um John einen Gefallen
zu tun.
»Wie weich und köstlich du bist! Ich hab dich lieb«, sagte Barbara
und hielt ihre Händchen in die strahlende Wärme.
»Gutes Kind!« sagte der Sonnenstrahl beifällig und streichelte
sie liebkosend über Bäckchen und Haar. »Magst du das gern?«
fragte er, als wollte er gelobt werden.
»Köö-stlich!« sagte Barbara und seufzte glücklich auf.
»Papperlapapp! Ich kenne keinen Ort, wo mehr geplappert
wird. Immer ist hier jemand im Zimmer und schwätzt«, sagte eine
keifende Stimme vom Fenster her.
John und Barbara blickten auf.
Es war der Star, der auf dem Schornstein sein Nest hatte.
»Ich hab's gern«, sagte Mary Poppins und drehte sich schnell
nach ihm um. »Wie steht's denn übrigens mit dir? Den ganzen
Tag lang — ja, und die halbe Nacht noch dazu, auf allen Dächern
und Telegrafenstangen. Schimpfen und Kreischen und Schreien —
du könntest dem Teufel ein Ohr abschwatzen, glaub ich. Schlimmer
als jeder Spatz, wahrhaftig!«
Der Star legte den Kopf auf die Seite und schaute von seinem
Sitz auf dem Fensterrahmen auf sie hinab.
»Nun, ich muß meinen Geschäften nachgehen. Konferenzen, Besprechungen,
Verhandlungen, Abschlüsse. Und das erfordert natürlich
dann und wann ein — hm — ruhiges Gespräch —«
»Ruhiges?« rief John und lachte hellauf.
»Mit dir hab ich nicht geredet, junger Mann«, sagte der Star
und hüpfte hinunter aufs Fensterbrett. »Du hast es nötig, den
Mund aufzumachen. Letzten Samstag hab ich dich stundenlang
plappern gehört. Liebe Zeit, ich dachte, du würdest überhaupt
nicht mehr aufhören — die ganze Nacht lag ich wach — deinetwegen.
«
»Das war kein Geplapper«, sagte John. »Das war . . . « Er hielt
inne. »Das heißt, es hat mir etwas weh getan.«
»Aha!« machte der Star und saß plötzlich auf dem Gitter von
Barbaras Bettchen. Dort hopste er seitlich bis ans Kopfende weiter.
Dann sagte er mit sanfter, einschmeichelnder Stimme:
»Nun, Barbara Banks, gibt's heut was für den alten Burschen,
he?«
Barbara richtete sich auf, indem sie sich an einer Stange ihres
Bettgitters festhielt.
»Hier ist noch die Hälfte von meinem Zwieback«, sagte sie und
hielt ihm das Stückchen mit ihrer runden, dicken Faust hin.

Der Star kam angeschwirrt, schnappte ihr den Zwieback aus
der Hand und flog aufs Fenstersims zurück. Dort begann er, ihn
eifrig aufzupicken.
»Danke schön!« sagte Mary Poppins mit Betonung, aber der
Star war viel zu sehr mit seinem Zwieback beschäftigt, um darauf
zu achten.
»Ich sagte >danke schön!<« wiederholte Mary Poppins etwas
lauter.
Der Star blickte auf.
»He — was? Laß mich zufrieden, Mädchen! Ich hab keine Zeit
für solchen Firlefanz!« Und er verschlang die letzten Zwiebackkrumen.
Es wurde ganz still im Zimmer.
John, der in der Sonne döste, steckte die Zehen seines rechten
Fußes in den Mund und rieb sie an der Stelle hin und her, wo
seine Zähne durchbrechen wollten.
»Warum plagst du dich so?« fragte Barbara mit ihrer weichen,
vergnügten Stimme, die immer voller Lachen war. »Niemand ist
da und sieht zu.«
»Weiß ich«, sagte John und spielte ein Liedchen auf seinen
Zehen. »Aber ich bleibe gern in der Übung. Es macht den Großen
so viel Spaß. Hast du gemerkt, wie Tante Flossie fast närrisch
war vor Entzücken, als ich es ihr gestern vormachte? >Ach, wie
lieb und wie gescheit, welch ein Wunder, dieses Geschöpfchen!<
Hast du nicht gehört, was sie alles daherredete?« Und John ließ
seinen Fuß fahren und gluckste vor Lachen bei dem Gedanken an
Tante Flossie.
»Mein Kunststück hat ihr auch gefallen«, sagte Barbara selbstzufrieden.
»Ich hab meine Söckchen ausgezogen, und da hat sie
gesagt, sie hätte mich zum Fressen gern. Ist das nicht komisch?
Wenn i c h sage, ich hätte was zum Fressen gern, dann meine ich
es wirklich. Kekse und Zwieback und die Bettzipfel und so.
Aber mir scheint, die Großen meinen nie, was sie sagen. Sie
konnte mich doch nicht wirklich auffressen wollen! Was denkst
du?«
»Natürlich nicht! Es ist nur eine ihrer verrückten Redensarten
«, sagte John. »Ich glaube, ich werde die Großen nie verstehen!
Sie kommen mir alle so dumm vor. Sogar Jane und
Michael sind manchmal dumm.«
»Hm«, stimmte Barbara zu und zog gedankenschnell ihre Söckchen
aus und wieder an.
»Zum Beispiel verstehn sie kein Wort von dem, was wir
sprechen«, fuhr John fort. »Aber, was noch viel schlimmer ist, sie
verstehen nicht einmal, was die übrigen Dinge sprechen. Erst
letzten Montag hörte ich Jane sagen, sie wüßte gern, in welcher
Sprache der Wind redet.«
»Ja, ich weiß«, sagte Barbara. »Es ist erstaunlich. Und Michael
behauptet immer — hast du's nicht gehört? —, daß der Star nur
>Wi-twi-i-i< sagt. Er weiß, scheint's, gar nicht, daß der Star
so etwas bestimmt nicht sagt, sondern genau die gleiche Sprache
spricht wie wir. Natürlich ist nicht zu erwarten, daß Vater
und Mutter das wissen — die haben keinen Schimmer, obgleich
sie sehr lieb sind — aber Jane und Michael, sollte man
denken —«
»Früher haben sie's gewußt«, sagte da Mary Poppins, die gerade
ein Nachthemd von Jane zusammenlegte.
»Was?« riefen John und Barbara wie aus einem Munde und
sehr erstaunt. »Wirklich? Du glaubst, früher haben sie den Star
verstanden, und den Wind und . . . «
»Und die Bäume und die Sprache des Sonnenlichts und der
Sterne — natürlich haben sie's verstanden. — F r ü h e r ! « bestätigte
Mary Poppins.
»Aber — wieso haben sie dann alles vergessen?« fragte John,
zog seine Stirn in Falten und versuchte, es zu begreifen.
»Aha!« sagte der Star und blickte verständnisvoll vom letzten
Rest seines Zwiebacks auf, »das möchtet ihr wohl gerne wissen?«
»Nur weil sie älter geworden sind«, erklärte Mary Poppins.
»Barbara, sei lieb und zieh schnell deine Söckchen wieder an!«
»Das ist ein dummer Grund«, sagte John mit einem unfreundlichen
Blick.
»Es ist aber der wahre«, sagte Mary Poppins und zog an Barbaras
Knöchel die Söckchen hoch.
»Dann sind eben Jane und Michael dumm«, beharrte John. »Ich
werd's nicht vergessen, wenn ich älter werde, das weiß ich bestimmt!
«
»Ich auch nicht!« sagte Barbara, die zufrieden an ihrem Finger
lutschte.
»Doch, ihr werdet's vergessen!« sagte Mary Poppins fest.
Die Zwillinge setzten sich auf und sahen sie an.
»Huh!« machte der Star verächtlich. »Sieh mal an. Ich glaub
gar, ihr haltet euch für ein Weltwunder. Ihr seid mir die Rechten!
Natürlich werdet ihr's vergessen — genau wie Jane und
Michael.«
»Das werden wir nicht«, sagten die Zwillinge und blickten den
Star dabei an, als wollten sie ihn am liebsten umbringen.
Der Star lachte sie aus:
»Wenn ich's euch sage! Natürlich ist es nicht eure Schuld«,
fuhr er freundlicher fort. »Ihr werdet's vergessen, weil ihr halt
nicht anders könnt. Noch nie hat ein Menschenkind sich daran
erinnern können, sobald es älter war als ein Jahr, allerhöchstens —
mit einer Ausnahme, versteht sich: SIE.« Damit drehte er ruckhaft
den Kopf und warf Mary Poppins über die Schulter weg einen
Blick zu.
»Aber wieso kann sie sich erinnern und wir sollten's nicht
können?« fragte John.
»Ja-a-a! Sie ist etwas anderes. Sie stellt die große Ausnahme
dar. Mit ihr könnt ihr euch nicht vergleichen«, sagte der Star und
lachte sie aus.
John und Barbara verstummten, und der Star fuhr fort:
»Seht ihr, sie ist etwas Besonderes«, erklärte er. »Nicht dem
Aussehen nach, versteht sich. Am ersten Tag schon ist eins
meiner neugeborenen Jungen hübscher, als es Mary Poppins je
war . . .«
»So eine Unverschämtheit!« rief Mary Poppins erbost, fuhr
auf ihn los und schlug mit ihrer Schürze nach ihm. Aber der
Star hüpfte beiseite und flog auf den Fensterrahmen hinauf. Dort
war er außer Reichweite und pfiff schadenfroh.
»Glaubtest wohl, du hättest mich diesmal, gelt?« höhnte er und
schüttelte seine Schwungfedern.
Mary Poppins schnaufte wütend.
Das Sonnenlicht setzte seinen Weg durchs Zimmer fort und zog
seinen langen, goldenen Strahl hinter sich her. Draußen hatte sich
ein leichter Wind erhoben, der den Kirschbäumen auf dem Weg
leise etwas zuraunte.
»Horcht, horcht, was der Wind erzählt«, rief John und wandte
lauschend den Kopf. »Und das können wir nicht mehr hören, wenn
wir erst älter sind? Ist das dein Ernst, Mary Poppins?«
»Hören werdet ihr's wohl«, sagte Mary Poppins, »aber nicht
mehr verstehen.«
Hier fing Barbara leise zu weinen an. Auch John kamen die
Tränen.
»Nun, da ist nichts zu ändern. Das ist der Lauf der Welt«,
sagte Mary Poppins voller Mitgefühl.
»Ah, da schau her!« höhnte der Star. »Schaut sie nur an!
Heulen sich fast zu Tode! Ein Star, der noch im Ei steckt, hat
wahrlich mehr Verstand. Schaut sie nur an!«
Denn John und Barbara weinten nun zum Erbarmen in ihren
Bettchen — langgezogene Schluchzer tiefster Verzweiflung.
Auf einmal öffnete sich die Tür, und herein kam Mistreß Banks.
»Mir war, als hörte ich die Kleinen«, sagte sie und eilte auf
die Kinderbettchen zu. »Was habt ihr denn, meine Schätzchen?
Meine Herzchen, meine süßen, geliebten Vögelchen, was fehlt
euch denn? — Warum weinen sie so, Mary Poppins? Den ganzen
Nachmittag sind sie so lieb gewesen, kein Ton war von ihnen zu
hören. Was fehlt ihnen bloß?«
»Ja, Madam. Nein, Madam. Ich glaube, daß sie ihre Zähnchen
bekommen, Madam«, erwiderte Mary Poppins vorsichtig und vermied
es, den Star anzusehen.
»Oh, natürlich, das wird's sein!« rief Mistreß Banks beruhigt.
»Ich will aber keine Zähne, wenn ich dann alles vergesse, was
mir das Liebste ist!« jammerte John und warf sich im Bettchen
hin und her.
»Ich auch nicht!« schluchzte Barbara und vergrub ihr Gesichtchen
im Kissen.
»Meine armen, kleinen Herzchen — es wird ja wieder gut, wenn
nur erst die bösen, dummen Zähnchen da sind!« beschwichtigte
Mistreß Banks und ging von einem Bettchen zum anderen.
»Du verstehst mich nicht«, heulte John wütend. »Ich will gar
keine Zähne.«
»Nichts wird gut, alles wird schlecht«, weinte Barbara in ihr
Kissen.
»Ps-ps-ps! So-so-so! Die Mutti weiß doch — die Mutti versteht
euch doch! Alles wird wieder gut, wenn erst die Zähnchen
da sind«, summte Mistreß Banks zärtlich. Vom Fenster her kam
ein schwaches Geräusch. Es war der Star, der rasch ein Lachen
verschluckte. Mary Poppins warf ihm einen Blick zu, der ihn
einschüchterte, und er beobachtete von da ab die Szene, ohne im
geringsten zu lächeln.
Mistreß Banks tätschelte sanft ihre Kinder, erst das eine,
dann das andere, und murmelte Worte, die sie für beruhigend
hielt.
Plötzlich hörte John mit dem Weinen auf. Er war sehr gutartig
und hatte seine Mutter gern. Er fand, man müsse gerecht sein.
Arme Frau! Es war ja nicht ihr Fehler, daß sie immer das Falsche
sagte. Es lag daran, daß sie nichts verstand, überlegte er. Und
um zu zeigen, daß er ihr verzieh, drehte er sich auf den Rücken,
schluckte trotz allen Kummers die Tränen hinunter, packte seinen
rechten Fuß mit beiden Händen und rieb die Zehen an seinem
offenen Mund.
»So etwas Geschicktes! Nein, so etwas Geschicktes!« rief seine
Mutter bewundernd. Gleich tat er es noch einmal, und sie war
vollends entzückt.
Dann krabbelte Barbara, die hinter ihrem Brüderchen nicht zurückstehen
wollte, aus ihrem Kissen hervor, setzte sich mit tränenüberströmtem
Gesichtchen auf und zog ihre Söckchen aus.
»Ein großartiges Mädchen!« sagte Mistreß Banks stolz und gab
ihr einen Kuß.
»Da sehen Sie's, Mary Poppins. Sie sind schon wieder lieb.
Mir gelingt es immer, sie zu beruhigen. Ganz lieb, ganz lieb!«
wiederholte sie, als summte sie ein Wiegenlied. »Und die Zähnchen
sind sicher bald durch.«
»Gewiß, Madam«, sagte Mary Poppins ruhig. Und Mistreß
Banks lächelte den Zwillingen zu, ging hinaus und schloß die Tür.
Kaum war sie verschwunden, brach der Star roh in schallendes
Gelächter aus.
»Entschuldigt, daß ich so lache«, rief er. »Aber wirklich — ich
kann nicht anders. So ein Theater! Nein, so ein Theater!«
John beachtete ihn gar nicht. Er preßte sein Gesicht an das
Gitter seines Bettchens und rief leise und voll Leidenschaft zu
Barbara hinüber:
»Ich will nicht wie die anderen werden! Glaub mir, ich will
nicht! Die beiden«, er zeigte mit dem Kopf auf den Star und
Mary Poppins, »die können sagen, was sie wollen. Ich werd es
nie vergessen, nie!«
Mary Poppins lächelte ein heimliches Ich-weiß-es-besser-als-du-
Lächeln vor sich hin.
»Ich auch nicht«, sagte Barbara, »nie!«
»Bei meinen Schwanzfedern — hört euch das an!« kreischte der
Star, stemmte die Flügel in die Seiten und lachte laut und ausgelassen.
»Als ob gegen das Vergessen ein Kraut gewachsen wäre!
Schon in einem Monat oder zwei — allerhöchstem in drei — werden
sie nicht einmal mehr wissen, wie ich heiße — diese einfältigen
Kuckucke! Törichte, unreife, federlose Kuckucke! Ha-ha-ha!« Und
immer noch laut lachend, breitete er seine gesprenkelten Flügel aus
und flog zum Fenster hinaus.
Bald danach waren die Zähnchen da, nach mancher Not, wie das
so ist bei den Zähnen, und dann hatten die Zwillinge ihren ersten
Geburtstag.
Einen Tag nach der Geburtstagsfeier kam der Star, der in
den Ferien in Bournemouth gewesen war, wieder nach Nummer am Kirschbaumweg.
»Hallo, hallo, hallo! Da sind wir ja wieder!« schrie er voll
Freude und landete mit einem kleinen Schwubs auf dem Fenstersims.
»Nun, wie geht's denn, altes Mädchen?« erkundigte er sich
dreist bei Mary Poppins, legte den Kopf auf die Seite und schaute
sie funkelnd mit vergnügten, zwinkernden Augen an.
»Keineswegs besser, wenn du so fragst!« sagte Mary Poppins
und warf den Kopf zurück.
Der Star lachte.
»Immer die alte Mary Poppins! Bei dir wenigstens gibt's keine
Veränderung! Wie geht's den andern — den Kuckucken?« fragte
er und schaute hinüber zu Barbaras Bettchen.
»Nun, Barbarina«, schmeichelte er in seinem schmelzendsten
Ton, »gibt's was für den alten Burschen heute?«
»Be-lah-blah-belah-belah«, summte Barbara leise und fuhr fort,
ihren Zwieback zu essen.
Überrascht hüpfte der Star ein wenig näher. »Ich hab dich
gefragt«, wiederholte er etwas deutlicher, »ob du heute was hast
für den alten Burschen, Barbie, mein Liebling?«
»Ba-loo-baloo-b-loo«, plapperte Barbara, guckte zur Decke und
verschluckte dabei den letzten süßen Bissen.
Der Star blickte sie an.
»Aha!« machte er plötzlich, drehte sich um und blickte fragend
auf Mary Poppins. Aus stillen, ruhigen Augen erwiderte sie
seinen Blick.
Der Star huschte zu Johns Bettchen hinüber und setzte sich
auf das Gitter. John hielt ein großes wollenes Lamm innig im
Arm.
»Wie heiße ich? Wie heiße ich? Wie heiße ich?« schrie der Star
ganz ängstlich und schrill.
»Er-umph!« sagte John, machte den Mund auf und steckte das
Bein seines wollenen Lamms hinein.
Mit einem leichten Kopfschütteln wandte sich der Star ab.
»Also — es ist soweit!« sagte er ruhig zu Mary Poppins.
Sie nickte.
Der Star blickte einen Augenblick betrübt auf die Zwillinge.
Dann schüttelte er seine gesprenkelten Schultern.
»Na schön — ich hab's ja kommen sehen. Hab's ihnen immer
gesagt. Aber sie haben's ja nicht glauben wollen.« Er blieb noch
ein Weilchen still sitzen und starrte in die Bettchen. Dann schüttelte
er sich energisch.
»So ist's eben! Ich muß fort. Wieder auf meinen Schornstein.
Der hat bestimmt den Frühjahrsputz nötig.« Er flog aufs Fenstersims,
zögerte dort einen Augenblick und sah über die Schulter
zurück.
»Wird mir recht komisch vorkommen ohne sie, trotz allem. Hab
mich immer gern mit ihnen unterhalten — weiß Gott. Werde sie
sehr vermissen.«
Und er fuhr sich mit dem Flügel rasch über die Augen.
»Tränen?« fragte Mary Poppins spöttisch. Der Star nahm sich
zusammen.
»Tränen! Natürlich nicht. Ich hab mir nur — hm — eine leichte
Erkältung geholt auf der Reise — das ist alles. Wirklich, nur
eine leichte Erkältung, nichts Ernstes.« Er flog zum Fensterrahmen
hinauf, strich seine Brustfedern mit dem Schnabel glatt, breitete
dann mit einem kecken »Cheerio!« seine Flügel aus und war fort.

10. Kapitel
Vollmond
Den ganzen Tag über war Mary Poppins in großer Eile gewesen,
und wenn sie es eilig hatte, war sie immer mürrisch.
Alles, was Jane tat, war nicht recht, und was Michael tat, war
noch weniger recht. Selbst die Zwillinge fuhr sie an.
Jane und Michael gingen ihr möglichst aus dem Weg. Sie wußten,
Mary Poppins hatte Zeiten, da war es besser, ihr nicht unter
die Augen zu geraten.
»Ich wollte, wir wären unsichtbar!« sagte Michael, nachdem
Mary Poppins behauptet hatte, sein Anblick sei etwas, was man
einem Menschen mit Selbstachtung nicht zumuten könne.
»Wenn wir uns hinter dem Sofa verstecken, sind wir's«, sagte
Jane. »Wir wollen das Geld in unsern Sparbüchsen zählen. Vielleicht
ist sie nach dem Nachtessen besser aufgelegt.«
Also versteckten sie sich.
»Sechs Pennies und vier Pennies — macht zehn Pennies und
noch ein halber Penny und ein Dreipennystück«, zählte Jane
schnell zusammen.
»Vier Pennies und drei Zweipennystücke — das ist alles«, seufzte
Michael und legte sein Geld auf ein kleines Häufchen.
»Das reicht gerade für die Armenbüchse«, sagte Mary Poppins,
die leise schnüffelnd über die Sofalehne schaute.
»O nein!« sagte Michael. »Das ist für mich. Ich will sparen.«
»Hu — für eines von diesen Flugzeugen vermutlich!« meinte
Mary Poppins spöttisch.
»Nein, für einen Elefanten — einen für mich ganz allein, so
einen wie die Lizzie im Zoo. — Ich könnte dich dann reiten
lassen«, sagte Michael mit einem Seitenblick, um zu sehen, wie
sie es aufnahm.
»Hm! Was für eine Idee!« sagte Mary Poppins. Aber sie spürten,
daß sie nicht mehr ganz so spöttisch aufgelegt war wie zuvor.
»Ich möchte gern wissen, wie es im Zoo bei Nacht ist, wenn
alle Leute heimgegangen sind«, sagte Michael gedankenvoll.
»Deine Sorgen möchte ich haben!« unterbrach ihn Mary Poppins
»Sorgen hab ich keine, ich möchte es nur wissen!« erklärte
Michael. »Weißt du es denn?« bohrte er, während Mary Poppins
doppelt so schnell wie sonst die Brosamen vom Tisch fegte.
»Noch eine einzige Frage von dir — und eins, zwei, drei, ins
Bett«, sagte sie und begann so geschwind das Kinderzimmer aufzuräumen,
daß sie mehr einer Windsbraut mit Häubchen und
Schürze glich als einem menschlichen Wesen.
»Es hat keinen Sinn, sie zu fragen. Sie weiß alles, aber sie
sagt es nie«, meinte Jane.
»Was nützt es dann, wenn sie's keinem erzählt?« brummte
Michael, aber sehr leise, daß Mary Poppins es nicht hören konnte.
Jane und Michael kam es vor, als wären sie noch nie so schnell
zu Bett gebracht worden wie an diesem Abend. Gleich darauf
machte Mary Poppins das Licht aus und ging so geschwind hinaus,
als bliesen alle Winde der Welt hinter ihr drein.
Nicht viel später — so wenigstens erschien es ihnen — hörten
sie plötzlich eine leise Stimme an der Tür.
»Beeilt euch, Jane und Michael!« flüsterte die Stimme. »Zieht
etwas an und beeilt euch!«
Ãœberrascht und erstaunt sprangen sie aus den Betten.
»Komm!« sagte Jane. »Es ist etwas los.« Und sie tastete im
Dunkeln nach ihren Sachen.
»Beeilt euch!« rief die Stimme wieder.
»O je, alles, was ich finden kann, ist meine Matrosenmütze und
ein Paar Handschuhe!« rief Michael, der im Zimmer umherlief,
Schubladen aufzog und in Fächern herumtastete.
»Das genügt. Zieh sie an. Es ist nicht kalt. Komm jetzt.«
Jane hatte für sich nur ein kleines Jäckchen von John finden
können, doch sie zwängte ihre Arme hinein und öffnete die Tür.
Draußen war niemand, aber es schien ihnen, als hörten sie etwas
die Treppe hinunterhuschen. Jane und Michael folgten. Wer oder
was es immer es war, es hielt sich beständig vor ihnen. Sie sahen
es nie, aber sie hatten das bestimmte Gefühl, ein Etwas, das ihnen
winkte zu folgen, führte sie immer weiter. Jetzt waren sie auf
der Straße, wo ihre Pantoffeln beim Laufen ein leise schlürfendes
Geräusch auf dem Pflaster erzeugten.
»Beeilt euch!« rief die Stimme wieder, diesmal von der nächsten
Straßenecke, aber als sie um die Ecke bogen, war wieder nichts
zu sehen. Nun begannen sie zu laufen, Hand in Hand, immer der
Stimme nach, durch Straßen und Alleen, durch Torbögen und
über Parkwege, keuchend und atemlos, bis sie vor einem Drehkreuz
in einer Mauer zum Stehen kamen.
»Jetzt seid ihr da!« sagte die Stimme.
»Wo?« fragte Michael. Aber es kam keine Antwort. Michael an
der Hand ziehend, ging Jane zum Drehkreuz.
»Schau!« sagte sie, »siehst du nicht, wo wir sind? Am Zoo!«
Ein strahlend heller Vollmond leuchtete am Himmel. Bei seinem
Schein untersuchte Michael das eiserne Gitter und schaute durch
die Stäbe. Natürlich! Wie dumm von ihm, daß er es nicht gemerkt
hatte! Sie waren am Zoo.
»Aber wie kommen wir hinein?« fragte er. »Wir haben doch
kein Geld.«
»Schon gut!« kam eine tiefe, brummige Stimme von drinnen.
»Besondere Besucher haben heute nacht freien Eintritt. Dreht
bitte das Rad!«
Jane und Michael taten es, und schon waren sie drin.
»Hier ist eure Eintrittskarte!« sagte die brummige Stimme,
und als sie aufschauten, sahen sie einen großen Braunbären. Er
trug einen Rock mit Messingknöpfen und auf dem Kopf eine
Schirmmütze. In seiner Tatze hatte er zwei rosa Karten, die er
den Kindern hinhielt.
»Wir geben doch sonst die Karten ab«, sagte Jane.
»Sonst gilt, was man sonst tut. Heute nacht behaltet ihr sie«,
sagte der Bär lächelnd.
Michael hatte ihn recht genau betrachtet.
»Dich kenne ich«, sagte er zu dem Bären. »Dir hab ich einmal
eine Büchse mit goldgelbem Sirup gegeben.«
»Das stimmt«, sagte der Bär. »Aber du hattest vergessen, den
Deckel herunterzugeben. Weißt du, daß ich gut zehn Tage meine
liebe Not mit dem Deckel hatte? Paß künftig besser auf!«
»Aber warum bist du nicht in deinem Käfig? Bist du nachts
immer draußen?« fragte Michael.
»Nein — nur wenn der Geburtstag auf den Vollmond fällt.
Aber ihr müßt mich entschuldigen, ich muß auf das Tor achtgeben.
« Und der Bär wandte sich um und machte sich am Drehkreuz
zu schaffen.
Jane und Michael gingen, die Billetts in der Hand, in den
Zoo hinein. Im Schein des Vollmonds waren jeder Baum, jede
Blume und jeder Strauch zu erkennen. Auch die Häuser und Käfige
hoben sich ab.
»Da ist ja allerhand los!« bemerkte Michael.
Und so war es auch. Auf allen Wegen liefen Tiere umher,
manchmal in Gesellschaft von Vögeln, manchmal allein. Zwei
Wölfe überholten die Kinder und sprachen eifrig auf einen großen
Storch ein, der mit zierlich leichten Schritten zwischen ihnen
stolzierte. Im Vorübergehen verstanden Jane und Michael deutlich
die Worte »Geburtstag« und »Vollmond«.
Nicht weit von ihnen schlenderten nebeneinander drei Kamele
einher, und dort wanderten ein Biber und ein amerikanischer
Geier, tief ins Gespräch versunken. Den Kindern kam es vor,
als redeten sie alle über das gleiche Thema.
»Wer heut wohl Geburtstag hat, möcht ich wissen«, sagte
Michael, aber Jane lief weiter und hatte nur Augen für ein besonderes
Schauspiel.
Vor dem Elefantenkäfig ging auf allen vieren ein großer, sehr
dicker, alter Herr. Auf seinem Rücken waren hintereinander zwei
schmale Sitzpolster festgeschnallt, auf denen sich acht Affen schaukelten.
»Hier ist ja alles auf den Kopf gestellt!« rief Jane.
Der alte Herr warf ihr im Vorbeigehen einen ärgerlichen Blick
zu.
»Auf den Kopf gestellt!« schnaufte er. »Ich? Auf den Kopf
gestellt? Ganz gewiß nicht. So eine Frechheit!« Die acht Affen
lachten ungezogen.
»O bitte, ich hab nicht Sie gemeint, sondern — das alles hier«,
wollte Jane erklären und lief ihm nach, sich zu entschuldigen.
»An gewöhnlichen Tagen reiten die Menschen auf den Tieren, und
hier ist es umgekehrt. Das meinte ich.«
Aber der alte Herr blieb dabei, es sei eine Frechheit, und setzte,
mühsam nach Luft schnappend, mit den kreischenden Affen auf
dem Rücken seinen Weg fort. Jane sah, es hatte keinen Zweck,
ihm zu folgen. So nahm sie Michael an der Hand und ging weiter.
Da wurden sie plötzlich durch eine Stimme erschreckt, die sie dicht
vor ihren Füßen anrief: »Kommt her, ihr beiden! Kommt her!
Will mal sehen, ob ihr nach ein paar Orangenschalen taucht, die
ihr gar nicht haben wollt!« Es war eine verbitterte, böse Stimme,
sie kam von einem kleinen, schwarzen Seehund, der aus dem
mondbeschienenen Wasser eines Tümpels nach ihnen schielte.
»Kommt nur her und seht, ob ihr das möchtet!« rief er.
»Aber — wir können ja gar nicht schwimmen«, sagte Michael.
»Das ist gleich, das hättet ihr vorher bedenken sollen! Niemand
denkt daran, ob ich schwimmen kann oder nicht. Na, was gibt's
denn? Was willst du?«
Mit dieser Frage wandte er sich an einen anderen Seehund,
der aus dem Wasser aufgetaucht war und ihm etwas ins Ohr
geflüstert hatte.
»Wer?« fragte der erste Seehund. »So sprich doch deutlicher!«
Der andere Seehund flüsterte wieder. Jane verstand: »Besondere
Besucher — Freunde von —« und dann nichts mehr. Der erste Seehund
schien enttäuscht, trotzdem aber sagte er höflich zu Jane
und Michael:
»Oh, bitte um Entschuldigung! Erfreut, Ihre Bekanntschaft zu
machen! Bitte, verzeihen Sie!« Und er hielt ihnen seine Flosse hin
und schüttelte ihnen beiden schlaff die Hand.
»Kannst du nicht sehen, wohin du trittst, oder ist das zuviel
verlangt?« rief er, als jemand Jane anbumste. Sie drehte sich
auf den Absätzen um und fuhr erschrocken zurück, als sie einen
riesigen Löwen vor sich stehen sah. Die Augen des Löwen leuchteten
freudig auf, als er sie erblickte.
»Oh, ich muß sagen —«, fing er an. »Ich hab nicht gewußt, daß
ihr es seid. Hier ist es heute nacht so überfüllt, und ich hab es
so eilig, weil ich die Menschenfütterung sehen will. Ich fürchte,
ich habe nicht genug auf den Weg geachtet. Kommt ihr mit? Ihr
solltet euch das nicht entgehen lassen!«
»Vielleicht«, sagte Jane artig, »wenn Sie uns den Weg zeigen
wollen?« Sie fühlte sich dem Löwen gegenüber etwas unsicher,
obwohl er ganz freundlich aussah. Und überhaupt, dachte sie,
heute nacht steht hier alles kopf.
»Sehr angenehm!« sagte der Löwe ein wenig geziert und reichte
ihr den Arm. Sie nahm ihn, zog aber Michael dicht neben sich,
der Sicherheit halber. Er war ein runder, dicker, kleiner Junge,
und schließlich, dachte sie, Löwe bleibt Löwe!
»Sieht meine Mähne nicht hübsch aus?« fragte der Löwe im
Gehen. »Ich hab mir für diese Gelegenheit frische Dauerwellen
machen lassen!«
Jane betrachtete ihn. Sie sah, daß seine Mähne sorgfältig geölt
und in Locken gelegt war.
»Sehr schön!« sagte sie. »Aber ist es nicht ungewöhnlich für
einen Löwen, sich mit solchen Dingen abzugeben? Ich dachte —«
»Was? Meine liebe, junge Dame, du weißt ja: Der Löwe ist der
König der Tiere. Er muß auf seine Stellung bedacht sein. Ich jedenfalls
vergesse das nie. Ein Löwe, finde ich, sollte immer und überall
eine gute Figur machen. Hier entlang, bitte!«
Und mit einem anmutigen Wink seiner Vorderpranke deutete
er auf das große Raubtierhaus und führte die Kinder zur Eingangstür.
Bei dem Anblick, der sich ihnen hier bot, hielten Jane und
Michael den Atem an. Die große Halle war gedrängt voll von
Tieren. Einige lehnten an der langen Schranke, die sie von den
Käfigen trennte, andere waren auf die Sitze der gegenüberliegenden
Stuhlreihen geklettert. Da gab es Panther und Leoparden,
Wölfe, Tiger und Antilopen, Affen und Igel, Beutel- und Murmel-
tiere, Bergziegen und Giraffen. Möwen und Geier bildeten eine
riesige Gruppe für sich.
»Großartig, nicht wahr?« sagte der Löwe stolz. »Ganz wie in
den lieben Dschungeltagen. Aber kommt weiter — wir müssen uns
einen guten Platz suchen!«
Und er bahnte sich einen Weg durch die Menge, indem er immer
»Platz da! Platz da!« rief und Jane und Michael hinter sich her
zog. Endlich konnten sie durch eine kleine Lücke in der Mitte
der Halle einen Blick auf die Käfige werfen.
»Aber«, sagte Michael und sperrte vor Staunen den Mund auf,
»die stecken ja voller Menschen!«
Und so war es auch.
In einem Käfig wandelten, in Zylinderhut und gestreifter Hose,
zwei große Herren mittleren Alters auf und ab und starrten
ängstlich durchs Gitter, als ob sie auf etwas warteten.
In einem anderen Käfig krabbelten, vom Baby im Tragkleid an,
Kinder aller Art und Größe herum. Die Tiere draußen beobachteten
sie mit großer Neugier, und einige von ihnen versuchten, die
Kleinen zum Lachen zu bringen, indem sie ihre Pfoten oder ihre
Schwänze durch die Gitterstäbe steckten. Eine Giraffe reckte ihren
langen Hals über die Köpfe der anderen Tiere hinweg und ließ
ihre Nase von einem kleinen Jungen kitzeln.
In einem dritten Käfig saßen drei ältere Damen in Regenmänteln
und Galoschen gefangen. Eine von ihnen strickte, aber die
beiden anderen standen dicht beim Gitter, schrien die Tiere an und
stießen mit ihren Regenschirmen nach ihnen.
»Widerliches Viehzeug! Macht, daß ihr fortkommt! Ich möchte
endlich meinen Tee haben!« schrie die eine.
»Ist die aber komisch!« sagten ein paar von den Tieren und
lachten laut über sie.
»Jane — sieh nur!« rief Michael und zeigte auf einen Käfig am
Ende der Reihe. »Ist das nicht —?«
»Admiral Boom!« rief Jane, aufs höchste überrascht.
Es war wirklich Admiral Boom. Er tobte in seinem Käfig herum,
hustete, putzte sich dröhnend die Nase und kochte vor Wut.
»Verdammt noch mal! Alle Mann an die Pumpe! Land, ahoi!
Abdrehen, ihr dort! Verdammt noch mal!« schrie der Admiral. Sooft
er ans Gitter kam, stupfte ein Tiger ihn sacht mit einem Stock,
und das brachte den Admiral schrecklich zum Fluchen.
»Aber wie sind sie alle in den Käfig gekommen?« fragte Jane
den Löwen.
»Verlorengegangen!« erwiderte der Löwe. »Oder vielleicht zurückgelassen!
Es sind Leute, die getrödelt haben und mit eingeschlossen
wurden, als man die Tore schloß. Irgendwo muß man
sie unterbringen. Darum halten wir sie hier. Der ist gefährlich —
der dort! Vor noch nicht langer Zeit hätte er beinahe seinen
Wärter umgebracht. Geht nicht zu dicht an ihn heran!« Und er
deutete auf Admiral Boom.
»Zurücktreten, bitte! Nicht drängeln! Platz machen, bitte!«
hörten Jane und Michael einige Stimmen laut rufen.
»Ah — jetzt werden sie gefüttert!« sagte der Löwe und drängte
sich aufgeregt durch die Menge.
»Da kommen die Wärter.«
Vier braune Bären, die Schirmmützen trugen, fuhren Karren
mit Speisen den schmalen Gang entlang, der die Tiere von den
Käfigen trennte.
»Zurück! Platz da!« riefen sie, sobald ihnen ein Tier im Wege
stand. Dann öffneten sie in jedem Käfig eine kleine Tür und
schoben das Essen auf Gabeln hinein.
Durch eine Lücke zwischen einem Panther und einem Dingo
konnten Jane und Michael genau verfolgen, was vorging.
Zu den Babies wurde Flaschenmilch hineingeschoben. Sie
grapschten mit den Händen danach und hielten sie fest. Die
älteren Kinder schnappten sich Kuchenstückchen von den Gabeln
und bissen heißhungrig hinein. Die Platten mit dünnen Butterbroten
und Teekuchen waren für die Damen in den Galoschen bestimmt,
und die Herren mit den Zylinderhüten bekamen Hammelkoteletts
und Eierkrem in Glasschüsseln. Jeder trug seine Portion
in eine andere Ecke, breitete ein Taschentuch über die gestreiften
Hosen und fing an zu essen.
Die Wärter standen noch auf dem Gang vor den Käfigen, als
plötzlich ein großer Tumult entstand.
»Verdammt noch mal — das soll eine Mahlzeit sein? Ein armseliges,
kleines Beefsteak und ein bißchen Wirsingkohl? Was —
nicht mal Plumpudding? Unglaublich! Lichtet den Anker! Wo ist
mein Portwein? Portwein sag ich! Dreht bei, ihr da unten! Wo
ist der Portwein für den Admiral?«
»Hört euch das an! Er ist wild geworden. Ich hab euch ja gesagt,
auf den ist kein Verlaß!« sagte der Löwe.
Es brauchte Jane und Michael nicht näher erklärt zu werden,
wen er meinte. Sie kannten Admiral Booms Ausdrucksweise nur
allzu gut.
»So«, sagte jetzt der Löwe, da der Lärm in der Halle allmählich
abnahm. »Wie's scheint, ist die Fütterung vorbei. Ich fürchte, ich
muß jetzt weiter. Bitte, entschuldigt mich! Wahrscheinlich sehe
ich euch noch bei der großen Kette. Ich werde mich nach euch
umsehen!« Er brachte sie noch bis zur Tür und verabschiedete sich
dann mit einem Kratzfuß und einem Schütteln seiner gelockten
Mähne. Im Wechsel von Mondlicht und Schatten sah sein goldgelbes
Fell ganz gefleckt aus.
»Oh, bitte —«, rief Jane ihm nach. Aber er war schon außer
Hörweite.
»Ich wollte ihn nur fragen, ob sie gar nicht wieder herausdürfen.
Die armen Menschen! Wie leicht könnten John und Barbara
dabei sein — oder einer von uns.« Sie drehte sich nach
Michael um und merkte, daß er gar nicht mehr neben ihr war. Er
war weitergegangen, und als sie ihn einholte, fand sie ihn im
Gespräch mit einem Pinguin, der mitten auf dem Weg stand, einen
großen Notizblock unter der einen und einen riesigen Bleistift
unter den anderen Flügel geklemmt. Als sie näher kam, kaute
er nachdenklich am Bleistift.
»Mir fällt nichts ein«, hörte sie Michael sagen, sichtlich als
Antwort auf eine Frage.
Der Pinguin wandte sich an Jane. »Vielleicht kannst du mir
helfen. Was reimt sich auf Mary? >Gar nie< kann ich nicht ver-
wenden, weil das früher schon da war und man originell sein
muß. Schlagt mir auch nicht >Feerie< vor, bitte — daran habe ich
selbst schon gedacht, aber es geht nicht, es paßt nicht ein bißchen
auf sie.«
»Harry!« schlug Michael vergnügt vor.
»Hm. Nicht poetisch genug«, überlegte der Pinguin.
»Wie wär's mit >wär wie O Mary, M a r y <
aber dann komme ich einfach nicht weiter. Es ist schon ärgerlich!
Von einem Pinguin erwartet man etwas Gescheites, und
ich möchte sie nicht enttäuschen. Aber — haltet mich lieber
nicht auf! Ich muß sehn, daß ich damit zu Rande komme!« Und
am Bleistift nagend, rannte er, über den Notizblock gebeugt,
weiter.
»Das ist alles ganz verrückt!« seufzte Jane. »Wer hat wohl
Geburtstag?«
»Nun, ihr beiden, kommt schon, kommt schon! Sicher wollt ihr
eure Aufwartung machen, weil ja Geburtstag ist, und überhaupt!«
sagte hinter ihnen eine Stimme. Als sie sich umdrehten, sahen
sie den Braunbären, der ihnen am Eingang die Billetts gegeben
hatte.
»O natürlich!« sagte Jane. Ihr schien es am sichersten, darauf
einzugehen, obwohl sie nicht im mindesten wußte, wem sie ihre
Aufwartung machen sollten.
Der Braunbär legte einen Arm um jedes der Kinder und schob
sie vorwärts. Sie spürten sein warmes, weiches Fell an ihrer
Haut und hörten das Brummen, das beim Sprechen aus seinem
Magen heraufdrang.
»Da sind wir! Da sind wir!« Der Braunbär hielt vor einem
kleinen Haus, dessen Fenster alle so hell erleuchtet waren, daß
man, wäre nicht gerade Vollmond gewesen, hätte meinen können,
die Sonne schiene. Der Bär machte die Tür auf und schob die
beiden Kinder sacht hinein.
Zuerst waren sie von dem Licht geblendet, aber bald gewöhnten
sich ihre Augen daran, und sie sahen, daß sie im Schlangenhaus
standen. Alle Käfige waren offen und die Schlangen herausgekrochen
— die einen lagen zu großen, schuppigen Klumpen zusammengerollt,
andere wiederum glitten lautlos über den Boden.
Und mitten unter den Schlangen saß auf einem Klotz, den man
anscheinend aus einem Käfig geholt hatte, Mary Poppins. Jane
und Michael trauten kaum ihren Augen.
»Geburtstagsgäste, Madam!« meldete der Bär respektvoll.
Die Schlangen wandten neugierig ihre Köpfe nach den Kindern.
Mary Poppins rührte sich nicht. Aber sie sprach!
»Darf ich fragen, wo du deinen Mantel gelassen hast?« sagte
sie und sah Michael verdrießlich, aber keineswegs überrascht an.
»Und du deinen Hut und die Handschuhe?« fuhr sie bissig auf
Jane los. Aber ehe eines von ihnen antworten konnte, ging eine
Bewegung durchs Schlangenhaus!
»Hsssst! Hsssst!«
Mit leisem Zischeln richteten sich die Schlangen auf und verneigten
sich vor jemand hinter Janes und Michaels Rücken. Der
Braunbär nahm seine Schirmkappe ab. Und langsam stand auch
Mary Poppins auf.
»Mein liebes Kind! Mein sehr geliebtes Kind!« sprach eine
leise, zart zischelnde Stimme. Und aus dem größten Käfig kroch
mit langsamen, weich schlängelnden Bewegungen eine Brillenschlange.
Sie glitt in anmutigen Bogen an den sich verneigenden
Schlangen und an dem Braunbären vorbei auf Mary Poppins zu.
Und als sie sie erreicht hatte, richtete sie ihren langen, goldenen
Leib auf, blähte ihre goldene, schuppige Haut und küßte sie zärtlich
erst auf die eine, dann auf die andere Wange.
»So!« zischelte sie sanft. »Das ist eine Freude — wirklich eine
große Freude. Es ist lange her, seit dein Geburtstag auf einen
Vollmond fiel, meine Liebe.« Sie wandte den Kopf. »Setzt euch,
Freunde!« sagte sie, gnädig den Kopf neigend, zu den anderen
Schlangen, die bei dieser Aufforderung wieder zu Boden sanken,
sich zusammenringelten und ihre Blicke unverwandt auf die
Brillenschlange und Mary Poppins hefteten.
Die Schlange wandte sich nun Jane und Michael zu. Mit leisem
Schauder erkannten die beiden, daß sie noch nie in ein so winziges
und verwittertes Antlitz geblickt hatten wie in dieses
hier. Sie traten einen Schritt näher, angezogen von den tiefen,
seltsamen Schlangenaugen. Lang und schmal waren sie, umschleiert
vom Ausdruck einer geheimnisvollen Schläfrigkeit, auf deren
Hintergrund zuweilen ein wachsames Licht aufblitzte wie ein
Edelstein.
»Und wer ist das, wenn ich fragen darf?« erkundigte sich die
Schlange mit ihrer weichen, erregenden Stimme und sah die Kinder
fragend an.
»Miß Jane Banks und Master Michael Banks, wenn Sie erlauben!
« erwiderte der Braunbär heiser, als sei er ein wenig besorgt.
» I h r e Freunde!«
»Ah, i h r e Freunde. Dann sind sie willkommen. Setzt euch,
bitte, meine Lieben!«
Jane und Michael, die das Gefühl hatten, vor einer Königin
zu stehen — bei dem Löwen hatten sie dieses Gefühl nicht gehabt
—, lösten ihre Augen nur schwer aus dem zwingenden Blick
und sahen sich um, wo sie sich setzen könnten. Der Braunbär
half ihnen aus der Verlegenheit. Er hockte sich nieder und bot
jedem Kind ein pelziges Knie.
Jane sagte flüsternd: »Sie spricht, als sei sie eine große Herrscherin!
«
»Das ist sie auch! Sie ist die Herrscherin unserer Welt — die
Klügste und Furchtbarste von uns allen!« sagte der Braunbär
leise und voller Ehrfurcht.
Die Schlange lächelt ein leichtes, lässiges, geheimnisvolles Lächeln
und wandte sich dann an Mary Poppins.
»Kusine!« begann sie, leise zischelnd.
»Ist sie wirklich ihre Kusine?« raunte Michael.
»Kusine ersten Grades — von der Mutter Seite«, gab der Bär,
hinter seiner Tatze hervor flüsternd, Auskunft. »Aber gebt acht,
gleich wird sie das Geburtstagsgeschenk überreichen.«
»Kusine«, wiederholte die Brillenschlange. »Es ist lange her,
seit dein Geburtstag auf einen Vollmond fiel, und lange, seit uns
erlaubt war, das Ereignis so zu feiern wie heute nacht. Ich habe
daher Zeit gehabt, über dein Geburtstagsgeschenk nachzudenken.
Und ich bin zu der Einsicht gelangt...«, sie hielt inne, und kein
anderer Laut war im Schlangenhaus zu hören als der angehaltene
Atem vieler Geschöpfe, »daß ich dir nichts Besseres schenken kann
als eine von meinen eigenen Häuten.«
»Das ist wirklich lieb von d i r . . . « , begann Mary Poppins, doch
die Schlange gebot durch Aufblähen ihrer Haube Schweigen.
»Durchaus nicht, durchaus nicht. Du weißt, daß ich meine Haut
von Zeit zu Zeit wechsle, und daß eine mehr oder weniger mir
nicht viel bedeutet. Bin ich nicht...?« Sie machte eine Pause und
blickte sich um.
» . . . die Herrin des Dschungels«, zischelten alle Schlangen im
Chor, als seien Frage und Antwort Teil einer wohlbekannten
Zeremonie.
Die Schlange nickte. »Nun«, fuhr sie fort, »was für mich paßt,
paßt auch für dich! Die Gabe ist nicht groß, liebe Mary, aber
sie mag dir für einen Gürtel oder ein Paar Schuhe dienen, sogar
für ein Hutband — solche Sachen sind immer zu gebrauchen,
wie du weißt!«
Bei diesen Worten begann sie sich sacht hin und her zu wiegen,
und Jane und Michael, die ihr zusahen, schien es, als liefen kleine
Wellen über ihren Körper vom Schwanz bis zum Kopf. Plötzlich
machte sie eine lange, drehende, ruckartige Bewegung — da lag
ihre goldene Haut auf dem Boden, und sie trug statt dessen eine
neue aus glitzerndem Silber.
»Warte!« sagte die Schlange, als Mary Poppins sich bückte, um
die Haut aufzuheben. »Ich will eine Widmung daraufschreiben.«
Und sie strich mit ihrem Schwanz über die abgeworfene Haut,
wand die goldene Hülle geschickt zu einem Ring, steckte den
Kopf hindurch, daß sie wie eine Krone aussah, und überreichte
sie anmutig Mary Poppins. Diese nahm sie mit einer Verbeugung
entgegen.
»Ich weiß gar nicht, wie ich dir danken soll. . .«, begann sie und
stockte. Sie war sichtlich hocherfreut, denn sie drehte die Haut in
der Hand hin und her und betrachtete sie bewundernd.
»Laß nur!« wehrte die Schlange ab. »Hsssst!« machte sie und
spreizte ihre Haube, als lausche sie mit ihr. »Hör ich da nicht
das Signal für die große Kette?«
Alle horchten auf. Eine Glocke läutete, und es ertönte eine tiefe,
rauhe Stimme, die immer näher kam und rief:
»Zur großen Kette! Herbei! Herbei! Aufstellen zur großen
Kette!«
»Das dachte ich mir!« sagte die Schlange lächelnd. »Du mußt
gehen, meine Liebe. Sicher warten sie schon darauf, daß du deinen
Platz auf der Wiese einnimmst. Leb wohl bis zu deinem nächsten
Geburtstag!« Und wie zuvor richtete sie sich auf und küßte Mary
Poppins leicht auf beide Wangen.
»Laß dich bitte nicht aufhalten!« sagte sie. »Auf deine jungen
Freunde werde ich aufpassen.«
Jane und Michael spürten, daß sich der Braunbär unter ihnen
rührte, und standen auf. An ihren Füßen fühlten sie die Schlangen
entlanggleiten, die jetzt, sich drehend und windend, aus dem
Schlangenhaus fortstrebten.
Auch Mary Poppins stand auf, verneigte sich feierlich vor der
Brillenschlange und lief, ohne den Kindern auch nur einen Blick
zu schenken, auf das große Viereck mitten im Zoo zu.
»Du kannst auch gehen«, sagte die Brillenschlange zum Braunbären,
der, die Mütze in der Hand, eine demütige Verbeugung
machte und lostrabte, dorthin, wo alle anderen Tiere sich um
Mary Poppins scharten.
»Wollt ihr mit mir kommen?« fragte die Brillenschlange Jane
und Michael freundlich. Und ohne eine Antwort abzuwarten, glitt

sie zwischen die beiden und wies sie mit einem Blähen ihrer Haube
an, neben ihr zu gehen.
»Es hat angefangen!« sagte sie und zischelte vergnügt.
Das laute Geschrei, das jetzt vom Rasenplatz herüberklang,
verriet den Kindern, daß sie die große Kette meinte. Im Näherkommen
hörten sie die Tiere singen und rufen, und dann sahen
sie, wie sich Leoparden und Löwen, Biber, Kamele, Bären, Kraniche,
Antilopen und viele andere um Mary Poppins im Kreis aufstellten.
Dann setzte der Kreis sich langsam in Bewegung. Die
Tiere sangen laut ihre Urwaldlieder, hüpften im Reigen hin und
her und reichten einander, wie bei der großen Kette im Lancier,
im Vorbeitanzen abwechselnd Hände und Flügel.
Eine kleine, piepende Stimme hob sich hell aus den übrigen:
»Oh, Mary, Mary,
Was Bess'res gab's nie,
Gab's nie und nie und nimmermehr!«
Und sie sahen den Pinguin herantanzen, der mit seinen kurzen
Flügeln wedelte und begeistert aus vollem Halse sang. Auch er
sah die Kinder, verbeugte sich vor der Schlange und rief:
»Es ist mir gelungen — habt ihr mein Lied gehört? Natürlich
ist es noch nicht vollkommen, >gab's nie< reimt sich nicht genau
auf Mary. Aber es geht, es geht!« und er hüpfte davon, um
einem Leoparden seinen Flügel anzubieten.
Jane und Michael sahen dem Reigen zu, die Schlange blieb
schweigend und unbeweglich zwischen ihnen. Als ihr Freund, der
Löwe, beim Vorübertanzen sich bückte, um den Flügel eines
brasilianischen Fasans in seine Pranke zu nehmen, versuchte Jane
scheu, ihrer Verwunderung Ausdruck zu geben.
»Ich dachte, sehr verehrte...«, begann sie und zögerte verwirrt,
ungewiß, ob sie sprechen dürfe oder nicht.
»Sprich, mein Kind. Was dachtest du?«
»Nun — daß Löwen und Vögel, und Tiger und kleine Tiere . . . «
Die Schlange half ihr. »Du dachtest, sie seien von Natur Feinde,
und der Löwe könne keinem Vogel begegnen, ohne ihn zu fressen.
Und der Tiger keinem Hasen — nicht?«
Jane wurde rot und nickte.
»Da magst du recht haben. So etwas gibt es. Aber nicht am
Geburtstag! Heut nacht sind die Kleinen sicher vor den Großen,
und die Großen beschützen die Kleinen. Selbst ich —«, die Schlange
hielt inne, um, wie es schien, tief nachzudenken. »Selbst ich kann
bei dieser besonderen Gelegenheit einer Ringelgans begegnen,
ohne Appetit zu verspüren. Und wenn man's richtig überlegt«,
fuhr sie fort und züngelte beim Sprechen mit ihrer schrecklichen,
gespaltenen, kleinen Zunge, »so ist Fressen und Gefressenwerden
vielleicht dasselbe. Erfahrung lehrte mich, daß es wahrscheinlich
so ist. Wir sind alle aus dem gleichen Stoff gemacht, vergiß es
nicht, wir aus dem Dschungel und ihr aus der Stadt. Wir bestehen
aus dem gleichen Stoff — der Baum über uns, der Stein neben uns,
der Vogel, das Tier, der Stern — wir alle sind eins und gehen
demselben Ende entgegen. Denke daran, mein Kind, auch wenn
du mich längst vergessen hast!«
»Aber wie kann ein Baum gleich einem Stein sein? Ein Vogel
ist nicht wie ich. Jane ist kein Tiger!« sagte Michael beherzt.
»Meinst du?« fragte die zischelnde Stimme der Schlange. »Schau
hin!« Und sie wies mit dem Kopf auf die hüpfenden Tiere.
Die Vögel und alle anderen Tiere schwenkten nun ein, und die
Kette zog sich um Mary Poppins zusammen, die sich leicht hin
und her wiegte. Sich öffnend und wieder schließend bewegte sich
die schwingende Kette, vor und zurück, wie ein Uhrpendel. Selbst
die Bäume bogen und hoben sich sanft, und der Mond schien am
Himmel zu schaukeln wie ein Schiff auf dem Meer.
»Vogel und Tier, Stein und Stern — wir alle sind eins, alle
eins .. .«, murmelte die Schlange und glättete sanft ihre Haube,
während sie selbst zwischen den Kindern hin und her schwang.
»Kind und Schlange, Stern und Stein — alles eins.«
Die zischelnde Stimme wurde leiser, das Geschrei der tanzenden
Tiere ließ nach und verstummte. Während Jane und Michael zuhörten,
war ihnen, als schaukelten sie selber leise . . .
Ein weicher, gedämpfter Lichtschimmer fiel auf ihr Gesicht.
»Schlafen und träumen — beides zugleich«, sagte eine flüsternde
Stimme. War es die Stimme der Schlange? Oder die ihrer Mutter,
die sie zudeckte bei ihrem gewohnten nächtlichen Besuch im
Kinderzimmer?
»Gut!« War das des Braunbären verdrießliche Stimme oder die
Mister Banks'?
Jane und Michael, weiter schaukelnd und schwingend, wußten
es nicht. . . wußten es nicht.
»Ich hatte heute nacht einen seltsamen Traum!« sagte Jane beim
Frühstück, während sie Zucker über ihren Haferbrei streute. »Mir
träumte, wir waren im Zoo, und Mary Poppins hatte Geburtstag,
statt der Tiere steckten Menschen in den Käfigen, und die Tiere
selbst waren alle f r e i . . . «
»Was? Das ist m e i n Traum! Das hab ich geträumt!« rief
Michael und sah ganz erstaunt aus.
»Wir können nicht beide dasselbe geträumt haben!« sagte Jane.
»Weißt du's bestimmt? Erinnerst du dich noch an den Löwen, der
seine Mähne hatte dauerwellen lassen, an den Seehund, der wollte,
daß wir . . . «
»Nach Orangenschalen tauchen?« unterbrach Michael. »Natürlich
erinnere ich mich! Und an die kleinen Kinder im Käfig, und
an die Schlange . . . «
»Dann kann es kein Traum gewesen sein!« sagte Jane. »Es muß
w a h r gewesen sein. Und wenn es das w a r . . . « Sie blickte
fragend auf Mary Poppins, die gerade die Milch abkochte und
fragte: »Mary Poppins, können Michael und ich dasselbe geträumt
haben?«
»Ihr und eure Träume!« sagte Mary Poppins. »Iß lieber deinen
Haferbrei, oder du bekommst keinen Toast mit Butter!«
Aber Jane wollte sich nicht abweisen lassen. Sie mußte es wissen.
»Mary Poppins«, sagte sie und blickte sie eindringlich an, »warst
du gestern nacht im Zoo?«
Mary Poppins sperrte vor Verblüffung den Mund auf.
»Im Zoo? Ich im Zoo — bei Nacht?! Ich? Eine ruhige, ordentliche
Person, die weiß, was sich schickt und was nicht —?«
»Du warst also wirklich nicht dort?« bestand Jane auf der
Antwort.
»Gewiß nicht. Was für ein Einfall! Ich wäre dir dankbar, wenn
du jetzt deinen Haferbrei essen und keinen Unsinn mehr reden
wolltest.«
Jane goß sich Milch ein.
»Dann muß es also doch ein Traum gewesen sein.«
Aber Michael starrte offenen Mundes auf Mary Poppins, die
jetzt über der Flamme Brot röstete.
»Jane«, wisperte er mit überkippender Stimme, »Jane, sieh
doch!« Er streckte den Finger aus, und nun sah auch Jane, was
er anstarrte.
Um ihre Taille trug Mary Poppins einen Gürtel aus goldener,
geschuppter Schlangenhaut, und auf ihm stand in runder, geschlängelter
Schrift:
»Ein Geschenk vom Zoo!«

1 1 . Kapitel
Weihnachtseinkäufe
»Es riecht nach Schnee!« sagte Jane, als sie aus dem Omnibus
stiegen.
»Ich rieche Christbaumduft!« sagte Mary Poppins.
Dann blieb keine Zeit mehr, noch irgend etwas zu riechen,
denn der Bus hielt vor dem größten Kaufhaus der Welt, wo sie
hinwollten, um ihre Weihnachtseinkäufe zu machen.
»Dürfen wir nicht erst die Schaufenster ansehen?« fragte
Michael und hüpfte aufgeregt von einem Fuß auf den andern.
»Ich habe nichts dagegen«, sagte Mary Poppins mit überraschender
Milde. Jane und Michael waren von soviel Güte nicht etwa
überrascht. Sie wußten ja, für Mary Poppins gab es nichts
Schöneres auf der Welt, als in Schaufenster zu gucken. Sie wußten
auch, daß Mary Poppins nichts anderes sah als ihr eigenes
Spiegelbild, während sie selbst Spielsachen und Bücher, Stechpalmenzweige
und Rosinenkuchen entdeckten.
»Schau! Flugzeuge!« rief Michael vor einem Fenster, in dem
Flugzeuge an Drähten durch die Luft schnurrten.
»Und dort!« rief Jane, »zwei winzige, schwarze Babys in einer
Wiege — sind die nun aus Schokolade oder aus Porzellan?«
»Schau du nur dich an!« sagte Mary Poppins und stellte vor
allem fest, wie hübsch im Schaufensterspiegel ihre neuen Handschuhe
mit den Pelzstulpen aussahen. Sie besaß zum erstenmal
solche Handschuhe und meinte, sie würde nie müde werden, sie
zu bewundern.
Nachdem sie ihren Handschuhen gebührenden Beifall gezollt
hatte, prüfte sie aufmerksam ihre ganze Gestalt — samt Mantel,
Hut, Schal und Schuhen — und fand, sie hatte kaum je etwas so
Flottes und Vornehmes gesehen. Aber die Winternachmittage
waren kurz, und sie mußten zum Tee daheim sein. So riß sie sich
mit einem Seufzer von ihrem prächtigen Spiegelbild los.
»Gehn wir hinein!« sagte sie. Und dann ärgerte sie Jane und
Michael, weil sie sich so lange in der Kurzwarenecke aufhielt
und ewig Zeit brauchte, um eine Rolle schwarzes Nähgarn zu erstehen.
»Zur Spielzeugabteilung geht's hier!« erinnerte sie Michael.
»Danke, ich weiß. Du solltest nicht immer mit der Hand zeigen!
« sagte sie und bezahlte ihre Rechnung mit aufreizender Langsamkeit.
Aber endlich kamen sie zum Weihnachtsmann, der sich die
größte Mühe gab, ihnen beim Aussuchen der Geschenke zu helfen.
»Das ist etwas für Pappi!« rief Michael und deutete auf eine
aufziehbare Eisenbahn mit verschiedenen Signalen. »Wenn er in
der Stadt ist, kann ich darauf aufpassen!«
»Ich denke, ich nehme das hier für Mutti!« sagte Jane und
schob einen kleinen Puppenwagen hin und her. Sie war ganz
sicher, daß sich Mutter den schon immer gewünscht hatte. »Vielleicht
leiht sie ihn mir manchmal.«
Dann wählte Michael noch je ein Päckchen Haarnadeln für die
Zwillinge, einen Metallbaukasten für seine Mutter, einen Käfer
zum Aufziehen für Robertson Ay, eine Brille für Ellen, deren
Augen freilich ganz in Ordnung waren, und einige Paar Schnürsenkel
für Mistreß Brill, die stets Pantoffeln trug.
Jane entschied nach einigem Zögern, daß ein weißes Vorhemd
für Mister Banks wohl das Richtige sei. Für die Zwillinge kaufte
sie Robinson Crusoe, sie sollten ihn lesen, wenn sie größer
waren.
»Bis sie dazu alt genug sind, kann ich es ja lesen«, meinte sie.
»Ich glaube bestimmt, sie leihen es mir gern.«
Mary Poppins verhandelte mit dem Weihnachtsmann des längeren
über ein Stück Seife.
»Warum nehmen Sie nicht >PalmoliveMouson< vor!« erklärte sie hochnäsig und kaufte
gleich eine Packung.
»Lieber Himmel!« sagte sie dann und strich den Pelz an ihrem
rechten Handschuh glatt. »Jetzt würde ich riesig gern eine Tasse
Tee trinken.«
»Würdest du's auch zwergig gern tun?« erkundigte sich Michael.
»Das ist kein Anlaß zu dummen Spaßen!« sagte Mary Poppins
in einem Ton, daß sogar Michael es einsah.
»Es wird auch Zeit, daß wir heimgehen.«
Da! Nun hatte sie's gesagt! Und sie hatten doch so gehofft, sie
würde es noch nicht sagen.
»Nur noch fünf Minuten«, bettelte Jane.
»Bitte, bitte, Mary Poppins! Du siehst so reizend aus mit deinen
neuen Handschuhen!« sagte Michael listig.
Aber obwohl Mary Poppins das sehr gern hörte, ließ sie sich
nicht erweichen.
»Nein!« Sie klappte hörbar den Mund zu und ging ohne Zögern
zur Tür.
»Oje!« seufzte Michael, »wenn sie doch nur einmal >ja<
sagen wollte!« Und er folgte ihr, ächzend unter der Last seiner
Pakete.
Aber Mary Poppins eilte weiter, und sie mußten mit. Der Weihnachtsmann
winkte ihnen nach, die Feenkönigin auf dem Christbaum
und all die andern Puppen lächelten betrübt, als wollten
sie sagen: »Nimmt mich denn niemand mit nach Hause?« Und die
Flugzeuge schlugen mit den Flügeln und baten mit vogelähnlicher
Stimme: »Laßt mich fliegen! Oh, laßt mich fliegen!«
Jane und Michael liefen davon, taub gegen alle die betörenden
Stimmen. Sie konnten nicht verstehen, warum ihnen in der Spielzeugabteilung
die Zeit so schrecklich rasch vergangen war.
Aber als sie zum Ausgang gelangten, geschah das Unerwartete.
Sie wollten sich gerade durch die Drehtüre schieben, als sie
auf der Straße die flimmernde Gestalt eines Kindes dahinrennen
sahen.
»Schau doch!« sagten Jane und Michael wie aus einem Munde.
»Du meine Güte! Lieber Himmel!« rief Mary Poppins und blieb
stehen.
Das war kein Wunder, denn das Kind hatte kaum etwas an, nur
ein leichtes Fähnchen aus lichtblauem Stoff, das so aussah, als habe
das Kind es vom Himmel gerissen und rasch übergeworfen.
Jane und Michael merkten gleich, daß das Kind nicht viel von
Drehtüren verstand. Es lief immer rundum, konnte nicht schnell
genug gehen und lachte lustig, weil es sich gefangen sah und
immer im Kreis laufen mußte. Doch plötzlich befreite es sich
mit einer leichten, schnellen Bewegung, sprang heraus und stand
mitten zwischen den Auslagen.
Auf den Fußspitzen blieb es stehen, wandte den Kopf hierhin
und dorthin, so, als suche es jemand. Endlich entdeckte es voller
Freude Jane, Michael und Mary Poppins, die halb versteckt
hinter einem riesigen Tannenbaum standen. Vergnügt lief es auf
sie zu.
»Ach, da seid ihr! Wie lieb, daß ihr gewartet habt! Ich fürchte,
ich komme ein bißchen spät!« Das Kind streckte Jane und Michael
seine schimmernden Ärmchen entgegen. »Nun?« — es legte den
Kopf auf die Seite. »Seid ihr nicht froh, daß ich da bin? Sagt
ja! Sagt doch ja!«
»Ja!« sagte Jane und lächelte. Sie fand, man konnte nur froh
sein, wenn jemand so strahlend und glücklich war. »Wer bist du
denn?« fragte sie neugierig.
»Wie heißt du?« erkundigte sich auch Michael und staunte das
Kind an.
»Wer ich bin? Wie ich heiße? Ihr wollt doch nicht etwa behaupten,
daß ihr mich nicht kennt? Besinnt euch doch...« Das
Kind schien ein wenig erstaunt und enttäuscht. Es wandte sich
plötzlich zu Mary Poppins und berührte sie leicht mit den
Fingern.
»Sie kennt mich! Nicht wahr? Ich weiß bestimmt, daß du mich
kennst!«
Auf Mary Poppins' Gesicht lag ein seltsamer Ausdruck. Jane
und Michael entdeckten in ihren Augen ein blaues Licht. Es
war, als spiegelte sich in ihnen das leuchtende Kleidchen des
Kindes.
»Fängt es — fängt es mit einem >M< an?« flüsterte sie.
Das Kind tanzte vor Freude.
»Natürlich mit einem >M< — und du weißt es. MAJA! Ich bin
Maja!« Sie wandte sich wieder an Jane und Michael.
»Jetzt erkennt ihr mich aber, gelt? Ich bin die zweite in den
Plejaden. Elektra — das ist die Älteste — konnte nicht kommen,
weil sie Merope hüten muß. Merope ist das Baby, und wir andern
fünf dazwischen — lauter Mädchen. Unsere Mutter war zuerst
sehr enttäuscht, daß sie keinen Jungen bekam, aber jetzt macht sie
sich nichts mehr daraus.«
Das Kind tanzte ein paar Schritte und sprudelte dann wieder
mit heller, aufgeregter Stimme hervor:
»Oh, Jane! Oh, Michael — ich habe euch oft vom Himmel aus
zugeschaut, und nun kann ich wirklich mit euch sprechen! Ich
weiß alles von euch! Michael läßt sich nicht gern die Haare
bürsten, und Jane hat in der Marmeladenbüchse auf dem Kaminsims
ein Drosselei stehen. Und euer Vater bekommt schon eine
Glatze. Ich habe ihn so gern. Er hat uns zuerst miteinander bekannt
gemacht — wißt ihr noch? Letzten Sommer sagte er eines
Abends:
>Seht, das dort sind die Plejaden! Sieben Sterne im ganzen,
die kleinsten am Himmel. Aber einen von ihnen könnt ihr nicht
sehen.< Er meinte natürlich Merope. Sie ist noch zu klein, um
jede Nacht aufzustehn. Sie ist noch so ein Baby, daß sie sehr
früh zu Bett muß. Manche da oben nennen uns die kleinen Schwestern,
und manchmal werden wir die sieben Täubchen genannt.
Aber Orion sagt immer >Ihr Mädchen< und nimmt uns mit auf die
Jagd.«
»Aber was machst du hier?« fragte Michael noch immer sehr
erstaunt.
Maja lachte. »Frag Mary Poppins! Sie weiß es bestimmt.«
»Sag's uns, Mary Poppins!« bat Jane.
»Nun, ich nehme an, ihr beide seid nicht die einzigen in der
Welt, die zu Weihnachten einkaufen w o l l e n . . . « , sagte Mary
Poppins barsch.
»Das stimmt«, jubelte Maja entzückt. »Sie hat recht. Ich bin
beauftragt, für uns Schwestern Spielzeug zu kaufen. Wir können
nicht allzuoft fort, wißt ihr, wir sind viel zu sehr damit beschäftigt,
den Frühlingsregen zu erzeugen und aufzuspeichern. Das
ist nämlich die Aufgabe der Plejaden. Wir haben's unter uns ausgelost,
und ich hab gewonnen. War das nicht ein Glück?«
Das Sternenkind rieb sich die Hände vor Freude.
»So, jetzt kommt. Ich hab nicht viel Zeit. Und ihr müßt mitkommen
und mir aussuchen helfen.«
Es tanzte um sie herum, rannte von einem zum andern und
führte sie zur Spielzeugabteilung zurück. Wo sie vorbeikamen,
blieben die Leute, die beim Einkaufen waren, stehen, starrten sie
an und ließen bestürzt ihre Pakete fallen.
»Viel zu kalt für das Kind! Was haben sich seine Eltern nur
gedacht?« sagten die Mütter, und ihre Stimmen wurden ganz
weich und sanft.
»Ich muß schon sagen . . . « , erklärten die Väter. »So was dürfte
gar nicht erlaubt sein. Das sollte man an die Zeitung schreiben.«
Und ihre Stimmen klangen unnatürlich rauh und entschlossen.
Auch die aufsichtsführenden Damen und Herren benahmen sich
ungewöhnlich. Sobald die kleine Gruppe vorbeikam, machten sie
vor Maja eine Verbeugung wie vor einer Königin.
Aber keiner — weder Jane, Michael, Mary Poppins noch Maja
— nahm von alldem Notiz. Sie waren zu sehr mit sich selbst und
ihrem herrlichen Abenteuer beschäftigt.
»Da sind wir!« jubelte Maja und tänzelte in die Spielzeugabteilung
hinein. »Was wollen wir aussuchen?«
Als einer der Verkäufer sie sah, verbeugte er sich sehr respektvoll.
»Ich brauche etwas für meine Schwestern — es sind sechs. Bitte,
helfen Sie mir«, sagte Maja und lächelte ihn an.
»Aber gern, mein Fräulein«, sagte der Verkäufer bereitwillig.
»Zuerst meine älteste Schwester«, begann Maja. »Sie ist sehr
häuslich. Wie wär's mit dem kleinen Herd mit den silbernen
Kasserollen? Ja? Und mit diesem Kehrbesen. Uns macht der

Sternenstaub so viel zu schaffen. Sie wird begeistert sein, wenn sie
ihn damit zusammenfegen kann.«
Der Verkäufer machte sich gleich daran, die Sachen in buntes
Papier einzupacken.
»Jetzt für Taygete. Sie tanzt so gern. Meinst du nicht, Jane,
ein Springseil wäre für sie das Richtige? Nicht wahr, Sie packen
alles sorgfältig ein, bitte?« sagte sie zu dem Verkäufer. »Ich
habe einen weiten Weg.«
So flatterte Maja zwischen den Spielsachen umher und stand
nicht einen Augenblick still. Sie trippelte mit leichten, quecksilbrigen
Schrittchen, das sah aus, als funkele sie noch oben am
Himmel.
Mary Poppins, Jane und Michael konnten die Augen nicht von
ihr lassen, wie sie so von einem zum andern huschte und sie um
Rat fragte.
»Jetzt kommt Alcyone. Für sie ist's schwierig. Sie ist so still
und nachdenklich und hat nie einen besonderen Wunsch. Ein
Buch, meinst du nicht, Mary Poppins? Wie wär's mit dieser
Familie — den »Schweizer RobinsonsIch gehe<, und weg war sie. Etwas
Unglaublicheres, Unhöflicheres — was ist denn, Michael?« brach
sie ärgerlich ab, denn Michael hatte sie am Kleid gepackt und zog
ungeduldig daran. »Was ist denn, Kind?«
»Hat sie gesagt, sie würde wiederkommen?« rief er und warf
seine Mutter beinahe um. »Sag mir's schnell — bitte!«
»Führ dich nicht auf wie ein wilder Indianer, Michael!« rief
Mistreß Banks, aus der Fassung gebracht. »Ich weiß nicht mehr
genau, was sie gesagt hat. Nur, daß sie gehe. Aber ich will sie
gar nicht mehr haben, auch wenn sie wiederkommen möchte.
Mich Knall und Fall im Stich zu lassen, ohne jede Hilfe und ohne
Kündigung!«
»Aber, Mutti!« sagte Jane vorwurfsvoll.
»Sag so etwas nicht!« rief Michael und ballte die Faust. Fast
sah es aus, als wolle er sie schlagen.
»Kinder! Schämt ihr euch nicht? Was fällt euch ein! Jemand
zurückzuwünschen, der an eurer Mutter so schlecht gehandelt hat!
Ich bin ganz außer mir!«
»Der einzige Mensch in der Welt, an dem mir etwas liegt, ist
Mary Poppins!« jammerte Michael und warf sich zu Boden.
»Aber Kinder! Wahrhaftig, ich versteh euch nicht! Seid doch
vernünftig, ich bitt euch! Es ist doch keiner da, der heut nacht
auf euch aufpassen kann. Ich bin zum Essen eingeladen, und
Ellen hat Ausgang. Ich muß Mistreß Brill heraufschicken.« Sie
gab ihnen zerstreut einen Kuß und ging, mit einer kleinen Sorgenfalte
auf der Stirn.
»So etwas könnte ich nie tun. Einfach fortgehen und euch liebe,
arme Kinder im Stich lassen«, sagte Mistreß Brill ein wenig später,
als sie geschäftig eintrat und ihr Amt übernahm.
»Ein Herz von Stein hatte diese Person. Kein Zweifel, oder
ich will nicht Klara Brill heißen. Immer für sich bleiben und
nicht einmal ein Spitzentaschentuch zum Andenken oder eine Hutnadel!
Bitt dich, steh auf, Master Michael!« Mistreß Brill
schnappte nach Luft.
»Daß wir's so lang ausgehalten haben mit ihr, verstehe ich
nicht! Dieses vornehme Getue und so! Was für eine Menge Knöpfe,
Miß Jane! Steh endlich still, damit ich dich ausziehen kann,
Master Michael! Und häßlich war sie auch, nicht gerade ein verlockender
Anblick. Wirklich, alles in allem sind wir jetzt doch
viel besser dran. So, Miß Jane, wo hast du dein Nachthemd —
was steckt denn da unter deinem Kissen?«
Mistreß Brill zog ein kleines, gut verschnürtes Päckchen hervor.
»Was ist das? Gib's mir — gib's mir!« Jane zitterte vor Erwartung.
Fast riß sie Mistreß Brill das Päckchen aus der Hand.
Michael stand daneben und sah zu, wie sie die Schnur aufmachte
und das braune Papier wegriß.
Mistreß Brill ging zu den Zwillingen hinein, ohne auch nur
abzuwarten, was aus dem Päckchen zum Vorschein kam.
Das letzte Einwickelpapier flog auf den Boden, und Jane hielt
den Inhalt des Päckchens in der Hand.
»Ihr Bild!« flüsterte sie atemlos und betrachtete es gründlich.
Das Porträt steckte in einem schmalen, gedrechselten Rahmen
und trug die Unterschrift: >Mary Poppins von Bert<.
»Das ist der Streichholzmann — der hat es gemacht!« sagte
Michael und nahm das Porträt in die Hand, um es genauer sehen
zu können.
Auf einmal entdeckte Jane, daß an dem Porträt ein Briefchen
befestigt war. Behutsam faltete sie es auseinander. Darin stand:
»Liebe Jane,
Michael hat den Kompaß bekommen, darum ist das Bild für
Dich bestimmt. Au revoir. Mary Poppins«
Jane las es laut vor, bis sie an die Worte kam, die sie nicht
verstand.
»Mistreß Brill!« rief sie. »Was heißt >au revoirGott segne dichauf Wiedersehen!<«
Jane und Michael sahen einander an. Freudiges Verständnis
leuchtete aus ihren Augen. Sie wußten, was Mary Poppins damit
sagen wollte.
Erleichtert seufzte Michael auf. »Dann ist ja alles gut!« sagte
er. »Sie hält immer, was sie verspricht!« Er drehte sich um.
»Michael, weinst du etwa?« fragte Jane.
Er bewegte nur den Kopf und versuchte zu lächeln.
»Nein, nein, ich nicht. Nur meine Augen«, sagte er.
Sie drängte ihn sacht ins Bett, und als er drin lag, schob sie
ihm Mary Poppins' Porträt in die Hand — ganz rasch, bevor
sie's bereute.
»Du darfst es heut nacht behalten, Michael«, flüsterte sie und
deckte ihn gut zu. So hatte es Mary Poppins auch immer gemacht.
Âàøà îöåíêà:
Êîììåíòàðèé:
  Ïîäïèñü:
(×òîáû êîììåíòàðèè âñåãäà ïîäïèñûâàëèñü Âàøèì èìåíåì, ìîæåòå çàðåãèñòðèðîâàòüñÿ â Êëóáå ÷èòàòåëåé)
  Ñàéò:
 

Ðåêëàìà